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BERICHT/305: Kriegsverhütung, damals und heute (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 39/40 - III-IV. Quartal 2013
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Kriegsverhütung, damals und heute
Was hat uns der Basler Friedenskongress 1912 heute noch zu sagen?

Von Wolfram Wette



Die Veranstalter des internationalen wissenschaftlichen Gedankenaustauschs über den Basler Friedenskongress 1912 und die Frage des Friedens, der im November 2012 an der Universität Basel stattfand, konfrontierten mich mit der ganz praktisch gemeinten Frage: Was hat uns dieser Kongress der II. Sozialistischen Internationale, der ganz im Zeichen der Kriegsverhütung stand, heute noch zu sagen?(1) Was auf den ersten Blick eher unproblematisch klingt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine komplexe Angelegenheit: Gefragt ist nicht weniger als ein systematischer Vergleich der Kriegsverhütungspolitik damals und heute. Es geht um Politiker und ihre Vorstellungen von Souveränität, Machtstaat, Militär, Rüstung und Krieg, es geht um strukturelle Rahmenbedingungen und aktuelle Konfliktlagen, es geht um den Kampf der europäischen Sozialdemokratie gegen den Krieg, um Chancen und Illusionen, es geht um Völkerrecht und Feindbilder - und schließlich auch um die Rolle der Frauen in diesem existenziellen Politikfeld. So gesehen, stehen die Jahresdaten 1912 und 2012 symbolisch für die Aufgabe, ein ganzes Jahrhundert vergleichend in den Blick zu nehmen. Das ist eine große Herausforderung, wo doch, um mit dem Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler zu sprechen, "die vergleichende Problemanalyse zu den schwierigsten Künsten des Historikers gehörte".(2) Denn der Vergleichende muss sich im Umfeld des Jahres 1912 idealiter ebenso gut auskennen wie im Umfeld des Jahres 2012, also unserer nicht weniger komplizierten Gegenwart. Und diese wiederum ist ohne die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht zu begreifen. Ich habe mich dazu entschlossen, Ihnen das Ergebnis meines vergleichenden Nachdenkens in der Gestalt von 10 Thesen vorzutragen, die ich jeweils mit einer Erläuterung versehe.



1. These

Der Basler Friedenskongress von 1912, veranstaltet von der II. Sozialistischen Internationale, stellte den historischen Gegenentwurf zur dominanten Strömung der kriegerischen Machtpolitik der europäischen Nationalstaaten jener Zeit dar, die zum Ersten Weltkrieg führte. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit demonstrierte der Kongress den unbedingten Friedenswillen der europäischen Arbeiterschaft. Allerdings idealisierte er diesen Friedenswillen, überschätzte die Bereitschaft der sozialdemokratisch denkenden Arbeiterschaft zu internationaler Solidarität und unterschätzte ihre nationalen Bindungen.

Die in Basel versammelten Vertreter der europäischen Sozialdemokratie präsentierten sich der internationalen Öffentlichkeit als die einzige machtpolitisch ernst zu nehmende Alternative zur vorherrschenden Politik des Wettrüstens, der Kriegsvorbereitung und des Spiels mit dem Feuer.(3) Sie wollten, ebenso wie die kleine, einflussarme Gruppe der bürgerlichen Pazifisten, einen drohenden Krieg verhindern.(4) Sie standen in Opposition zu den Regierungen der europäischen Nationalstaaten und den sie stützenden Eliten den Generalstäben, Meinungsmachern und Rüstungsschmieden, für die der Krieg ein selbstverständliches und legitimes Mittel der Politik war. Allerdings war es primär das deutsche Kaiserreich, das nicht mehr auf Verhandlungen und Interessenausgleich setzte und sich anschickte, das bis dahin auf dem Status quo beruhende Mächtegefüge zu sprengen. Insofern war der Erste Weltkrieg vor allem und eigentlich nur in dem Land wirklich zu verhindern, von dem er ausging, in Kauf genommen oder angestrebt wurde. Festzuhalten ist: Nicht die Sozialdemokraten und die bürgerlichen Pazifisten haben diesen Krieg zu verantworten, sondern in erster Linie ihre sehr viel mächtigeren politischen Gegenspieler, nämlich die traditionellen Eliten des wilhelminischen Reiches.

Die Arbeiter in den europäischen Ländern kämpften seinerzeit primär um eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse und um die Möglichkeit demokratischer Partizipation. Über Außenpolitik waren sie in der Regel nur wenig informiert, und sie hatten wohl auch nur eine vage Vorstellung davon, wie ihre Arbeitswelt mit der internationalen Welt zusammenhing. Gleichwohl kann angenommen werden, dass die arbeitenden Menschen, die von den Delegierten des Basler Kongresses vertreten wurden, ebenso für den Erhalt des Friedens waren wie ihre in Basel tagenden Repräsentanten.(5) Sie hatten kein Interesse am Krieg. Damit unterschieden sie sich von den nationalistisch eingestellten Bürgerlichen, die 1914 mit Begeisterung in den Krieg zogen.

Zur Zeit des deutschen Kaiserreichs konkurrierten in den Köpfen und Gefühlen der organisierten Arbeiterschaft nationale Prägungen und das Ideal der internationalen Solidarität miteinander. In Deutschland glaubten nicht wenige jener Arbeiter, die Veteranen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 waren und sich hernach Kriegervereinen mit ihrer nach Millionen zählenden Mitgliedern angeschlossen hatten, zugleich an Bismarck und an Bebel.(6) In der gesamten Zeit des Deutschen Kaiserreiches gab es so etwas wie einen "Militarismus des kleines Mannes". Diesem war die Idee der Landesverteidigung keineswegs fremd.(7) August Bebel, der über die Landesgrenzen hinaus geachtete Parteivorsitzende der SPD, unterstützte den allgemeinen Friedensappell des Basler Kongresses, fürchtete aber zugleich die absehbare Propagandabehauptung der innenpolitischen Gegner, die SPD sei antinational, und er hatte sich - ausweislich seiner Reichstagsreden - gleichzeitig längst der Idee der nationalen Landesverteidigung angenähert.(8)



2. These

Das Eintreten des Kongresses für eine Politik der Kriegsverhütung im Kapitalismus war das Ergebnis eines Umdenkens in den sozialistischen Parteien Europas seit den 1890er Jahren. Hatten sie zuvor die politische Strategie "Frieden durch Revolution" verfolgt, so vertraten sie nunmehr die revisionistische Vorstellung, dass das erreichte Gewicht der Sozialdemokraten in den Parlamenten ein allmähliches Hineinwachsen in die sozialistische Zukunftsgesellschaft mit sich bringen werde. Gleichzeitig vollzog sich auch ein Gesinnungswandel in Sachen Kriegsverhütung. Informationen über das enorme Zerstörungspotenzial eines industrialisierten Zukunftskrieges wirkten in die gleiche Richtung.

