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BERICHT/240: 50 Jahre Atom-Synode der EKD ... (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 21 - I/2009
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

50 Jahre Atom-Synode der EKD...
 ... und die "10 Bruderschaftsthesen zur Unterweisung der Gewissen angesichts der Atom-Waffen"

Von Curt-Jürgen Heinemann-Grüder


Im Verlauf jener Synode im evangelischen Johannes-Stift in Berlin-Spandau Ende April 1958 sagte D. Dr. Otto Dibelius, der damalige Ratsvorsitzende der EKD, in einem seiner Redebeiträge, er würde, wäre er im Atom-Krieg Soldat, zu seinem Kommandeur gehen und ihm sagen, dass er den Auftrag, nämlich Atom-Waffen einzusetzen, nicht ausführen könne.

Leider hatte ich als gastweiser Teilnehmer an jener Kirchenkonferenz nicht den Mut aufzustehen und quer durch den Saal zu rufen: "Herr Bischof, da kommen Sie nicht hin." Dabei standen mir nicht nur die Erfahrungen als Truppen-Offizier auf fünf Kriegsschauplätzen vor Augen, sondern auch der Bericht des ehemaligen Weimarer Oberbürgermeisters Luitpold Steidler, der sich im Januar 1943 als Oberst mit Ritterkreuz aus den Kellern der Stalingrader Häuserwüste zum Befehlsstand von Marschall Friedrich Paulis durchgeschlagen hatte, um ihm zu sagen, man müsse Schluss machen, die Soldaten hätten nichts mehr zu essen und keine Munition mehr zum Schießen, die Soldaten verreckten unversorgt. Doch bevor er zu General Paulaus durchdrang, wurde er vom Ia (hoher Stabsoffizier - Anm. d. Red.) der 6. Armee, einem Generalleutnant Arthur Schmidt, abgefangen mit dem Bemerken, die Soldaten hätten noch Seitengewehre zum Stechen und Zähne zum Beißen, wenn er, Steidler, nicht sofort wieder auf seinen Gefechtsstand ginge, ließe er, der Ia, ihn hier vor dem Befehlsbunker des Oberbefehlshabers standrechtlich erschießen. Sie können unbesehen davon ausgehen, das die menschliche Situation in der Atom-Kriegs-Situation noch brutaler für die dann noch Lebenden ist, als sie schon in den Trümmern von Stalingrad war.

Unter den Landsern wurden solche Auskünfte wie die des Bischofs als Vorstellungen von "Karlchen Miesnick im 5. Glied" über den Krieg bezeichnet. Nur dass 1958 "Karlchen Miesnick" in diesem Fall der EKD-Ratsvorsitzende und Bischof von Berlin-Brandenburg war, und also seine Vorstellung von einem seelsorgerlichen Gespräch in der Atom-Kriegs-Situation eine pseudo-geistliche Dignität hatte. Die bei den Landsern übliche Bezeichnung der Pfarrer als "Himmelskomiker" war nicht ganz zufällig gewählt. Ich habe sie in meiner Saulus-Zeit auch bis ins Feldlazarett Dnjepropetrowsk Februar 1942 gebraucht: Entweder geht es in der biblischen Botschaft wie auf dem Gefechtsfeld um stahlharte Wirklichkeiten, oder wir können sie uns als Sphärenklänge sparen.

Darum komme ich jetzt zum Zentrum der Sache. In einer Textauslegung der "Göttinger Predigtmeditationen", die ich aus drei Jahrzehnten gebunden besitze, las ich bei einem Exegeten, die Wahrheit gäbe es auf zweierlei Weise:

a.) Die Naturgesetze, deren Chiffre heiße 2x2=4. Das gelte überall, vor uns, nach uns, neben uns. Darauf könne man sich verlassen; und

b.) wenn ein Kind sagt: "Meine Mutter liebt mich." Das gelte zwar nicht überall, es sagten auch nicht alle Kinder, auch liebten nicht alle Mütter ihre Kinder, wie wir wissen, aber wo es gesagt würde, sei es nicht weniger verlässlich als wie 2x2=4; also eine "harte" Wirklichkeit, von der ein Mensch lebt. Bewahren wir uns diese Auskunft als Analogie zu dem Kirchenlied "Gott liebt diese Welt" (EG 409) in Auslegung von Joh. 3,16 in unserer Wahrnehmung erst einmal auf, bevor wir jetzt zu den äußeren Umständen der Atom-Synode 1958 kommen.


