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BERICHT/226: Über den Umgang mit einem gesellschaftlichen Tabu (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 20 - IV/2008
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Über den Umgang mit einem gesellschaftlichen Tabu
Grundsätzliche Überlegungen zu Selbstverständnis, Ziel und Methodik der KDV-Beratung

Von Michael Hofferbert


Vorbemerkung der Redaktion Forum Pazifismus:
Während Kriegsdienstverweigerung und Wehrpflicht jahrzehntelang zentrale Themen der pazifistisch-antimilitaristischen Auseinandersetzung, Bewusstseinsbildung und Politisierung waren, ist ihre Bedeutung erheblich gesunken. Aus Kriegsdienstverweigerern wurden "Zivis", die meisten KDV-Beratungsstellen haben ihre Arbeit eingestellt, die Frage der Beibehaltung oder Abschaffung der Wehrpflicht wird unabhängig von der Auseinandersetzung über Krieg und Frieden diskutiert.

Dabei liegt die Zahl der jährlich gestellten KDV-Anträge anhaltend bei weit über 100.000 (Man erinnere sich: 1958 gab es knapp zweieinhalb Tausend KDV-Anträge, 1968 fast 11.600, 1978 fast 40.000, 1988 knapp über 77.000 und vor 10 Jahren über 170.000.) ... dabei führt die Bundesrepublik Deutschland seit einem Jahrzehnt fast selbstverständlich Kriege.

Gründe genug also, sich mit diesen Fragen wieder grundsätzlich zu beschäftigen. Die Zentralstelle KDV als gemeinsame Einrichtung von 26 Organisationen hat dies auf ihrer Mitgliederversammlung im November getan.

Wir veröffentlichen dazu - auch als Diskussionsanstoß innerhalb der LeserInnenschaft - in gekürzter und redaktionell bearbeiteter Fassung den Vortrag, den Michael Hofferbert bei dieser Versammlung am 15. November in Berlin gehalten hat.

Michael Hofferbert ist Rechtsanwalt in Frankfurt am Main und seit Jahrzehnten auch in Wehrpflicht- und KDV-Verfahren tätig. Die ungekürzte Fassung seines Vortrags ist erhältlich über die Internet-Homepage der Zentralstelle KDV unter der Adresse www.zentralstelle-kdv.de/pdf/304.pdf


Das rechtliche, vor allem verfassungsrechtliche Verständnis des Rechtes der Kriegsdienstverweigerung (KDV) und dem folgend das Verhältnis von Wehr- und Zivildienst scheint weitgehend aus dem öffentlichen Blick geraten zu sein. Erst recht scheint das Verständnis dessen, worum es bei KDV, Pazifismus/Militarismus inhaltlich geht, im öffentlichen Bewusstsein bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Ich will versuchen, in groben Zügen einige der Begriffe und ihre Inhalte zu rekonstruieren, um dann daraus die gebotenen Konsequenzen im Sinne meines Themas abzuleiten.

Man muss sich zur systematischen Einordnung des Grundrechts der KDV und der einzelnen Abschnitte der Entwicklung einiges von der historischen Ausgangssituation in Erinnerung rufen, was heute weitgehend vergessen zu sein scheint, wenn von Wehrpflicht und KDV die Rede ist.


Die geschichtliche und politische Hintergrund

Die Deutschen, oder jedenfalls die ganz überwiegende Mehrheit, waren in zwei Weltkriegen auf zwiespältige Weise Täter und Opfer zugleich geworden, nämlich Opfer der Folgen ihrer eigenen ungeheuerlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nicht die Tatsache indes, dass sie Kriege begonnen hatten, was in dieser Phase der europäischen Geschichte immer noch zu den legitimen Mitteln der Politik gehörte, auch nicht, dass sie sie verloren hatten, war der eigentliche Makel. Den hatten sie sich vielmehr selbst dadurch eingebrannt, dass sie mit diesen Kriegen ein bis dahin nicht gekanntes Massenmorden, eine unbeschreibliche Form der menschenverachtenden Brutalität eingeleitet und vorformuliert hatten, die dann in gleicher oder ähnlicher Weise Maßstab der militärischen Eskalation und mithin der Gegenmaßnahmen ihrer Gegner wurde und sich gegen sie selbst richtete, sie wiederum zu Opfern machte.