Der Außerordentliche Kongress in Basel 1912 mit seinem Motto "Krieg dem Kriege" fügte sich in die Tradition dieser "friedlichen Wendung" ein.(9) Angesichts der vorhersehbaren Zerstörungen eines Zukunftskrieges - wie sie etwa von Friedrich Engels, dem Russen Ivan Bloch und der Österreicherin Bertha von Suttner beschrieben wurden nahmen die Sozialisten von der Vorstellung Abstand, dass der Krieg auch sein Gutes haben könnte, indem er die Revolution beschleunigte. Jetzt betrieben sie eine Politik der Kriegsverhütung auf dem Boden des Gegenwartsstaats.(10) Von ihm verlangte man - anders als bislang und trotz seiner kapitalistischen Wirtschaftsstruktur -, einen kriegerischen Konfliktaustrag unbedingt zu vermeiden. Die Revolutionierung der Verhältnisse sollte fortan auf evolutionärem Wege erfolgen. Statt "Frieden durch Revolution" galt nun die Devise "Frieden ohne Revolution"(11).

Zwei Jahre vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges, also im Jahre 1912, als der Basler Kongress tagte, veröffentlichte der Hamburger Lehrer Wilhelm Lamszus eine wirklichkeitsnahe Vorausschau auf den industrialisierten Zukunftskrieg. Der provozierende Titel seines Romans lautete: "Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Kriege".(12) Das Buch wurde sowohl zum Skandal als auch ein Bestseller. In wenigen Monaten erreichte es 70 Auflagen mit über 100.000 verkauften Exemplaren. Eine englische Ausgabe war ebenso erfolgreich.(13) Das bedeutet: Wer wissen wollte, wie der Zukunftskrieg voraussichtlich aussehen würde, der konnte es wissen.



3. These

Das martialische Motto des Basler Kongresses von 1912 "Krieg dem Kriege" verdeckte den Sachverhalt, dass der Sozialistischen Internationale keine Machtmittel zur Verfügung standen, auf die man sich hätte einigen können und die gegebenenfalls geeignet gewesen wären, ihrer Politik der Kriegsverhütung zum Erfolg zu verhelfen. Nicht wenige Delegierte wussten um die als schmerzlich empfundene Wahrheit, dass sich die Kampfparole "Krieg dem Kriege" letztlich in einem Appell an die Regierungen erschöpfte. Nur eine Minderheit glaubte an die Kriegsverhinderung durch einen Generalstreik.

Wer damals die im Münster zu Basel gehaltenen Reden hörte oder wer das Protokoll dieser großen Friedensdemonstration heute nachliest, ist beeindruckt vom Selbstbewusstsein und vom Optimismus der Redner. Vollmundig erklärte etwa der Sprecher der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, Regierungsrat Wüllschläger, die Internationale sei "heute eine große, reelle und ideale Macht", die sich Gehör zu verschaffen wisse.(14) Der deutsche Politiker Hugo Haase und Ko-Parteivorsitzende bezeichnete die internationale Sozialdemokratie "als Träger und Verkörperung der Friedensidee", bemerkte aber auch skeptisch: "Wir verkennen die Grenzen unserer Macht nicht."(15)

Der Londoner Labour-Politiker Keir Hardie, Verfechter einer Strategie des Massenstreiks gegen den Krieg, erklärte, der Kongress sei "eine gewaltige Macht zum Schutze des europäischen Friedens", da er 15 Millionen sozialdemokratischer Wähler vertrete. Wenn die Diplomatie sich als unfähig erweisen sollte, den Kriegsausbruch zu verhindern, so werde sich die Arbeiterklasse nicht scheuen, vom Kampfmittel des "internationalen revolutionären Gegenkriegsstreiks" Gebrauch zu machen.(16) Hermann Greulich aus Zürich, der für die Parteileitung der schweizerischen Sozialdemokraten sprach, Verwies besonders auf "die 4 ein Viertel Millionen sozialdemokratische Stimmen im Zentralstaat des europäischen Militarismus, in Deutschland". Das sei "eine herrliche Garantie für den Völkerfrieden".(17)

Der Kongress verabschiedete schließlich einstimmig eine wachsweiche Resolution, in welcher die Mitgliedsparteien der SI in einer allgemein gehaltenen Formulierung aufgefordert wurden,"alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern" und, falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, "für dessen rasche Beendigung einzutreten".(18)

Die Frage, ob der Generalstreik ein geeignetes Mittel zur Kriegsverhütung sein könne, hatte die II. Sozialistische Internationale auf ihren Kongressen zwischen 1889 und 1912 immer wieder beschäftigt.(19) In diesen Debatten hatte unter anderem der deutsche Parteivorsitzende August Bebel zu erkennen gegeben, dass die Führer der deutschen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften keine Sympathie für die Idee eines Massenstreiks gegen den Krieg hegten. Die SPD-Führer befürchteten, dass die um ihre Herrschaft kämpfende Staatsmacht in einem solchen Falle mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, auch denen des Belagerungszustandes und des Militäreinsatzes, gegen die Streikenden vorgehen werde. Es bestand die Gefahr, dass der große und empfindliche Partei- und Gewerkschaftsapparat zerschlagen würde. Ähnlich dachte man auch in einigen Schwesterparteien anderer Länder. Schon auf dem Stuttgarter Kongress 1907 hatte Bebel resigniert erklärt: "Wir können nichts tun als aufklären, Licht in die Köpfe bringen, agitieren und organisieren."(20) Aus diesem Grund kam der Militärstreik in der Resolution des Basler Kongresses 1912 nicht vor.