"Wer so redet, schießt auch!"

Diese Synode der EKD hatte eine substanzielle Vorgeschichte - nicht nur waffentechnischer Art: 16. Juli 1945 - US-Atombombe Los Alamos; 6. August 1945 - Hiroshima; 9. August 1945 - Nagasaki; 29. August 1949 - sowjetische Atombombe; 3. Oktober 1952 - britische Atombombe (Die "Nachzügler" Frankreich und China lasse ich jetzt mal beiseite, ebenso Pakistan, Indien, Israel); 1. November 1952 - US-Wasserstoffbombe; 13. August 1953 - sowjetische Thermonuklearbombe usw. usf. Die USA haben immer alles vorgemacht, die anderen alle sind stets gefolgt, also musste man wieder einen neuen Vorsprung herausarbeiten etc.

Als 1957 der deutsche Verteidigungsminister F.J. Strauß meine, im "Konzert" der antagonistischen Atom-Mächte müsse die zur Nato gehörende Bundeswehr im auf Ost und West geteilten Deutschland "mitspielen", d.h. atomar aufgerüstet werden, da haben die so genannten Göttinger 18, eine Gruppe von Atom-Physikern wie Otto Hahn, Werner Heisenberg, Max Born, Max von Laue, Carl-Friedrich von Weizsäcker u.a. erklärt, dass sie ihre Erkenntnisse auf dem Gebiet der Atom-Physik nicht zum Bau einer deutschen Atom-Bombe zur Verfügung stellen werden.

Im Frühjahr 1958 war Strauß im Zitat mit dem Satz zu hören gewesen, man werde auf den ersten Schuss (der kommunistischen Seite) mit der Atom-Bombe antworten (Berichtsband der EKD "Berlin 1958", S. 258). Selbst wenn es nur einer seiner bajuwarischen Temperamentsausbrüche gewesen sein sollte, der baden-württembergische Ministerpräsident Reinhold Meyer quittierte diese Äußerung mit dem Bemerken: "Wer so redet, der schießt auch!"

Die kirchlichen Bruderschaften, die sich in den einzelnen Landeskirchen im "Kampf gegen den Atom-Tod" mit Gewerkschaften und Friedensgruppen gebildet hatten, waren dagegen der Meinung, die wirkliche oder nur vermeintliche "Gefahr aus dem Osten" sei anders zu beantworten als in der Potenzierung des "wie du mir, so ich dir" durch Exterminationsmittel. Sie stellten die Frage, ob, wenn es denn nun - wie einem die Atom-Physiker sagten - waffentechnisch möglich sei, das menschliche, tierische und pflanzliche Leben auf unserem Planeten auszulöschen, etwa mit 10 Wasserstoffbomben, ob dann nicht durch die totale Waffe offenkundig geworden sei, dass der ganze Weg dahin verkehrt gewesen wäre, und also das Vergeltungsdenken als das scheinbar Normale radikal, d.h. auf seine Wurzel hin, zu hinterfragen sei.

Das war 1954 die Erkenntnis des ehemaligen U-Boot-Kapitäns und späteren Pastors Martin Niemöller nach seinem Gespräch mit Otto Hahn, dem Entdecker der Atom-Spaltung gewesen. Sie, die Bruderschaften, waren der Meinung, dass hier Glaube und Nihilismus als sich ausschließende Gegensätze zu Tage träten. (...)


"Vorbehaltlos und unter allen Umständen"

Deshalb soll hier der Wortlaut der 10 Bruderschaftsthesen folgen, von denen Karl Barth damals gesagt hat, er teile ihre Aussagen, als hätte er sie selbst verfasst. Ich finde diese Thesen, die ich am 2. Februar 1960 von Potsdam aus mit unterschrieben habe, sehr besonnen. Ihre Brisanz liegt in den Konsequenzen, zu denen sie rufen.