Was in den Feldschlachten des Ersten Weltkrieges erstmals exzessiv und in aller obszönen Schamlosigkeit gegenüber jedem Mindestmaß an Menschlichkeit und ethischem Anstand mit geschätzten 8,7 Millionen Toten vorexerziert wurde, war im Zweiten Weltkrieg dann schon Standard, der nur noch der technischen und organisatorischen Perfektionierung bedurfte:

Die vollkommene Unterwerfung des Lebens und der Person des Einzelnen unter die militärischen Ziele, und sehr eng damit verflochten die Reduzierung des Einzelnen auf seine bloße Funktion im militärischen Apparat (und parallel dazu im faschistischen Staatsgesellschaftsapparat, die beide mehr und mehr ineinander übergingen), einem Apparat zugleich, der - wie selten zuvor in der Geschichte in solchen Dimensionen - auf Vernichtung von Menschen gerichtet war und nicht bloß auf Grenzveränderungen, Machterweiterung oder wirtschaftliche Ausbeutung - die klassischen Kriegsziele.

Damit hatte Militarismus in seiner bis dahin abscheulichsten Form zugleich sein Wesen offenbart und sein Gesicht gezeigt, das sieh tief in das Bewusstsein der Menschen und das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft eingeprägt hatte.

Die Täter, die Profiteure und Arrangeure des Krieges fühlten sich (jedenfalls nach der zweiten Niederlage) nicht lediglich als Verlierer, sondern sie waren geächtete Kriminelle, als Verbrecher gegen die Menschlichkeit gebrandmarkt. Die Nürnberger Prozesse - und das ist bei aller Heuchelei, die es auch dort gab, ihr eigentliches Verdienst - hatten erstmals den "Kriegs-Herren" ihren Nimbus als "Herren der Geschichte" genommen und sie und den Militarismus, den sie verkörperten, in ihrer ganzen Erbärmlichkeit vorgeführt.

Die Öffnung und Befreiung der Konzentrationslager mit ihren unbeschreiblichen und unsagbaren Schreckensbildern, die Berichte der Überlebenden des Naziterrors, Jahre später die Frankfurter Auschwitzprozesse - und letztlich: Die unaufgearbeitete, aber erdrückende Erinnerung in den Köpfen der vielen Kriegsteilnehmer, sei es als Täter, sei es als Opfer, über die sie nicht oder nur ganz vereinzelt zu sprechen wagten, weder öffentlich noch (wie wir heute wissen) im privaten Bereich; mit alle dem musste diese Nachkriegsgesellschaft fertig werden. Und damit tat sie sich naturgemäß schwer: Täter und Opfer waren nur schwer zu trennen, nicht nur, weil viele der Täter plötzlich Opfer gewesen sein wollten, sondern weil die eigentümliche Verstrickung in das faschistische und militaristische System vielen selbst die Kraft zur Unterscheidung von Recht und Unrecht genommen hatte.

Der erste und alles bestimmende Konsens im gesamten Nachkriegsdeutschland schien daher zunächst noch die Ablehnung jeglichen Militarismus zu sein - und der wurde auch so beim Namen genannt, sowie der Pazifismus als Gegenmodell im allgemeinen Sprachgebrauch präsent war.

Am 5. März 1946 unterzeichneten die Ministerpräsidenten der drei Länder der amerikanischen Zone (Bayern, Groß-Hessen und Württemberg-Baden) das "Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus", das formulierte, "die Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" sei eine "unerlässliche Vorbedingung für den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufbau (...) mit dem Ziel, den Einfluss nationalsozialistischer und militaristischer Haltung und Ideen auf die Dauer zu beseitigen".

Die Definition des Militarismus in Art. 8 lautete gar: "I. Militarist ist: 1. Wer das Leben des deutschen Volkes auf eine Politik der militärischen Gewalt auszurichten suchte; 2. wer für die Beherrschung fremder Völker, ihre Ausnutzung und Verschleppung eingetreten oder verantwortlich ist; 3. wer die Aufrüstung zu diesen Zwecken förderte. II. Militarist ist insbesondere, (...), 1. Wer durch Wort oder Schrift militaristische Lehren oder Programme aufstellte oder verbreitete oder außerhalb der Wehrmacht in einer Organisation aktiv tätig war, die der Förderung militaristischer Ideen diente; (...)"

Der Deutsche Bundestag lehnte bereits in seiner ersten außenpolitischen Debatte am 24. und 25. November 1949 eine erneute Aufstellung von Streitkräften ausdrücklich und mit überwältigender Mehrheit ab.

