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MELDUNG/035: Der Verlust eines unersetzlichen Mahners (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 2 - Mai/Juni 2017
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Der Verlust eines unersetzlichen Mahners Erinnerung an Shuntaro Hida, den Botschafter der Atombombenabwürfe-Überlebenden

Von Guido Grünewald


Bei der Feier seines 100. Geburtstags im Januar dieses Jahres war er noch optimistisch: "Ich habe noch einiges zu erledigen; ich will es bis zum Alter von 105 Jahren schaffen", sagte er einem Bericht der Zeitung Mainichi zufolge. Nun ist er am 20. März von uns gegangen.

Dr. Shuntaro Hida wird am 1. Januar 1917 in Hiroshima geboren, wächst in Tokio auf und beginnt 1938 nach einem kurzen Zwischenspiel in der Architektur das Medizinstudium. Hida will möglichst effizient studieren und protestiert gegen die zeitaufwändigen obligatorischen Militärübungen, ohne bereits den aggressiven und antidemokratischen Charakter des damals herrschenden autokratisch-militaristischen Systems zu durchschauen. Daraufhin wird er ein Jahr vor seinem Examen zur Armee eingezogen.

In seiner Armeezeit (er ist in Hiroshima stationiert) steht Hida weiter unter dem Einfluss der jahrelangen Indoktrination, mittels deren dem Schüler eingebläut wurde, er müsse bereit sein, für den Kaiser zu sterben. Noch in der Endphase des Krieges bildet er Soldaten für Selbstmordangriffe gegen Panzer aus. Dennoch rühren sich unter dem Einfluss seines Kameraden Kondo erste Zweifel: Er lehnt es ab, Kondo zu bespitzeln, und widerspricht Vorgesetzten, wenn ihm ein Befehl besonders unsinnig erscheint.

Den Atombombenabwurf am 6. August 1945 überlebt Dr. Hida, weil ihn am Vorabend ein Notruf in das sechs Kilometer entfernte Dorf Hesaka führt. Nach der Explosion kehrt er kurzzeitig in das zerstörte Hiroshima zurück, errichtet aber dann eine Nothilfestation in Hesaka. Weitgehend hilflos muss er zusehen, wie viele Verwundete in den nächsten Tagen und Wochen an einer unerklärlichen Krankheit sterben.

Nach Kriegsende wird Dr. Hida als Militärarzt in den nationalen Gesundheitsdienst übernommen. Er wird 1946 stellvertretender Vorsitzender der neu gegründeten Gewerkschaft der Beschäftigten im nationalen Gesundheitsdienst und zieht nach Tokio, wo er 1947 seine zweite Frau heiratet, mit der er bis zu ihrem Tod 2015 zusammenlebt; ihre gesamte Familie ist in Hiroshima ausgelöscht worden. Hida selbst leidet später unter ständigen Rückenschmerzen, eine Spätfolge der Niedrigstrahlung, die er bei seiner kurzen Rückkehr in das zerstörte Hiroshima aufgenommen hat.

Dr. Hida liest nach dem Krieg viel und gewinnt die Einsicht, dass die Macht- und Profitgier der Großindustrie und der alten Herrschaftseliten für die imperialistischen Eroberungskriege Japans maßgeblich verantwortlich waren. Er tritt 1949 der Kommunistischen Partei Japans (KPJ) bei. Sozialismus bedeutet für ihn gelebte Solidarität und praktisches Engagement für Veränderungen. Für die KPJ ist er von 1955 bis 1963 im Stadtrat von Urawa (Präfektur Saitama) tätig, wo er lebt. In der Zwischenzeit ist er bei einer Säuberungsaktion gegen KommunistInnen und aktive GewerkschaftInnen in Folge des Koreakriegs entlassen worden. Hida beginnt ein Engagement, das ihn bis in die 1970er Jahre ausfüllt: der Auf- und Ausbau eines genossenschaftlichen Gesundheitswesens, das auch armen JapanerInnen eine Gesundheitsversorgung ermöglicht. Hida wird Mitgründer und für lange Zeit auch Vorsitzender der "Japanischen Vereinigung der demokratischen medizinischen Einrichtungen"; bis Ende der 1980er Jahre werden ca. 200 genossenschaftliche Kliniken errichtet.

In Hiroshima hat die US-amerikanische Besatzungsmacht ein modernes medizinisches Zentrum der Atomic Bomb Casualty Commission errichtet, in der die Hibakusha zwar untersucht, aber nicht behandelt werden. Dr. Hida interveniert empört beim japanischen Gesundheitsminister und direkt beim US-Generalhauptquartier in Tokio - vergeblich. 1955 schließt er sich dem Japanischen Rat gegen Atom- und Wasserstoffbomben (Gensuikyo) an und nimmt an der 1. Weltkonferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben teil. 1973 wird er Mitglied der Hibakusha-Dachorganisation Nihon Hidankyo, 1978 Leiter des Hibakusha-Beratungszentrums des Dachverbandes. Dr. Hida wird mehr und mehr zum Botschafter der Hibakusha. Seine erste Vortragsreise führt ihn 1975 in die USA, er lernt Englisch. In den Jahrzehnten danach folgen viele weitere Vortragsreisen in zahlreiche Länder.

Die meisten japanischen Ärzte sind gegenüber der besonderen Problematik der Hibakusha unsensibel, vor allem bezüglich des Phänomens der Atombombenmüdigkeit, die sich in allgemeiner Erschöpfung und schneller Ermüdung äußert. Dr. Hida entwickelt das Konzept der "Burabura"-Krankheit und versucht in der Präfektur Saitama, sein Spezialwissen anderen Ärzten zu vermitteln. Von den Hibakusha wird er verehrt, ist er doch nicht nur einer der Ihren, sondern einer der wenigen Menschen, die ihre Lage verstehen.

Ich habe Dr. Hida erstmals 1982 getroffen und hatte das Glück, ihn in den Jahren 1984 und 1985 bei den einzelnen Stationen der Weltkonferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben zu begleiten. Dr. Hida war ein selbstbewusster Mensch von vornehmer Zurückhaltung, der Ruhe, Kompetenz und Güte ausstrahlte. Neben seinem Humor war vor allem seine Offenheit für Fremde und neue Entwicklungen bemerkenswert, zumindest damals für JapanerInnen untypische Eigenschaften. In Deutschland ist Dr. Hida mindestens neunmal für eine Vortragreise gewesen. Seine Persönlichkeit, aber auch seine eindringliche, durch medizinische Fakten untermauerte Botschaft aus Hiroshima hat viele ZuhörerInnen berührt und überzeugt. Mit seinem Buch "Der Tag, an dem Hiroshima verschwand" (Donat Verlag 1989) hat er nicht nur die Erfahrungen eines Arztes im Hiroshima des Atombombenabwurfes überliefert, sondern im ersten Teil auch die Funktionsmechanismen des japanischen Militarismus beschrieben. Wir haben einen unersetzlichen Mahner und echten Freund verloren.


Guido Grünewald ist internationaler Sprecher der DFG-VK. Er kannte Shuntaro Hido seit 1982 und traf ihn zum letzten Mal bei der Weltkonferenz gegen Atom- und Wasserstoffbomben im August 2015, die anlässlich des 70. Jahrestags der Atombombenabwürfe in Hiroshima stattfand. In der ZivilCourage 4/2015 berichtete er ausführlich über diese Konferenz.

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 1 - Februar/März 2017, S. 32 - 33
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
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Erscheinungsweise: zweimonatlich, sechs Mal jährlich
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Einzelheft: 2,30 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2017

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