1.) Der Krieg ist das letzte, in allen seinen Gestalten von jeher fragwürdige Mittel politischer Auseinandersetzung zwischen Völkern und Staaten. (...)

2.) Kirchen aller Länder und Zeiten haben die Zubereitung und Anwendung dieses Mittels bis heute aus verschiedenen guten und weniger guten Gründen nicht für unmöglich gehalten.

3.) Die Aussicht auf einen künftigen unter Gebrauch der modernen Vernichtungsmittel zuführenden Krieg hat eine neue Lage geschaffen, angesichts derer die Kirche nicht neutral bleiben kann.

4.) Krieg als Atom-Krieg bedeutet die gegenseitige Vernichtung der an ihm beteiligten Völker mit Einschluss unzähliger Menschen anderer Völker, die am Kampf beider Seiten nicht beteiligt sind.

5.) Krieg als Atomkrieg ist damit als ein zur politischen Auseinandersetzung untaugliches Mittel erwiesen.

6) Die Kirche und der einzelne Christ können darum zu einem als Atomkrieg zu führenden Krieg nur Nein sagen.

7.) Schon die Vorbereitung eines solchen Krieges ist unter allen Umständen Sünde gegen Gott und den Nächsten, an der sich keine Kirche, kein Christ mitschuldig machen darf.

8.) Wir verlangen darum im Namen des Evangeliums, dass der Vorbereitung dieses Krieges im Bereich unseres Landes und Staates ohne Rücksicht auf alle anderen Erwägungen sofort ein Ende gemacht werde.

9.) Wir fordern alle, die mit Ernst Christen sein wollen, auf, sich der Mitwirkung an der Vorbereitung eines Atomkrieges vorbehaltlos und unter allen Umständen zu versagen.

10.) Ein gegenteiliger Standpunkt oder Neutralität dieser Frage gegenüber ist christlich nicht vertretbar. Beides bedeutet die Verleugnung aller drei Artikel des christlichen Glaubens.

Diese der EKD März 1958 mit der Unterschrift von Oberkirchenrat Dr. Heinz Kloppenburg und dem späteren Bundesverfassungsgrichter Dr. Helmut Simon vorgelegten Thesen fanden von dem erwähnten Basler Theologen Prof. D. Karl Barth, dem so genannten theologischen Vater der Bekennenden Kirche (1934 in Barmen), folgende Begutachtung: "... Die westdeutschen Bruderschaften mit ihrem Ursprung in und ihrem Zusammenhang mit dem, was vor 25 Jahren geschehen ist, sollen ... wissen, dass ich wie überhaupt, so gerade in der sie jetzt bewegenden Sache, von ganzem Herzen mit ihnen bin und hinter ihnen stehe und dass ich das auch in Zukunft um so freudiger tun werde, je freier von allem Tiefsinn und aller Schwermut, je klarer und entschlossener, je konfessionsloser und folgerichtiger sie den von ihnen betretenen Weg fortsetzen werden. Was war das für ein in deutschen Zeitungen verbreitetes Gerücht, dass Prof. Barth mit den 10 Thesen der Anfrage nicht übereinstimme? Sagen sie es allen und jedem, dass ich mit diesen Thesen (mit Einschluss der 10!) übereinstimme, wie wenn ich sie selber geschrieben hätte, und dass ich nichts sehnlicher wünsche, als dass sie in Frankfurt und nachher im weiteren Raum der Evangelischen Kirche in Deutschland würdig, einleuchtend und fröhlich, aber in der Sache unbeugsam, vertreten und interpretiert werden möchten. Ob die Frankfurter Tagung ein 'Erfolg' sein wird, ist eine zweite Frage neben dem, was ich ihr mit Ihnen allen wünschen möchte: Dass sie von dem allein guten Geist der 'Nachfolge' beherrscht werden möchte." (vgl. TheolExistenz heute, Heft 70, Chr. Kaiser Verlag, München 1959; S. 8 und 104).

