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FRAGEN/008: Warum wollen USA und EU einen Regimewechsel in Iran? (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 30/31/32 - II-IV/2011
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Warum wollen USA und EU einen Regimewechsel in Iran?
Drängende Fragen

Von Clemens Ronnefeldt


Der frühere Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde und Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei gab am 19. April 2011 dem "Spiegel" ein Interview im Zusammenhang mit seiner Präsidentschaftskandidatur in Ägypten, bei dem auch der Konflikt um das iranische Atomprogramm zur Sprache kam.

Dabei führte ElBaradei aus: "Wir standen tatsächlich mehrfach kurz vor einer Lösung. 2003 waren die Iraner bereit, aber die Regierung von US-Präsident George W. Bush wollte nicht. Als dann 2010 Präsident Barack Obama seine Hand ausstreckte, konnten die Iraner sie aufgrund innenpolitischer Machtkämpfe nicht ergreifen. (...) Ich halte mich streng an die Fakten, und dazu gehört eben auch, dass Amerikaner und Europäer uns wichtige Papiere und Informationen vorenthielten. Denen ging es nicht um einen Kompromiss mit der Regierung in Teheran, sondern um einen Regimewechsel. Dafür war ihnen so ziemlich jedes Mittel recht." Auf die Frage des "Spiegel": "Und die armen Iraner waren völlig unschuldig?" antwortete ElBaradei: "Nein, auch die haben getrickst. Aber der Westen hat nie versucht zu verstehen, dass es Iran vor allem um Anerkennung, um eine Behandlung auf Augenhöhe ging."(1)

Unter der Annahme, dass die Kernaussagen ElBaradeis zutreffend sind, stellen sich derzeit einige Fragen, die weiterer Untersuchungen bedürfen:

1. Warum hat der derzeitige Generaldirektor der IAEA, der Japaner Yukiya Amano, den Kurs von Mohamed ElBaradei verlassen und am 8. November 2011 einen Bericht veröffentlicht, dessen Iran belastende Aussagen weitgehend schon seit Jahren bekannt sind? Warum hatte es sein Vorgänger Mohamed ElBaradei noch abgelehnt, diese aus zweifelhaften westlichen Geheimdienstquellen stammenden Informationen in die offiziellen IAEA-Berichte zu übernehmen?

2. In welcher Beziehung steht der Kurswechsel von Yukiya Amano zu den vom "Guardian" am 2. Dezember 2010 veröffentlichten "Wiki-Leaks"-Aussagen, wonach Yukiya Amano dem US-Botschafter Glyn Davies am 16. September 2009 - zwei Monate nach Yukiya Amanos Wahl zum IAEA-Generaldirektor im Juli 2009 zugesagt hatte, in Übereinstimmung mit den strategischen Schlüsselentscheidungen der USA in der Iran-Atomwaffen-Anschuldigungs-Angelegenheit zu handeln?(2)

3. Gehören zu den von Mohamed ElBaradei genannten "jeglichen Mitteln" für einen Regimewechsel in Iran auch der Einsatz des Computervirus "Stuxnet", der in der iranischen Anreicherungsanlage Natanz schwere Schäden hinterlassen hat, die Ermordung einiger ranghoher iranischer Atomwissenschaftler oder möglicherweise auch die Explosion auf einem Raketenstützpunkt der Revolutionären Garden Irans unweit von Teheran, bei der am 12. November 2011 mit General Hasan Moghaddam - neben 16 weiteren Angehörigen der Revolutionären Garden - eine Schlüsselperson des iranischen Raketenprogramms getötet wurde?

4. Begründet das von ElBaradei genannte Motiv des Regimewechsels allein die Sorge der US-Regierung und der EU-Staaten vor einer iranischen Atombombe und deren Auswirkungen auf Israel sowie auf die sunnitischen westlich orientierten Erdöllieferstaaten der Region? Welche Rolle spielen bei der Suche nach einem "regime change" die Langzeitverträge, die Iran mit China und Indien über die Lieferung von Öl und Gas abgeschlossen hat - und die vermutlich nur bei einem Sturz der derzeitigen Machthaber in Qom und Teheran so ausgehandelt werden könnten, dass das iranische Öl und Gas in den nächsten Jahrzehnten in Richtung Westen statt nach Osten fließt?