Aber welche anderen Mittel der Kriegsverhütung standen den Parteien der II. SI zur Verfügung? Im Wesentlichen reduzierten sie sich auf Appelle an die eigenen Anhänger, "mit allen Kräften" gegen das Wettrüsten zu kämpfen, die Jugend der Arbeiterklasse im Geiste der Völkerverbrüderung und des Sozialismus zu erziehen, sich für die Abschaffung der Stehenden Heere, für die Schiedsgerichtsbarkeit und eine Außenpolitik der Verständigung einzusetzen.

Als sich die Kriegsgefahr zuspitzte, organisierten die sozialdemokratischen Parteien in Deutschland wie in Frankreich große Friedensdemonstrationen, an denen Hunderttausende von Menschen teilnahmen. Aber die mit Kriegsplanungen beschäftigten Regierungen und ihre Generalstäbe ließen sich von alledem nicht beeindrucken. In Deutschland kalkulierte die Regierung, dass von den Sozialdemokraten letztlich nichts zu befürchten sei, wenn es ihr im richtigen Moment gelang, in der Öffentlichkeit das eigene Land als das angegriffene hinzustellen. Das würde die vorhersehbaren nationalen Reflexe auslösen, die mit der - als legitim betrachteten - Landesverteidigung verknüpft waren.



4. These

Zur Zeit des Basler Kongresses waren die Köpfe vieler Menschen in Deutschland beherrscht von dem Glauben an die Naturnotwendigkeit, die Gottgewolltheit oder die historische Unabänderlichkeit des Krieges. Solche Kriegsmetaphysik führte zu Fatalismus und lähmte den Willen zur Kriegsverhütung. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich die Deutschen von diesem Denken befreit. Sie erkannten, dass Kriege Menschenwerk sind, dass sie sowohl gemacht als auch verhindert werden können.

Das Diktum des preußischen Generalstabschefs Helmut von Moltke d.Ä., dass "der Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung" sei,(21) wurde im kaiserlichen Deutschland tausendfach nachgebetet. Die Menschen sollten glauben, "der Krieg" sei ein Naturereignis, er breche aus wie ein Vulkan und könne von Menschen eben nicht gebändigt werden.(22) Die christlichen Kirchen segneten die Waffen und sprachen vom Krieg als "Gottesgericht". In dem reichhaltigen Arsenal der Kriegsrechtfertigungen hat diese Kriegsmetaphysik jahrhundertelang eine große Rolle gespielt. Wer an sie glaubte, mochte den jeweiligen Zukunftskrieg fürchten, ihn aber zugleich als unvermeidbar ansehen und ihm kompensatorisch den Charakter einer heroischen Bewährungsprobe abgewinnen.

Frei von solchem Fatalismus war der französische Parteiführer und Pazifist Jean Jaurès. Schon auf dem Kongress seiner Partei in Limoges 1906 hatte er erklärt: "Wie die Wolke das Gewitter, so trägt der Kapitalismus den Krieg in sich. Aber Kriege entladen sich nicht wie Gewitter aus den Spannungen elementarer Kräfte; sie entspringen einem menschlichen Willensakt und sind daher nicht unabwendbar. Sie können verhütet werden, wenn dem Willensakt der herrschenden Klasse ein Willensakt der Arbeiterklasse entgegengesetzt wird."(23) Ähnlich sprach er in Basel.

Aber es bedurfte vor allem in Deutschland noch zweier Weltkriege mit mindestens 72 Millionen Toten,(24) bis sich die Überlebenden dieses "Zeitalters der Extreme" (Erich Hobsbawm) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu der Einsicht durchrangen, dass besagte Kriegsmetaphysik ein Trugbild ist, dass Kriege von Menschen gemacht werden und daher auch verhindert werden können, dass Kriegsverhinderung also prinzipiell möglich ist. Allerdings muss noch immer damit gerechnet werden, dass jene Regierungen und Politiker, die Kriege gar nicht verhindern wollen oder die unfähig sind, sie zu verhüten, sich die tradierten Erscheinungsformen der Kriegsmetaphysik zu Propagandazwecken zunutze machen.

In der Zeit des Kalten Krieges mit seiner ständigen Gefahr eines alles zerstörenden Atomkrieges sollte die Kriegsverhütung zur Conditio sine qua non jeder Politik der beiden Machtblöcke werden. 1971 ermittelte eine Forschergruppe um den deutschen Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, dass in einem Atomkrieg in Mitteleuropa alles zerstört würde, was hätte verteidigt werden sollen, und dass angesichts dieser Kriegsfolgen nur noch eine Politik der Kriegsverhinderung verantwortbar war.(25) Diese Erkenntnisse wurden nun, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von einer großen Mehrheit der deutschen Bevölkerung geteilt. Die Massenaktionen der Friedensbewegung von 1980-84, 1991 und 2003 haben dies gleich mehrfach unter Beweis gestellt.



5. These

Feindbilder und Kriegslügen waren vor dem Ersten Weltkrieg, während seines Verlaufs und in der Nachkriegszeit ein fester Bestandteil kriegerischer Machtpolitik der Nationalstaaten. Als Manipulationsinstrumente werden Feindbilder und Kriegslügen bis zum heutigen Tage benutzt, und zwar in Demokratien und Diktaturen gleichermaßen. Die Erkenntnis, dass im Kriege die Wahrheit das erste Opfer ist, gilt systemübergreifend.

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg waren in Deutschland antifranzösische, antibritische und antirussische Feindbilder verbreitet. Sie wurden gebündelt in dem Propaganda-Schlagwort "Feinde ringsum!" Unter dem Eindruck solcher Bedrohungsvorstellungen wurden in der deutschen Sozialdemokratie schon lange vor dem Ersten Weltkrieg die Fragen debattiert: Kann man in einem Konfliktfall überhaupt unterscheiden, ob es sich um einen Angriffs- oder Verteidigungskrieg handelt? Oder muss das entscheidende Kriterium zur Bewertung eines Konflikts das proletarische Interesse sein?