Der Riss, der aber quer durch die EKD ging und noch geht, doch unter dem Wort des lebendigen Gottes nicht unheilbar ist, wenn wir ihn denn gemäß 2. Mo. 15,26 den Herrn unsern Arzt seinlassen, ging auch durch ein und dasselbe Amt. Als ich - wie gesagt - Frühjahr 1960 als Referent der Generalsuperintendentur der Kurmark in Potsdam meinem Chef, D. Walter Braun, bei einer Dienstbesprechung sagte, ich hätte die 10 Bruderschaftsthesen jetzt auch unterschrieben, fragte er mich über den Tisch herüber: "Wollen Sie mir den Glauben absprechen?", antwortete ich: "Nein, Bruder Braun, aber in diesen Thesen den meinen bezeugen." Es war ein Gespräch auf Messers Schneide, aber es war ein Gespräch. D. Braun hat das verstanden. Wir haben in der Situation der DDR bis zum Schluss des gemeinsamen Dienstes und darüber hinaus gut zusammengearbeitet. Auf meinen Vorschlag hat er Martin Niemöller nach Potsdam eingeladen, ebenso Prof. Dr. Hromadka aus Prag, den Mann der CFK (Christliche Friedenskonferenz - Anm. d. Red.). Schon 1959 hatte er sich in der Potsdamer Kirchenzeitung zum Interpreten der Kasseler Rede von Martin Niemöller gemacht, in der dieser gesagt hatte, Eltern, die im Atom-Zeitalter ihre Söhne Soldaten werden ließen, müssten wissen, dass sie sie zum Verbrechen ausbilden ließen. F.J. Strauß hat gegen M. Niemöller eine Verleumdungsklage angestrengt, die auf Veranlassung von Dr. Adenauer niedergeschlagen wurde, in der richtigen Annahme, dass es sich hier nicht um persönliche Beleidigungen, sondern um letzte Differenzen in der Erkenntnis der Objektivität der Wahrheit handelte, deren Ja oder deren Nein oft erst post festum zu Tage träte.


"Die Revolution aller Revolutionen"

Darum kommen wir jetzt zum Kern des Problems zurück, wenn wir die Kindes-Aussage "Meine Mutter liebt mich" als Analogon der biblischen Botschaft "Gott liebt diese Welt" EG 409 verstehen und diese ins Zentrum der so genannten Atomwaffenfrage rücken, und zwar ins Zentrum kirchlicher Verkündigung, die keiner der Kirche Jesu Christi abnehmen kann, oder sie von sich aus unterschlagen oder zur Disposition stellen könnte. Sie steht und fällt mit dieser ihr aufgetragenen Botschaft. Dass die Botschaft von der Liebe Gottes gar nicht so selbstverständlich ist, wie es uns Christen erscheinen mag, sieht man daran, wenn man feststellen muss, dass in dem Begriffsverzeichnis des Koran-Exemplars, welches ich im Kaufhaus "Horten" 1982 erworben habe, die Worte "Liebe" bzw. "lieben" nicht vorkommen, stattdessen 180 Mal der Ort strafender Gerechtigkeit: die Hölle. Doch bevor wir hier den ersten Stein werfen, wollen wir uns daran erinnern, dass die Christenheit ihre verheerenden Kreuzzüge ins "Heilige Land" unter dem Papst-Wort Urbans II. "Gott will es" um 1099 gestartet hat und Juden-Pogrome, Ketzerprozesse und Hexenverbrennungen inszeniert hat, deren man sich nur schämen kann.

Was man so leicht hinsagt, als wäre es das Normalste unseres Daseins, nämlich dass "Gott diese Welt liebt", ist im Grund die Revolution aller Revolutionen: Die Schuld anderer Leute bezahlen, Böses mit Gutem vergelten, den Feind lieben, für Mörder bitten, Auferstehung aus dem Tod unserer Sünden praktizieren. Als beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Köln der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner, sagte, man müsse mit den Taliban in Afghanistan reden, gab es gleich Gemurre.