5. Welche Motive treiben die israelische Regierung gerade zum jetzigen Zeitpunkt, Iran mit Krieg zu drohen? Welche Rolle spielt bei der Wahl des gegenwärtigen Zeitpunkts die US-Präsidentschaftswahl Ende des Jahres 2012, wobei Barack Obama im nächsten Jahr kaum noch einen israelischen Angriff auf Iran unterstützten könnte, ohne vermutlich seine Wiederwahl zu gefährden?

6. Droht die israelische Regierung mit Krieg, um dadurch lediglich die US-Regierung, die EU und auch andere Staaten zu schärferen Sanktionsmaßnahmen gegenüber Iran zu bewegen? Sollen - aus Sicht der israelischen Regierung mit dem Thema der verschärften Bedrohung Israels durch Iran die Themen "Gründung eines Staates Palästina", "Kritik an Besatzung und Siedlungsbau" und "Soziale Missstände in Israel" aus der vordersten internationalen Diskussionsreihe gedrängt werden?

7. Als Frankreich 1980 in der Nähe von Bagdad einen Reaktor baute, der das Material für ein bis zwei Atombomben pro Jahr hätte produzieren können, zerstörten 14 israelische Kampfflugzeuge am 7. Juni 1981 den unmittelbar vor der Fertigstellung stehenden irakischen Reaktor bei Tuweitha. Die Arbeiten am Reaktor unterlagen zu diesem Zeitpunkt der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien (IAEA), der die israelische Führung keine effektive Kontrolle zutraute.

Im Juni 1981 verurteilte der UN-Sicherheitsrat - mit Zustimmung der USA - den israelischen Luftangriff auf den irakischen Atomreaktor in der Resolution 487 als "gefährlich für den internationalen Frieden und die Sicherheit" sowie "klare Verletzung der Charta der Vereinten Nationen" und forderte Israel auf, "sich in Zukunft jeglicher solcher Attacken und auch deren Androhungen zu enthalten"(3) (Übersetzung: Clemens Ronnefeldt). Sanktionen scheiterten anschließend am US-Veto.

In Verletzung dieser UN-Resolution bombardierte die israelische Luftwaffe im Jahre 2007 eine Nuklearanlage in Syrien.

Wenn die UN-Resolution 487 von der israelischen Regierung klar den Verzicht auf die Androhung von zukünftigen weiteren Attacken auf Atomanlagen anderer Staaten fordert, stellen die gegenwärtigen Aussagen führender israelischer Politiker ("Peres droht Iran mit Angriff")(4) nicht bereits eine zu ahndende Verletzung der UN-Resolution 487 dar?

8. Wie sind die Aussagen der UN-Charta in Artikel 2 mit der derzeitigen westlichen Politik gegenüber Iran oder auch Libyen vereinbar? Der Artikel 2 beginnt mit den Aussagen:

"Die Organisation und ihre Mitglieder handeln im Verfolg der in Artikel 1 dargelegten Ziele nach folgenden Grundsätzen:

1. Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.

2. Alle Mitglieder erfüllen, um ihnen allen die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Rechte und Vorteile zu sichern, nach Treu und Glauben die Verpflichtungen, die sie mit dieser Charta übernehmen.

3. Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.

4. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."(5)


Clemens Ronnefeldt ist Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des internationalen Versöhnungsbundes.


Nachweise:

(1) www.spiegel.de/spiegel/print/d-78076179.html
(2) www.guardian.co.uk/world/us-embassy-cables-documents/230076
(3) www.ipw.rwth-aachen.de/pub/paper/paper_01.html
(4) www.sueddeutsche.de/r5w38W/298715/Peres-droht-Iran-mit-Angriff.html
(5) www.un.org/depts/german/un_charta/charta.pdf


*


Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 30/31/32 - II-IV/2011, S. 37 - 38
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2012