Wie bekannt, verbreitete Theobald von Bethmann Hollweg, Reichskanzler unter Kaiser Wilhelm II., in der Julikrise von 1914 durch geschickte Regie den Eindruck, Deutschland bleibe nichts anderes übrig, als auf die russische Generalmobilmachung zu reagieren und sich zu verteidigen. Mit dieser Manipulation drängte er die zögernde Sozialdemokratie, die noch kurz zuvor Friedensdemonstrationen organisiert hatte, dazu, eine Verteidigungssituation anzunehmen, in der sie sich nicht verweigern wollte. Die SPD-Reichstagsfraktion bewilligte daraufhin die ersten Kriegskredite und schloss einen so genannten Burgfrieden mit dem Kaiser und seiner Regierung. Der Chef des Marinekabinetts, Admiral Georg von Müller, freute sich über den gelungenen Coup. Er notierte: "Stimmung glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen."(26)

Das System der Kriegslügen hat die kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. und 21. Jahrhunderts begleitet.(27) Obwohl die modernen Massenkommunikationsmittel eine rasche und umfassende Information über Ereignisse auf dem gesamten Globus ermöglichen, hat sich hinsichtlich des Einsatzes von Kriegslügen zur Vorbereitung und Rechtfertigung kriegerischer Handlungen sowie zur Vertuschung der Kriegsrealität seit 1912 nichts Grundlegendes geändert. Auch zukünftig werden wir den regierungsamtlichen Kriegslügen in hohem Maße ausgeliefert sein. Misstrauen ist hier grundsätzlich angesagt.



6. These

Nur wenige Delegierte des Basler Kongresses waren Frauen, nämlich 18 von 555. In dem seit 1912 verflossenen Jahrhundert hat sich die Rolle der Frauen in der Politik und in der Wirtschaft nur graduell geändert. Seit 1918 haben die Frauen in Deutschland das passive und aktive Wahlrecht. Seit 1949 ist die Gleichheit der Geschlechter in der deutschen Verfassung festgeschrieben. Aber die gesellschaftliche Praxis ist von der Gleichberechtigung noch immer weit entfernt. In Führungspositionen von Politik und Wirtschaft dominieren nach wie vor die Männer. Die angestrebte Steigerung des weiblichen Einflusses in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft gibt der Hoffnung Raum, dass das zur Kriegsverhütung tendierende Führungspersonal zukünftig allmählich stärkeren Einfluss gewinnt.

Um 1912 besetzten Männer sämtliche politischen und militärischen Positionen. Sie trafen die Entscheidungen über Krieg oder Frieden, schlossen Waffenstillstandsabkommen, handelten Friedensschlüsse aus und unterzeichneten Staatsverträge. Männer hielten auch Friedenskundgebungen wie den Basler Kongress von 1912 ab.

Hundert Jahre später zeichnet sich ab, dass künftig immer mehr Frauen in die Politik gehen werden, aber auch in die Vorstandsetagen der großen Unternehmen. Ob dieser Megatrend zu einer friedlicheren Welt führt, ist zu hoffen, aber keineswegs ausgemacht. Der Zukunftsforscher Matthias Horx gibt zu bedenken: "Frauen sind anders. Sie üben Gewalt aus anderen Gründen als Männer aus. Wenn Frauen in den Krieg ziehen, wollen sie in der Regel etwas verhindern. Zum Beispiel, das Männer sich gegenseitig (und Frauen und Kinder) umbringen. Frauen werde eher aus Sorge aggressiv." Sie führen keine Kriege zur Territorialerweiterung, sondern "Sorgenkriege".(28)

In der internationalen Friedens- und Konfliktforschung spricht man ebenfalls von einem "relativen Pazifismus von Frauen", der ihrer unterschiedlichen Sozialisation geschuldet sei. Daraus wird die Vermutung abgeleitet, "dass es bei einer stärkeren Beteiligung von Frauen an politischen Entscheidungen weniger militärische Konflikte geben sollte".(29) Die zwar empirisch nicht bewiesene, aber durchaus plausible These lautet: Die Welt könnte also friedlicher werden, "wenn mehr Frauen an die Macht gelangten".(30)



7. These

Die Politik der Kriegsverhütung durch den Ausbau des Völkerrechts hat in den letzten 100 Jahren bemerkenswerte Erfolge vorzuweisen. Zur Zeit des Basler Friedenskongresses galt in den Beziehungen der souveränen Nationalstaaten noch das ungezügelte Recht zur kriegerischen Durchsetzung von Machtinteressen. Der Briand-Kellogg-Stresemann-Pakt von 1928 brachte lediglich ein verbindliches Verbot des Angriffskrieges. Seit der Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationalen im Jahre 1945 besteht ein allgemeines völkerrechtliches Kriegsverbot. Seitdem kann nur noch eine Politik der Kriegsverhütung als völkerrechtskonform gelten, ausgenommen die Selbstverteidigung und eine UN-mandatierte Gewaltausübung.

Während der beiden Haager Konferenzen von 1899 und 1907 wurde über Probleme einer Stabilisierung des Friedens zumindest nachgedacht.(31) Es zeigte sich jedoch, dass insbesondere die deutsche Regierung nicht Willens war, ihre Souveränität und ihr Recht zum kriegerischen Konfliktaustrag zu beschränken. Damit war jeder Ansatz zu einer Politik der Vertrauensbildung zum Scheitern verurteilt. Was von diesen Konferenzen im Hinblick auf die Politik der Kriegsverhütung blieb, war die Einführung einer Schiedsgerichtsbarkeit, die allerdings nicht obligatorisch und nicht mit Sanktionen bewehrt war, sodass sie letztlich wirkungslos bleiben musste.(32) Einigen konnte man sich immerhin auf Regeln im Krieg. Sie gelten seitdem als verbindliches Kriegsvölkerrecht. Dagegen fanden die Beratungen über Abrüstung und Rüstungssteuerung keine Zustimmung. Insbesondere die deutsche Seite wollte sich alle Optionen offenhalten.

Als die Sozialistische Internationale 1912 in Basel tagte, befand sich das internationale System demnach - in völkerrechtlicher Hinsicht - im Zustand der Anarchie. Jeder Staat konnte das Recht auf Krieg für sich reklamieren. Der Monarch entschied allein über Krieg und Frieden, und die Spitzenmilitärs waren nur ihm verpflichtet, nicht der Regierung und schon gar nicht dem Reichstag. Die oppositionellen Sozialdemokraten verfügten über keinen institutionalisierten Einfluss auf die Entscheidungsträger.

Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges wurde noch im Jahre 1945 die Charta der Vereinten Nationen verabschiedet, die ein allgemeines Kriegsverbot enthält.(33) Auch die Androhung von Gewalt war jetzt völkerrechtlich verboten. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das "Grundgesetz", 1949 verabschiedet und bis zum heutigen Tage auch im vereinigten Deutschland gültig, atmet denselben Geist der Kriegsverhütung und des Friedens.(34) In der Präambel der 2007 verabschiedeten Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es: "Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden."(35)

Die reale weltgeschichtliche Entwicklung hat sich an die Vorgaben der UN-Charta ebenso wenig gehalten wie die deutsche Politik an das Grundgesetz. In der Zeit des Ost-West-Konfliktes wurde eine Strategie der Kriegsverhütung durch Stärke Verfolgt, indem die Kontrahenten sich gegenseitig einen alles vernichtenden Atomkrieg androhten. Im Gegenzug zu dieser Drohpolitik entwickelte die oppositionelle deutsche Sozialdemokratie, die 1969 in Regierungsverantwortung gelangte und mit Willy Brandt den Kanzler stellte, eine andere, präventive Kriegsverhütungspolitik. Sie setzte eher auf vertrauensbildende Maßnahmen, Abrüstung und Rüstungsbeschränkung, und sie war von der Idee einer "Gemeinsamen Sicherheit der Konfliktpartner" in einem Klima der Entspannung geprägt.(36) Man kann diese Politik in der Traditionslinie des Basler Kongresses von 1912 sehen. Insgesamt lässt sich im Rückblick auf das Jahrhundert seit 1912 jedenfalls feststellen, dass sich die völkerrechtlichen Voraussetzungen für eine Politik der Kriegsverhütung grundlegend zum Positiven hin verändert haben.



8. These

Das Wettrüsten in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg stellte eine wesentliche Voraussetzung für das Projekt einer aktiven Kriegspolitik dar. In Deutschland entfaltete die Aufrüstung insoweit auch eine Eigendynamik, als sie die Entscheidungsträger dazu veranlasste, den Zeitpunkt zum kriegerischen "Griff nach der Weltmacht" (Fritz Fischer) von der eigenen Rüstungsüberlegenheit abhängig zu machen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gibt es zwar kein Wettrüsten der antagonistischen Feindlager in der nördlichen Hemisphäre mehr. Aber die Rüstungsproduktion geht gleichwohl ungebremst weiter. Nach wie vor stellen die Atomwaffen eine ständige Gefahr für den Weltfrieden dar, die im Alltag der Menschen allzu oft verdrängt wird. Ebenso wie vor 1914 können auch heute Rüstung, Waffenhandel und stets einsatzbereite Streitkräfte eine Eigendynamik entfalten und die Anstrengungen zur Kriegsverhütung und gewaltfreien Konfliktbearbeitung konterkarieren.

Das internationale Wettrüsten vor 1914 wurde durch die selbstinduzierte deutsche Rüstungspolitik erst ausgelöst. Im deutschen Generalstab herrschte die Vorstellung, dass es nur ein schmales Zeitfenster gebe, in dem die eigene Rüstungsüberlegenheit für einen kurzen und siegreichen Krieg genutzt werden konnte.(37)

Und die Rüstungspolitik heute? Das Ende des Ost-West-Konflikts hat bei den Ländern der nördlichen Erdhälfte nicht zu einem Verzicht auf Militär und Rüstung geführt, sondern zu einer groß angelegten Umrüstung für weltweite "Krisenreaktionen". Das Modell einer "Armee im Einsatz", das in Deutschland seit einigen Jahren propagiert und praktiziert wird, nährt neuerlich die Vorstellung, Konflikte seien nicht mit politischen Mitteln zu lösen, sondern nur mit Gewalt. Militärische Gewaltausübung wird zur "Neuen Normalität" erklärt, was den Historiker an das Denken und Verhalten der deutschen Führungsschichten um 1914 erinnert. Jedenfalls steht diese Vorstellung in Widerspruch zu einer konsequenten Politik der Kriegsverhütung.

Der heutige internationale Waffenhandel, an dem Deutschland, Großbritannien und Frankreich maßgeblich beteiligt sind, macht die Welt eher unsicher als dass er die Kriegsverhütung erleichterte. Denn die legalen und illegalen Waffenexporte machen Kriege und Bürgerkriege in vielen Teilen der Welt überhaupt erst möglich. Die "Geschäfte mit dem Tod" werden nicht selten mit nationalen Sicherheitsinteressen bemäntelt. Aus ethischer Sicht stellen sie einen permanenten Skandal dar.



9. These

Im Zeitalter des Imperialismus lag die Idee eines Zusammenschlusses der europäischen Nationalstaaten außerhalb des Denkhorizonts der Regierungen. Erst nach zwei Weltkriegen konnte das - von den Sozialisten schon früh unterstützte - politische Projekt eines geeinten Europa als Friedensraum schrittweise realisiert werden. Heute versteht sich Europa als eine Friedensmacht, in welche Kriegsverhütung nach innen als ein Strukturprinzip eingewoben ist. Begleitet und garantiert wird die Pazifizierung Europas durch einen Mentalitätswandel der Menschen, die heute Frieden als zentralen Wert akzeptieren.

Nach den zwei zerstörerischen Weltkriegen und nach der Ausschaltung des Kriegsfaktors Deutschland konnten die europäischen Nationen daran gehen, dieser Art des Konfliktaustrags für alle Zukunft eine Absage zu erteilen und sich auf den friedenspolitischen Wert der Zusammenarbeit zu besinnen. Zum Zwecke der dauerhaften Friedenssicherung schufen sie in mehreren Etappen einen Staatenbund, der voraussichtlich eines Tages die Form eines Bundestaates annehmen wird. Innerhalb der Europäischen Union (EU) sind die Nationalstaaten auf den Gebieten des politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens so eng miteinander verflochten, dass man von einem - nach innen hin - strukturell abgesicherten Friedensbündnis sprechen kann. Die Nationen Europas wollen keine Kriege mehr gegeneinander führen; sie können es wegen der vielfältigen Verflechtungen vermutlich auch gar nicht mehr.

In der Außensicht ist Europa daher, anders als die USA, "postheroisch"; damit ist gemeint, dass die Bevölkerungen der europäischen Länder, insbesondere die allermeisten Deutschen, keine militärischen Helden mehr sein wollen und daher kaum für einen kriegerischen Konfliktaustrag mobilisiert werden können.(38) Das große Thema des Internationalen Sozialistenkongresses von 1912 lautete, wie der Krieg zwischen den konkurrierenden europäischen Nationen verhindert werden könnte. Im Europa von 2012 stellt sich diese Frage nicht mehr. Im Jahrhundertvergleich kommt dieser fundamentale Unterschied gebührend in den Blick.



