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BERICHT/236: Naher Osten - Ein sechzigjähriger Krieg (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Ein sechzigjähriger Krieg
Friedenspolitische Anmerkungen zur Situation im Nahen Osten nach dem Amtsantritt der neuen israelischen Regierung

Von Gerd Greune


Der Nahostkonflikt geht ins siebte Jahrzehnt - und es ist kein Ende in Sicht. Nach den israelischen Parlamentswahlen im Februar sind mehr Abgeordnete im Parlament, die sich für eine weitere Besetzung Palästinas einsetzen. Dies ist natürlich auch ein gefährliches Aufputschmittel für die ansonsten eher schon an den Rand gedrängten gewaltbereiten Extremisten und ein Alarmsignal. Schon gibt es erste Scharmützel zwischen radikalisierten jugendlichen israelischen Siedlern und arabischen Amokläufern, die in der israelischen Presse als Neubelebung terroristischer Aktivitäten dargestellt werden.

Nach den Wahlen wurde der "Rechts-ruck" in Israel in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestellt. Eine 60 Jahre dauernde, von der sozialdemokratischen Labour-Partei mitgeprägte israelische Politik sei am Ende. In der Tat landete die Labour-Partei hinter den beiden konservativen Parteien Kadima und Likud und der rechtsextremen Partei "Unser Israel" nur noch auf Platz vier. Das Ende der Kadima-Labour-Regierung wurde schließlich als Ausklang der bisherigen Friedensbemühungen beschrieben, die unter der neuen Regierung mit Außenminister Liberman keine realistische Perspektive mehr habe.

Betrachtet man die "friedenspolitischen Fortschritte" der vergangenen Regierung, muss man allerdings feststellen, dass wir im Nahen Osten seit der Ermordung von Premierminister Rabin keine Bewegung in Richtung Frieden und Entspannung mehr feststellen konnten.

Selbst der Abzug der israelischen Truppen aus dem Gaza-Streifen 2005 unter Sharon einschließlich der Auflösung israelischer Siedlungen hat keine Verbesserungen gebracht, eher im Gegenteil. Die ersten freien Wahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten führten zu inneren Streitigkeiten zwischen den Palästinensern, die am Ende zur Spaltung des ohnehin zerrissenen und besetzten unvollständigen Palästinas führten, zur Handlungsunfähigkeit und zur vollständigen Absperrung des Gazagebietes in einer Form, wie es sie seit den 40-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Welt nicht mehr gegeben hat.

Es ist schon bedrückend, dass ein Volk, dass Jahrhunderte lang in Ghettos eingesperrt war, keine andere Lösung für den von der Hamas im Gewaltstreich eroberten Gaza hat, als gemeinsam mit Ägypten diesen bevölkerungsreichsten Landstrich am Mittelmeer vollständig einzusperren und drei Wochen lang mit massiver Kriegsmaschine zu versuchen, die Gewaltherrschaft und Angriffe aus diesem Ghetto zu beenden, mit der Folge unzähliger ziviler Opfer und offenbar begangener neuer Kriegsverbrechen, die jetzt untersucht werden sollen.

Unter der neuen Regierung wird ebenso wie unter den alten der arabische Teil Jerusalems annektiert bleiben, die 1967 besetzten Golanhöhen sind nicht verhandelbar, die Mauer zwischen dem ehemaligen Westjordanland und Israel wird weitergebaut, wobei die genauen "Grenzziehungen" von Israel festgelegt werden, israelische Siedlungen, vor allem zur Ausweitung des Stadtgebietes von Jerusalem, werden weiter ausgebaut, arabischer Wohnbesitz in Ostjerusalem in Frage gestellt oder einfach beendet. An dieser Politik der vergangen Jahrzehnte wird sich nichts ändern. Sie wird eher beschleunigt werden.

Was wird sich ändern? Die Gefahren für den Nahen Osten und seine Menschen sind mit der neuen Regierung größer geworden. Die Erklärungen des neuen Außenministers Avigdor Liberman nach der Regierungsbildung sind eine schwere Bürde für die bisherigen Partner in der arabischen Welt, also Ägypten und Jordanien, als auch die USA und Europa. Innerhalb Palästinas bekommt die bisherige verhandlungsbereite Autonomiebehörde kein neues Angebot. Nimmt man Liberman, der 1958 in der Sowjetunion geboren wurde, 1978 nach Israel auswanderte und heute in der israelischen Siedlung "Judean Desert" im Bezirk Nokdim in der West Bank lebt, beim Wort, so kann man sich keine neuen Verhandlungen mit den Palästinensern oder mit Syrien in naher Zukunft vorstellen.