Als der Erzbischof von Canterbury 1982 auch für die gefallenen argentinischen Soldaten nach der Wiedereroberung der Falkland-Inseln betete, da war die Anglikanerin Margret Thatcher sauer.

Als Martin Niemöller 1950 sich gegen die von Adenauer initiierte Remilitarisierung der Bundesrepublik aussprach mit der Bemerkung, dass die Russen ja Gründe hätten, sich vor einer neuen durch westliches Bündnis fundierten, mit modernsten Waffen ausgerüsteten Bundeswehr zu fürchten, hat Dr. Adenauer auf seinem Parteitag in Goslar am 4. Oktober 1950 gesagt: "Ich kann nur sagen, dass Herr Niemöller in geradezu unverantwortlicher Weise sich gegen die Ehre und das Ansehen seiner Mitmenschen versündigt hat. Dass er dem deutschen Volke schwersten Schaden zufügt." (vgl. M. Niemöller: Was würde Jesus dazu sagen? Röderberg Verlag, Frankfurt am Main 1986, S. 108 f.) (...)


Hoffnungsträger

Darum gehörte und gehört zu einer Atom-Synode nicht nur aus Gründen der Frömmigkeit, sondern der nüchternen Sachlichkeit die Botschaft von der Liebe Gottes, die Gott sich seinen Sohn kosten ließ, und diese Botschaft glaubwürdig auszurichten, wie es Friedrich von Bodelschwingh getan hat, oder ein Paul Schneider, wie ein Martin Luther King, wie ein Erzbischof Oscar Romero, wie eine Mutter Teresa und andere mehr, wenn man die Wirklichkeit dieser Wahrheit nur entdecken und gelten lassen will. Darum sollen hier einige der bekanntesten Worte der Bibel von der Liebe Gottes zu unserer Welt in Erinnerung gerufen werden; es ist wahrlich keine Beschreibung esoterischen "Augenverdrehens", sondern eine Faktensammlung und die Proklamation einer Handlungsanweisung, dem gegenüber ein Konjunkturprogramm reines Wunschdenken ist. Die Juden stehen in ihrer Geschichte für die Leibhaftigkeit dieses das Zeugnis von der Liebe Gottes enthaltenden Buches.

Eine der prägnantesten Stellen der Heiligen Schrift, die von dem revolutionären Charakter der Liebe Gottes spricht, steht im Römer-Brief Kap. 5,6-10. "Gott renommiert mit seiner Liebe uns gegenüber, dass ER uns geliebt hat, als wir noch Feinde waren" (Rö. 5,8). Das braucht man nur einmal in unsere Welt mit ihren in die Seelen eingeätzten Feindschaften in Beziehung zu bringen, etwa bei Hutus und Tutsis in Afrika, Singalesen und Tamilen in Sri Lanka, bei Palästinensern und Israelis in Nah-Ost, um das Revolutionäre, Riskante, ja Wahnsinnige zu erkennen, dass Gott seine Feinde liebt, weil unsere Feindschaft gegen ihn viel existenzgefährdender ist für uns als für ihn. Die deutsche "Erbfeindschaft" gegen Frankreich mit zwei Weltkriegen war ja für uns selbst noch viel folgenschwerer als für unsern Nachbarn, mit dem wir "auf einmal", nämlich seit der Katastrophe von 1945, nicht zuletzt dank dem menschlichen Format von Charles de Gaulle und Dr. Adenauer und ihrer Geste der Umarmung in der Kathedrale von Reims in Freundschaft leben können. Oder dass ausgerechnet der Generalsekretär der KPdSU, der doch für die "reine Lehre" des Marxismus-Leninismus zuständig war, der getaufte Bauernjunge Michail Gorbatschow aus dem Kaukasus, sagte, ich mache den Wahnsinn des Hochrüstens nicht mehr mit, und der eher das eigene System kollabieren ließ unter dem Risiko des Krim-Putsches am 21. August 1991, als den "imperialistischen Feind" weiter zu verteufeln; oder dass der Kniefall des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Warschauer-Ghetto-Denkmal am 7. Dezember 1970 ihn und uns alle nicht erniedrigt, sondern in Wahrheit erhöht hat, das alles sind Widerspiegelungen der Revolution der Liebe Gottes zu uns, seinen Feinden, an denen deutlich wird, dass das Wort von der Liebe kein Blabla ist, sondern Leben aus der Sackgasse des Todes. Man muss das Evangelium - mit Luther zu sprechen - ins Fleisch bringen!