10. These

Das idealisierte Modell "Friedensmacht Europa"ist mit der Praxis allerdings nur teilweise in Einklang zu bringen. Denn das im Innenverhältnis realisierte Friedensversprechen gilt nicht für die Außenbeziehungen. In Deutschland lässt sich seit dem Ende des Kalten Krieges eine Militarisierung der Außenpolitik beobachten. Der Befund ist also ambivalent: Einerseits gibt es in der deutschen Regierung Ansätze, die Politik der Kriegsverhütung unter der Bezeichnung "zivile Krisenprävention" zu institutionalisieren. Andererseits wird in den außereuropäischen Beziehungen erneut eine militärisch gestützte Außenpolitik betrieben. Man muss daher feststellen: In einer mit Waffen vollgepumpten Welt ist die Politik Kriegsverhütung keineswegs schon realisiert, sondern stellt nach wie vor eine zentrale Aufgabe der deutschen und der europäischen Politik dar.

Die innere Pazifizierung des europäischen Kontinents wird heute im politischen und im wissenschaftlichen Sprachgebrauch mit wohlklingenden Begriffen wie "Friedensmacht Europa" oder "Zivilmacht Europa" gekennzeichnet.(39) Allerdings ist es fraglich, ob diese Begriffe ihren Gegenstand angemessen einfangen können. Mit der militärisch instrumentierten Außenpolitik wurde das im Grundgesetz von 1949 festgeschriebene allgemeine Friedensgebot durchlöchert, ja tendenziell preisgegeben.(40)

Die europäischen Staaten haben es bislang nur ansatzweise zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gebracht. In der Praxis agieren sie noch immer als Nationalstaaten. So besteht heute wie vor 100 Jahren das primäre Element der Kriegsverhütung im politischen Willen der Regierung, einen gewaltsamen Konfliktaustrag zu verhindern und ihn durch andere Mittel zu ersetzen. Der vormalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali gab im Jahre 1992 mit seiner "Agenda für den Frieden"(41) eine zeitgemäße Orientierung. Als Mittel der Kriegsverhütung favorisierte er vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung durch Verhandlungen und Kooperation, Friedenssicherung durch Blauhelme sowie die Friedenskonsolidierung in der Konfliktfolgezeit.

Die Idee einer "zivilen Konfliktbearbeitung fand zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung (1998-2005) Eingang in die deutsche Regierungspolitik. 2004 wurde ein ambitionierter Aktionsplan mit dem Titel "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" verabschiedet.(42) Auch wurde ein interministerieller "Ressortkreis zivile Krisenprävention" gegründet, der allerdings keine öffentliche Aufmerksamkeit erregen konnte.(43) So ist die zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung bis heute ein "unscheinbares Nischenprojekt deutscher Außenpolitik" geblieben.(44) Wie es aussieht, befinden sich die Verfechter einer "zivilen Konfliktbearbeitung" heute in einer kaum gewinnbaren Konkurrenz zu den traditionellen Praktiken der Außenpolitik.

In der Summe lässt sich konstatieren, dass die innere Befriedung des europäischen Kontinents nach dem Ende der nuklearen Blockkonfrontation erfolgreich voran geschritten ist. In den Außenbeziehungen Europas wird die Kriegsvermeidung seit 1990 allerdings nicht mehr als die zentrale Aufgabe der Politik angesehen. So befindet sich Deutschland heute in dem Zwitterzustand zwischen Friedensmacht und traditioneller Machtpolitik. Das bedeutet: Die politische Aufgabe der Kriegsverhütung stellt sich heute zwar nicht mehr in der gleichen, nämlich europazentrischen Weise wie im Vorfeld des Ersten Weltkrieges. Die internationale Mächtekonstellation ist heute eine völlig andere als 1912, zwei Jahre vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Aber es wäre ein Trugschluss, zu meinen, die Welt von 2012 sei rundum friedlicher geworden.(45) Noch immer leben wir in einer hoch gerüsteten Welt, die - aktuell vor allem im Nahen Osten - durch einen Funken entzündet werden kann.

Um zum Abschluss noch einmal die leitende Frage aufzugreifen: Was hat uns der Basler Friedenskongress von 1912 heute noch zu sagen? Wir können in Deutschland und in Europa hinsichtlich der politischen Träger der Kriegsverhütungspolitik einen Fortschritt erkennen. Anders als 1912 wird Kriegsverhütung heute nicht mehr als eine spezifische Aufgabe der - noch immer existierenden, aber nur noch selten politisch hervortretenden - Sozialistischen Internationale betrachtet. Vielmehr hat sich der Gedanke, dass Kriege verhütet werden müssen - zumindest in Europa -, auch im politisch konservativen Spektrum weitgehend durchgesetzt. Kriegsverhütung im europäischen Innenverhältnis wird heute als die Aufgabe aller politischen Kräfte angesehen. Im Außenverhältnis dagegen hat sich die Ansicht, dass Krieg als ein normales Mittel der Politik zu betrachten sei, trotz aller historischen Erfahrungen längst wieder in den Köpfen vieler Politiker breit gemacht. Die Botschaft, die von der gescheiterten Kriegsverhütung von 1912 für die Gegenwart und Zukunft ausgeht, muss daher lauten: Die Politik der Kriegsprävention kann nur erfolgreich sein, wo der politische Wille zum Frieden existiert, wo das Recht geachtet Wird, wo strukturelle Nichtangriffsfähigkeit organisiert wird und wo die Mentalität der Menschen auf Frieden hin orientiert ist.


Prof. Dr. Wolfram Wette ist (Militär-)Historiker und DFG-VK-Mitglied. Den hier veröffentlichten Vortrag hat er am 24. November 2012 auf dem wissenschaftlichen Kongress "Krieg und Frieden. 100 Jahre Außerordentlicher Kongress 'Gegen den Krieg' der Sozialistischen Internationale von 1912 in Basel und die Frage des Friedens heute", veranstaltet von der Universität Basel, in Basel gehalten.