In einem Interview erklärte Liberman nach Unterzeichnung des Koalitionsabkommens, Israel solle die radikalislamische Bewegung Hamas im Gaza-Streifen entmachten und seine umfassende Kontrolle über die Grenzen der Enklave herstellen, "was der scheidenden Regierung von Ehud Olmert ungeachtet der 22-tägigen Militäroperation in der Palästinenser-Enklave nicht gelungen war".

"Die Hamas ist weiterhin fähig, unsere Städte unter Beschuss zu nehmen. Gaza bleibt nach wie vor ein iranischer Brückenkopf. Die Region erhält aus aller Welt beachtliche Finanzspritzen, die aber bei den Hamas-Anführern landen. Und wir wissen sehr gut, wie sie dieses Geld nutzen werden", sagte Liberman am 16. März. Israel solle das Hamas-Regime vernichten und den Grenzübergangspunkt Rafah unter seine Kontrolle bringen. "Die Hamas muss die weiße Flagge hissen, kapitulieren und die Waffen niederlegen ... Die Hamas hat kein Recht, die Feuereinstellung von irgendwelchen Auflagen abhängig zu machen. Israel muss die Bedingungen diktieren", sagte Liberman, der aus der Regierung Scharon austrat, weil er gegen den Abzug der israelischen Truppen war.

Wie der neue Premierminister Benjamin Netanyahu wendet sich Liberman gegen eine zu schnelle Beilegung des Konfliktes mit den Palästinensern. Er schlägt vor, das Schwergewicht im Friedensprozess vom politischen auf den sicherheitspolitischen und den ökonomischen Aspekt zu verlagern. "Was braucht denn Israel am meisten? Sicherheit. Und die Palästinenser haben ihre Wirtschaft wiederherzustellen. Darin besteht denn auch die Aufgabe der israelisch-palästinensischen Regelung: Sicherheit für Israel und Wirtschaftsaufschwung für die Palästinensische Autonomie. Erst nach der Lösung dieser Probleme wird man von einer Regelung sprechen können", betonte Liberman.

Netanyahu hat sich ebenfalls mit anti-arabischen Ausfällen im Wahlkampf hervorgetan. Eine friedliche Koexistenz von Arabern und Juden innerhalb Israels ist - auf beiden Seiten - nicht populär, soweit es eben die Vertreter der jeweiligen politischen Lager betrifft. Auch die im Westen als besonders moderat geltende ehemalige Außenministerin Tzipora ("Tzipi") Livni von Kadima hat den Arabern die Übersiedlung in einen künftigen Palästinenserstaat außerhalb Israels nahegelegt. Das betrifft immerhin 1,2 Millionen israelische Bürger.

Wie sehr das innenpolitische Klima in Israel in dieser Frage polarisiert ist, zeigt der unverhältnismäßige Polizeieinsatz gegen Veranstaltungen, die von einer Kulturinitiative der arabischen Liga ausgehen und in diesem Jahr Jerusalem als "arabische Kulturhauptstadt" feiern sollten. Von diesen Festlichkeiten ging keine wirkliche Gefahr für Israel aus. Immerhin ist unbestreitbar, dass in Jerusalem arabische Kulturstätten beheimatet sind, Schulen und Moscheen allenthalben, und niemand bestreitet ernsthaft die historische Bedeutung der Stadt für die Araber und den Islam. Diese Art "Scharmützel" sind allgegenwärtig und stehen immer auf der Kippe zu massiveren Provokationen.

Die Hoffnungen auf eine neue Dynamik unter dem neuen US-Präsidenten Obama sind nach dem Amtsantritt der neuen israelischen Regierung bei den Palästinensern weitgehend verstummt. Die in der EU laut gewordene Kritik an der neuen Regierung wird auf die Politik in der Region, wie schon in der Vergangenheit, keinen besonderen Einfluss haben. Ihre Rolle wird weiterhin darin bestehen, die palästinensische Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu finanzieren, deren Einkommen und Überleben zu sichern und mit Israel gute wirtschaftliche Beziehungen aufrecht zu erhalten.