Von daher wollen noch ein paar Schriftsteller von der Liebe Gottes zu uns Sündern gehört sein, die fernab von frommen Gesäusele sind, sondern allemal von dem Mut des Glaubens sprechen, der stärker ist als die Feigheit des Hasses.

Eph. 5,11 ff. "Seid nun Gottes Nachfolger als geliebte Kinder und lebt in der Liebe, gleichwie Christus uns geliebt hat und sich hingegeben hat für uns als Gabe und Opfer." So wie Pater Maximilian Kolbe Juli 1941 im Stammlager von Auschwitz sich beim Zehner-Abzählen zum Verfrachten in den Hungerbunker für seinen zitternden Nebenmann Franciszek Gajwroniczek preisgegeben hat, sodass dieser die KZ-Haft überlebte, und nach dem Krieg in der katholischen Kirche Polens "herumgereicht" worden ist als anschauliches Beispiel, dass einer das Leben haben kann, weil ein anderer in meinen Tod getreten ist. (...)

Joh. 3,16 "So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eigenen Sohn dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verlorengehen, sondern das ewige Leben haben."

Was heißt denn, ihm zu glauben? Darauf hat Martin Niemöller Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts eine gültig bleibende Antwort aus dem KZ Sachsenhausen gegeben: "Wir sind nicht gefragt, was wir uns selbst zutrauen, sondern wir sind gefragt, ob wir Gottes Wort zutrauen, dass es Gottes Wort ist und tut, was es sagt." Darum: "Wenn jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt" 1. Kor. 8,3. Oder: "Unser Herr Jesus Christus und Gott, unser Vater, der uns geliebt und uns seinen ewigen Trost gegeben hat und eine gute Hoffnung durch Gnade, der mache eure Herzen getrost und stärke euch in jedem guten Werk" 2. Tess. 2,16. Darum wieder ein Exempel aus der Wirklichkeit: Der deutsch-italienische Jude Ralph Giordano hat mal gesagt: "Solange es in Deutschland solche Menschen gibt wie jene Hamburger Frau, die uns das ganze Dritte Reich über in ihrem Keller versteckt und verpflegt hat, gebe ich das Land nicht auf" Warum sollten wir nicht auch solche Hoffnungsträger sein?


"Das ist Sünde."

Was heißt diese geballte Botschaft von der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen anderes als das, was Bischof Dr. Ulrich Fischer (Landesbischof der Evang. Landeskirche in Baden - Anm. d. Red.) in seinem Weihnachtsartikel des PK Nr. 300 u.a. zum Ausdruck bringt, nämlich, dass Gott sich die Sache des Menschen zu eigen gemacht hat. Wer also den Menschen anrührt - außer zum Guten -, der bekommt es mit IHM zu tun. Von daher ist die erste von den 60 Thesen von Prof. D. Heinrich Vogel, einem Protagonisten der ehemaligen Bekennden Kirche in Berlin-Brandenburg, in der Atom-Synode 1958 zu verstehen, wenn er sagt: "Den Menschen, den Gott so geliebt hat, wie es uns das Evangelium sagt, auch nur als Objekt von Massenvernichtungsmitteln denken zu wollen, ist Sünde." Wer das bestreitet, der sage nicht mehr, er wisse, was Sünde ist. Er weiß es auch sonst nicht.