Anmerkungen

(1) Plenarvortrag von Wolfram Wette am 24.11.2012 auf dem Wissenschaftlichen Kongress "Krieg und Frieden. 100 Jahre Außerordentlicher Kongress Gegen den Krieg der Sozialistischen Internationale von 1912 in Basel und die Frage des Friedens heute", veranstaltet von der Universität Basel, Departement Geschichte, 22.-24.11.2012, in Basel. Vgl. auch meinen publizistischen Beitrag zum gleichen Thema unter dem Titel "Letzter Appell an Europa. Krieg dem Kriege! Guerre à la guerre!" In: Die Zeit Nr. 48, 22.11.2012, S. 24: Geschichte

(2) Hans-Ulrich Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit. München 1988, S. 167

(3) Außerordentlicher Internationaler Sozialisten-Kongress zu Basel am 24. und 26. November 1912 [Protokoll], Berlin 1912 [fortan zit.: Basel 1912 Protokoll]. Vgl. auch die Darstellung von Bernard Degen: Krieg dem Kriege! Der Basler Friedenskongress der Sozialistischen Internationale von 1912. Basel 1990; und den Sammelband von Bernard Degen/Heiko Haumann/Ueli Mäder/Sandrine Mayoraz/Laura Polexe/Frithjof Benjamin Schenk (Hrsg.): Gegen den Krieg. Der Basler Friedenskongress 1912 und seine Aktualität. Basel 2012.

(4) Vgl. das Lexikon von Helmut Donat/Karl Holl (Hrsg.): Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Düsseldorf 1983.

(5) Der Sozialdemokrat und Regierungspräsident des Kantons Basel-Stadt, Herrmann Blocher, sah den Kongress als "das Schauspiel einer Arbeiterschaft, die den Krieg aus innerster Überzeugung verabscheut und von ihren Vertrauensmännern erwartet, dass sie die gesammelte Macht der europäischen Arbeiterklassen jenen Mächten gegenüberstellen, die es versuchen sollten, aus frivoler Machtgier einen europäischen Krieg zu entfesseln". Rede Blochers in: Basel 1912 Protokoll (wie Anm. 3), S. 10-12, Zitat S. 11.

(6) Thomas Rohkrämer: Der Militarismus der "kleinen Leute". Die Kriegervereine im deutschen Kaiserreich 1891-1914. München 1990. Dazu meine Besprechung: Gesinnungsmilitarismus. Wie Kriege vorbereitet werden: 1914 und 1959 liefern uns immer noch reiches Anschauungsmaterial. In: DIE ZEIT Nr. 5, 25.1.1991, S. 40.

(7) Siehe dazu Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Frankfurt/M. 2008, S. 72-75, und die dort zitierten Ausführungen über den Jenaer SPD-Parteitag von August Siemsen: Preußen - Die Gefahr Europas [1937]. Berlin 1981, Kapitel "Die Sozialdemokratie", S. 79-85.

(8) Siehe die Rede von August Bebel im Deutschen Reichstag am 24.4.1907. In: Verhandlungen Reichstag, Bd. 228, S. 1058-1068, zit. nach Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biographie. Düsseldorf 2. Aufl. 1967, S. 68-74.

(9) Basel 1912 Protokoll (Wie Anm. 3), Anhang,

(10) Vgl. Friedrich Engels: Kann Europa abrüsten? Nürnberg 1895.

(11) Friedhelm Boll: Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemokratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918. Bonn 1980.

(12) Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus. Bilder vom kommenden Krieg. Hamburg, Berlin 1912. Siehe auch die Kurzbiographie von W. Emmerich über Lamszus in: Donat/Holl, Friedensbewegung (wie Anm. 5), S. 246f.

(13) Andreas Pehnke: Grauen fällt uns an. Gespenstische Prophezeiung: Wilhelm Lamszuse Bestseller "Das Menschenschlachthaus" nahm bereits 1912 die Schrecken des Ersten Weltkrieges vorweg. In: DIE ZEIT, 2.8.2012, S. 18.

(14) Rede Wüllschlägers in: Basel 1912 Protokoll (wie Anm. 3), S. 3-4, Zitate S. 5.

(15) Ebda, Rede von Hugo Haase, Berlin, S. 12-13, Zitate S. 13.

(16) Ebda., Rede von Keir Hardie, London, S. 13 f.

(17) Ebda., Rede von Hermann Greulich, Zürich, S. 14 f.

(18) Text der Resolution, im Protokoll als "Manifest der Internationale zur gegenwärtigen Lage" bezeichnet, in: ebda., S. 23, Die Resolution wurde eingebracht und begründet von Jean Jaurès.

(19) Siehe Julius Braunthal: Geschichte der Internationale, Bd. 1. 3. Auf. Berlin, Bonn 1978, S. 291-309, auch zum Folgenden.

(20) Zit. nach Braunthal, Geschichte der Internationale, Bd. 1, S. 343,

(21) Gesammelte Schriften und Denkwürdigkeiten des General-Feldmarschalls Grafen Helmut v. Moltke. Berlin 1892/93, Bd, III, S. 154.

(22) Vgl. dazu die Analyse von Niklaus Meier: Warum Krieg? Die Sinndeutung des Krieges in der deutschen Militärelite 1871-1945. Paderborn u.a. 2012.

(23) Jean Jaurès auf dem Parteitag der Sozialistischen Partei Frankreichs in Limoges 1906. Zit. nach Braunthal, Geschichte der Internationale, Bd. 1, S. 340. Zu Jaurès vgl. auch Ulrike Brummert (Hrsg.): Jean Jaurès. Frankreich, Deutschland und die Zweite Internationale am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Tübingen 1989.

(24) Geschätzt werden 17 Millionen Kriegstote des Ersten Weltkrieges plus 20 Millionen Verwundete, siehe Ziff. 5 von:
http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg. Geschätzt werden bis 56 Millionen Kriegstote des Zweiten Weltkrieges, siehe:
http://de.wikipedia.org/wiki/Kriegstote_des_Zweiten_Weltkrieges.

(25) Carl Friedrich von Weizsäcker (Hrsg.): Kriegsfolgen und Kriegs Verhütung. München 2. Aufl. 1971.

(26) Notiz Admiral v. Müllers vorn 1.8.1914, zit. nach Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1975, S. 672.

(27) Vgl. Wolfram Wette: 1959 bis 2009. Lügen im Dienste des Krieges. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 54 Jg., Heft 9/2009, S. 83-94.