Es besteht allerdings Hoffnung, dass die Bereitschaft für weitere militärische Auseinandersetzungen, Provokationen, Terror und Gegenterror bei den meisten Menschen in Israel und Palästina seit der zweiten Intifada erheblich abgenommen hat. Hier besteht eine Chance für mehr Frieden. Soll er erfolgreich sein, muss er vom jetzigen Status quo ausgehen, Checkpoints und bestehende israelische Siedlungen faktisch hinnehmen, die militärische Überlegenheit Israels akzeptieren, die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit anerkennen und keine Erwartungen an die arabischen Nachbarn und deren Solidaritätsbekundungen haben.

Denn dies ist ein weiterer schwerer Schlag für die geschundenen Menschen in den besetzten Gebieten: Sie können nicht einmal ihre Verwandten in Syrien oder im Libanon besuchen und erhalten Visa nur für Jordanien und Ägypten, wenn sie nicht in Gaza leben oder von dort stammen.

Wenn es irgendeinen Ort auf der Welt gibt, wo die internationale Gemeinschaft bisher total versagt hat, dann ist es bei der Überwindung des Kriegszustandes im Nahen Osten.

Es bleibt ein anderer Konflikt, der Angst macht, und zugleich die politischen Gewichte in der Region verschieben könnte - der Atomstreit mit dem Iran. Niemand glaubt ernsthaft, dass die bevorstehenden Wahlen im Juni in der islamischen Republik erhebliche politische Veränderungen mit sich bringen. Es ist auch kaum anzunehmen, dass die Atompolitik des Iran große Veränderungen erfährt. Israel jedenfalls ist mit der neuen Regierung fest entschlossen, diese Politik des Iran zu bekämpfen, auch mit militärischen Mitteln. Der sozialdemokratische Verteidigungsminister Barak, der bereits mit dem Gaza-Krieg Anfang des Jahres Wahlkampf für sich machen wollte, wird weder auf die EU noch die USA künftig viel Rücksicht nehmen. Israel kann sich sicher sein: Der Westen wird bei einem Konflikt mit dem Iran immer auf seiner Seite stehen.

Dieses Land hat nur eines wirklich zu befürchten, und das ist die eigene Unfähigkeit, Vertrauen mit den Nachbarn zu schaffen und auf die eigene Selbstzerstörung auf Dauer zu verzichten.

Wenn wir den historisch beladenen ideologischen Ballast bei Seite lassen, der die friedenspolitischen Ideen der Friedens- und Solidaritätsbewegung in der Vergangenheit bestimmt hat, und durch den ihre Wirksamkeit auch eingeschränkt war, so bleibt uns folgendes zu tun:

- Den Menschen in Israel und Palästina gemeinsam aus der Sackgasse helfen, in die sie von nationalen und internationalen politischen Führungen gebracht wurden; heraushelfen, indem wir ihre Sicherheitsinteressen ernst nehmen und uns nicht in die fortdauernde Propaganda hineinziehen lassen.

- Den Nahostkonflikt nicht länger auf ein humanitäres Problem reduzieren, sondern als Bedrohung für die Sicherheit in Europa und in Vorderasien oder weltweit verstehen.

- Die ideologische und nationalistische Medienlandschaft im Nahen Osten demilitarisieren und den Krieg der Medien beenden durch professionelleren Journalismus und unabhängigere Medien.

- Die Militarisierung stoppen, Waffen abrüsten und Sicherheit und Zusammenarbeit zwischen den Kriegsparteien in der gesamten Region herstellen.

- Den Versuch aufgeben, die Grundlagen für die Existenz Israels als Staat der Juden ändern zu wollen, sondern konkrete Schritte zur friedlichen Koexistenz zwischen den Ethnien gehen.

In Israel und Palästina sind Tausende von Initiativen der Zivilgesellschaft aktiv. Viele von ihnen sind vor allem tätig, weil Fördermittel aus den USA und der EU und ihren Mitgliedsländern fließen und Arbeitsplätze vor allem in Palästina sichern. Unter den gegebenen Bedingungen sind wirtschaftliche Entwicklungsprojekte eher Mangelware, von Investitionen ganz zu schweigen. Netanyahu hat angekündigt, hier neue Wege zu gehen, um Palästina wirtschaftlich unabhängiger zu machen. Bleibt abzuwarten, wie dies geschehen soll. Mit verschlossenen Grenzen und undurchlässigen Checkpoints ist das jedenfalls nicht zu machen.


Gerd Greune, ehemaliger DFG-VK-Bundesvorsitzender, lebt jetzt in Jerusalem.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

An einer Hauswand in West-Jerusalem: Der Krieg geht weiter


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 2 - Mai 2009, S. 22 - 23
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2009