So wie Luther in seiner Auseinandersetzung mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam, welcher Gewissheiten für eine geistliche Anmaßung hielt, in seiner Schrift "de sero arbitrio" (1525) gesagt hat, genau darum ginge es, nicht klüger als Gott in seinen gewissen Zusagen sein zu wollen, denn ohne sie sei bei uns alles ambivalent - die Finanzkrise lässt grüßen, die Sicherheitskrise steht in den Startlöchern - um zu wissen, was wir zu tun, und was wir zu lassen haben. Gut und Böse seien keine Beliebigkeiten unserer Existenz. (vgl. Clemen, Bd. 3, Seite 97, Z. 30 ff)


In 50 Jahren keinen Schritt weiter

Um diese geistliche Klarheit von der Fleischwerdung Gottes (Joh. 1,14) geht es. Dann wissen wir auch, was uns aufgegeben ist: nämlich mit Dietrich Bonhoeffer glauben zu lernen. Er hat in einer Predigt inmitten von Hitlers so genannter Machtergreifung, nämlich am 26. Februar 1933, über den Gideon des Richterbuches, der seinen Gott, den Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs, angesichts der Midianiter-Übermacht angefochten fragt: "Womit soll ich Israel erlösen?" (Ri. 6,15), und der dann zu hören bekommt, mit einer bis auf 300 Mann reduzierten Schar, wie gesagt, in jener Predigt in dem damals hitlerbegeisterten Berlin hat Bonhoeffer gesagt: "Das größte Hindernis des Menschen, Gott den Herrn sein zulassen, d.h. zu glauben, ist unsere Feigheit." Bonhoeffer, der von vielen als "wunderbar geborgen" Zitierte, sagt in seiner Predigt weiter: "Gideon hat geglaubt, er hat gehorcht, er hat Gott die Ehre gegeben, er hat auf seinen Ruhm verzichtet, und Gott hat sein Wort gehalten." Bonhoeffer fragt weiter: "Ein Märchen - wie andere auch? Wer so redet, hat nicht begriffen, dass Gideon lebt und die Gideonsgeschichte sich täglich in der Christenheit wiederholt: Ich will mit dir sein vor dem Feind! - Was tut Gideon? Was tun wir? Man rafft alle eigene Kraft zusammen, greift nach allen Mitteln der Hilfe, man berechnet, erwägt, zählt, man rüstet sich mit Wehr und Abwehr, bis dann plötzlich unerwartet - niemand weiß, wann - der lebendige Gott selbst wieder den Menschen anfällt: Hast Du Glauben, so leg deine Waffen ab, ich bin deine Waffe; ... leg deinen deinen Stolz ab, ich bin dein Stolz. Hörst du es Kirche Gideon, lass Gott allein, lass sein Wort, sein Sakrament, seine Gebote, deine Waffen sein, suche keine andere Hilfe, erschrick nicht ... Lass dir an seiner Gnade genügen." (vgl. Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, Band 4; Predigten; München 1961, S. 115)