(28) Ebda., S. 109 u. 276 f.

(29) Einen Überblick über die zumeist angelsächsischen Forschungen zur Frage der Friedfertigkeit von Frauen bietet Margit Bussmann: Quantitative Studien zu Geschlechtergleichheit und Frieden. In: Zeitschrift für Friedens- und Konfliktforschung 1/ 2912, S. 141-154, Zitate S. 141f.

(30) Ebda, S. 150.

(31) Jost Dülffer: Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik. Berlin, Frankfurt/M, Wien 1981, wertet die Konferenzen insgesamt als einen "Fehlschlag", siehe S. 336.

(32) Siehe ebda, Kap. "Die Anfänge des Haager Schiedshofs", S. 205-226.

(33) Texte der wichtigsten Verträge zu Kriegsverbot und Gewaltverbot in Jost Delbrück (Hrsg.): Friedensdokumente aus fünf Jahrhunderten. Abrüstung, Kriegsverhütung, Rüstungskontrolle. Erster Teilband. Kehl, Straßburg, Arlington 1984, Dokumente 1-22, S. 48-72, Auszug aus der Satzung der Vereinten Nationen (26.6.1945) ebda, Dok. 9, S. 58-61, mit dem einschlägigen Gewaltverbot in Artikel 12, Absatz 4: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielsetzungen der vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt."

(34) Siehe dazu Dieter S. Lutz/Volker Rittberger: Abrüstungspolitik und Grundgesetz. Eine verfassungsrechtlich-friedenswissenschaftliche Untersuchung. Baden-Baden 1976, besonders Abschnitt 5: Das Friedensgebot des Grundgesetzes, S. 83-110. In der Präambel wird erklärt, das deutsche Volk sei von dem Willen beseelt, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Artikel 25 bestimmt, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, also auch die Charta der Vereinten Nationen, Bestandteil des Bundesrechtes sind. Nach Artikel 26 sind Handlungen verfassungswidrig, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, "insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten". In dem später eingefügten Artikel 87a wird im Hinblick auf das Militär unmissverständlich und eingrenzend erklärt: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." Alle Zitate nach: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Textausgabe. Stand: Januar 2007. Hrsg. vom Deutschen Bundestag. Berlin 2007.

(35) Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der Fassung vom 14.12.2007 in: Amtsblatt der Europäischen Union C 303/2 vom 14.12.2007. Siehe:
http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2007:303:0001:0016:DE:PDF.
Die Charta ist seit 29.10.2004 Teil der Verfassung der Europäischen Union. Siehe dazu die Abhandlung von Thomas Schmitz vom November 2004 "Die Verfassung der Europäischen Union":
http://lehrstuhl.jura.uni-goettingen.de/tschmitz/ Downloads/Schulze_Grundrechtscharta_in_EU-Verfassung.pdf.

(36) Siehe die entsprechenden Abschnitte in: Delbrück,
Friedensdokumente.

(37) Zur illusionären Vorstellung von einem kurzen Krieg siehe Stig Förster: Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871-1914, Metakritik eines Mythos. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen (MGM) 54 (1995), S. 61-95.

(38) Siehe James Sheehan: Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden. Aus dem Englischen von Martin Richter. München 2008, und Wolfram Wette: Eine stille Revolution. Deutschlands Weg vom Militarismus zur zivilen Gesellschaft. In: Manfred Budzinski (Hrsg), Das Maß des Friedens ist der Frieden selbst, Konstruktiver Pazifismus im 21. Jahrhundert. Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll 27. bis 29. Juni 2008, Bad Boll: Evangelische Akademie 2008, S. 14-38.

(39) Vgl. Peter Schlotter (Hrsg.): Europa - Macht - Frieden? Zur Politik der "Zivilmacht" Europa (= AFK-Friedensschriften Bd. 31). Baden-Baden 2003.

40) Vgl. Sabine Jaberg: Abschied von der Friedensnorm? Urteile des Bundesverfassungsgerichts, verteidigungspolitische Grundsatzdokumente und friedenspolitische Substanz des Grundgesetzes. In: Peter Schlotter/Wilhelm Nolte/ Renate Grasse (Hrsg). Berliner Friedenspolitik? Militärische Transformation - Zivile Impulse - Europäische Einbindung (AFK-Friedensschriften Bd. 34). Baden-Baden 2008, S. 83-106.

(41) Boutros Boutros-Ghali: Agenda für den Frieden. Vorbeugende Diplomatie, Friedensschaffung und Friedenssicherung, Bonn 1992.

(42) Siehe die Homepage des Auswärtigen Amtes:
http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Friedenspolitik/Krisenpraevention/Grundlagen/Aktionsplan_node.html.
Siehe auch die zusammenfassende Information in:
http://de.wikipedia.org/wiki/Aktionsplan_%E2%80%9EZivile_Krisenpr%C3%A4vention%E2%80%9C. Vgl. auch den Beitrag "Stillschweigender Abschied vom Aktionsplan" (2010):
http://www.dgvn.de/uploads/media/Stillschweigender_Abschied_vom_Aktionsplan_Zivile_Krisenpr%C3A4sentation_-_Stellungsnahme.pdf.

(43) Christoph Weiler: Zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung. Politische Herausforderungen und der Aktionsplan der Bundesregierung. In: Schlotter/Nolte/Grasse, Berliner Friedenspolitik (wieAnm. 39), S. 109-136, hier: S. 118f.; sowie, aus der Sicht eines beteiligten Politikers, Gernot Erler: Mission Weltfrieden. Deutschlands neue Rolle in der Weltpolitik. Mit einem Vorwort von Frank-Walter Steinmeier. Freiburg, Basel, Wien 2009, S. 74-78.

(44) Weller, Krisenprävention (wie Anm. 43), S. 121.

(45) Vgl. u.a. den Band: Krieg im Abseits. "Vergessene Kriege" zwischen Schatten und Licht oder das Duell im Morgengrauen um Ökonomie, Medien und Politik. Hrsg. vom Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung unter der Projektleitung von Thomas Roithner. Wien 2011.

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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis der
Gewaltfreiheit
Nr. 39/40 - III-IV. Quartal 2013, S. 4 - 12
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen)
mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der DFG-VK,
Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für Pazifismus,
Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2014