Vielleicht sollten wir Dietrich Bonhoeffer auch in der Frage der so genannten Atom-Waffen alias Massenvernichtungsmittel endlich unseren Glaubensbruder sein lassen, der uns mutig vorangegangen ist im Wagnis, die viel besungene Geborgenheit durch gute Mächte wirklich in Gott gegeben sein zu lassen, freigemacht zum Gehorsam gegen Christus - "Midian" zum Trotz. Die Staaten werden immer Ermessensgründe finden, warum sie auf das "Teufelszeug" - Alfred Dregger am 21. November 1983 im Deutschen Bundestag (vgl. Die Nachrüstungsdebatte im Deutschen Bundestag, rororo 5433, Hamburg 1984, S. 49) - meinen nicht verzichten zu können. Ein Karlsruher Gymnasiast hat es 1992 auf den Punkt gebracht, als nach dem Kollaps der Sowjetunion in Russland gefragt wurde, was denn nun aus der Nato würde, die doch im Gegensatz zu Russland ins Leben gerufen worden war: "Ein Feind wird sich schon finden." - So "witzig" das klingt; es ist reiner Zynismus, der die Praxis der Mächte widerspiegelt. Das Gegenteil vom Geist Jesu Christi! "Den Menschen, den Gott so geliebt hat, wie es das Evangelium sagt, auch nur als Objekt von Massenvernichtungsmitteln denken zu wollen, ist Sünde." Die Analogie der Liebe Gottes aus Kindermund: "Meine Mutter liebt mich" - das ist für das Kind, das so spricht, wichtiger als 2x2=4. Für die Kirche auch? Offenbar nicht, denn in 50 Jahren ist die EKD - abgesehen von wohlausgewogenen, zum Frieden mahnenden, praktische Schritte empfehlenden Friedens-Denkschriften - über ihre so genannte Ohnmachtserklärung vom 30. April 1958 nicht hinausgekommen: "Die unter uns bestehenden Gegensätze in der Beurteilung der atomaren Waffen sind tief, sie reichen von der Überzeugung, dass schon die Herstellung und Bereithaltung von Massenvernichtungsmitteln aller Art Sünde vor Gott ist, bis zu der Überzeugung, dass Situationen denkbar sind, in denen in der Pflicht zur Verteidigung der Widerstand mit gleichwertigen Waffen vor Gott verantwortet werden kann. Wir bleiben unter dem Evangelium zusammen und mühen uns um die Überwindung dieser Gegensätze. Wir bitten Gott, er wolle uns durch sein Wort zu gemeinsamer Erkenntnis und Entscheidung führen." (vgl. Bericht über die 3. Tagung der 2. Synode der EKD vom 26. bis 30. April 1958, S. 218). Das Positive dieser Erklärung ist, dass sie inhaltlich sagt: Beide Positionen sind gleichzeitig vor Gott nicht möglich. Unter der Voraussetzung, dass sie den von ihr um "gemeinsame Erkenntnis und Entscheidung" angerufenen Gott mit vielen Agnostikern in unserem Volk nicht auch für eine leblose Projektion im "Jenseits" hält, müsste sich die EKD in der Gegenwart ihres Gottes öffentliche Rechenschaft geben, warum es in 50 Jahren nicht möglich ist, aus dem lebendigen Wort des Lebendigen Gottes evangelische Klarheit zu gewinnen, reformatorischer perspicuitas Heiliger Schrift gemäß. Das tut sie nicht - aus Angst vor den gesellschaftlichen Konsequenzen in einer nur auf gegenseitiger Abschreckung sich basierenden Welt. Bonhoeffer ist in dieser kirchlichen Praxis nicht unterzubringen. Die jungen Leute in Mutlangen waren Anfang der 80er weiter - auch ohne EKD.

Ich schließe mit dem "Zeugen Jesu Christi unter seinen Brüdern" - laut Gedenktafel in Flossenbürg. Er hatte schon 1936 an seinen Schwager Rüdiger Schleicher geschrieben: "Ich glaube, dass die Bibel ... die Antwort auf alle unsere Fragen ist und dass wir nur anhaltend und ... demütig zu fragen brauchen, um die Antwort von ihr zu bekommen." (vgl. Ferdinand Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie. München 2005, S. 113).

Ob die Evangelische Kirche in Deutschland heute unter seinem Appell "Christentum bedeutet Entscheidung" (a.a.O., S. 111) hört? Denn noch am 22. März 1982 hat Eberhard Bethge im Gemeindehaus Pestalozzi-Straße in Pforzheim vor fast 200 Leuten in einem Vortrag "Bonhoeffer - Pazifismus und Konspiration" gesagt, dass Bonhoeffer, lebte er noch, auch heute nicht von seiner Kirche anerkannt wäre!

Das deutsche Fernsehen (ARD) hat vor nicht allzu langer Zeit jenes Bonhoeffer-Wort von der auf ernstes Fragen Antwort gebenden Bibel als ein Merkwort über den Äther ausgestrahlt. Offenbar müssen die TV-Leute den Kirchenleuten sagen, auf was man in dieser Welt zu achten hat.


Curt-Jürgen Heinemann-Grüder ist emeritierter Pfarrer. Der hier veröffentlichte (leicht gekürzte) Text ist das Manuskript eines Vortrags, der am 29. Januar in Pforzheim bei einer Veranstaltung des Versöhnungsbundes im Rahmen der evangelischen Erwachsenenbildung gehalten wurde.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 21, I/2009, S. 12 - 16
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2009