Konrad Adenauer erklärte seine Position am 4. Dezember 1949 gegenüber dpa noch so: "In der Öffentlichkeit muss ein für allemal klargestellt werden, dass ich prinzipiell gegen eine Wiederaufrüstung der Bundesrepublik Deutschland und damit auch gegen die Errichtung einer neuen deutschen Wehrmacht bin."

Adenauer, der den Schwenk zur Wiederbewaffnung längst heimlich vollzogen und den USA einen militärischen Beitrag von 500.000 Soldaten zugesagt hatte, als er diese nahezu pazifistisch klingende öffentliche Erklärung von sich gab, sprach zunächst in der dann unvermeidlich werdenden öffentlichen Debatte über die Aufstellung deutscher Truppen noch relativ offen von angestrebter "Remilitarisierung", wenn auch vornehmlich zur Vermeidung des von der Opposition verwendeten Begriffes der "Wiederbewaffnung". In einer Vortragsnotiz der "Dienststelle Blank", die zur organisatorischen, propagandistischen und ideologischen Vorbereitung militärischer Maßnahmen eingesetzt worden war(1), heißt es dazu: "Der Begriff Remilitarisierung (sei) wegen seiner Nähe zum Begriff Renazifizierung zu vermeiden." Als Alternative wurde vorgeschlagen: "Besser: Eingliederung in die europäische Abwehrfront aus Notwehr" - ein Argumentationstopos, der für die weitere alltägliche ideologische Auseinandersetzung der Pazifisten mit dem neuen Militarismus in den Folgejahren noch höchst bedeutsam werden sollte.

Die dann folgende Debatte über die "Wiederbewaffnung" hat die Bundesrepublik in den frühen 50er Jahren nachhaltig politisiert und gespalten. Von der bitteren Kriegserfahrung Belehrte und zu Pazifisten Bekehrte, Teile der Gewerkschaften, der Parteien vorwiegend, aber keineswegs nur des linken Spektrums, Teile der Kirchen, vieler Verbände, aber auch viele Einzelne, nichtorganisierte Pazifisten, Humanisten, Künstler und Intellektuelle standen mit der pazifistischen Losung "Nie wieder Krieg!" in einem heftigen und offen ausgetragenen Streit mit den Befürwortern des neuen Militarismus. Im Oktober 1950 trat Gustav Heinemann aus Protest gegen die von ihm so bezeichnete "Remilitarisierungspolitik" der Regierung als Innenminister zurück.(2)


"Brückenkopf des Widerstands"

Was bereits 1946 und noch lange vor der Wiederbewaffnung mit dem Begriff des "Gewissens" im Zusammenhang mit Krieg und Kriegsdienst in noch frischer Erinnerung an die Grauen des Krieges, im Angesicht der Barbarei eines globalen Völkerschlachtens und dessen damals alltäglich noch wahrnehmbarer Folgen in Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz (GG) erklärtermaßen als "Appell an das Gewissen", also an die ethische Verantwortlichkeit und Verantwortung jedes Einzelnen formuliert war, wurde dann allerdings mit der Entscheidung zur Wiederbewaffnung fast zwangsläufig zum verfassungsrechtlich institutionalisierten Menetekel, zum potenziellen Stachel der Erinnerung im Fleisch einer Gesellschaft, die nur schnell wieder vergessen sollte: Mit jeder Erfassung eines Wehrpflichtigen stellte sich die Frage nach der Erinnerung an die Wirklichkeit des Krieges und die Aufforderung nach persönlicher Verantwortung neu - an die Wehrpflichtigen selbst ebenso wie an deren Eltern und Familien.

Art. 4 Abs. 3 GG erwies sich so zunächst als ein Brückenkopf des Widerstandes, von dem aus die Erinnerung an das Thema und damit zugleich an das Trauma des Krieges und seine menschenverachtende Logik nicht bloß museal gepflegt, sondern in praktisches - politisches - Handeln umgesetzt werden konnte: Der Einzelne konnte sich unmittelbar wirksam der Mehrheitsentscheidung über die Widerbewaffnung unter Berufung auf sein Gewissen, also unter Berufung auf ethische Prinzipien widersetzen. Das wäre eine großartige Chance für den Pazifismus gewesen, wenn sie denn offensiv genutzt worden wäre: Eine Chance der ständigen und immer wieder aktuellen Gegenüberstellung der "Ethik einer Zivilgesellschaft" einerseits, wie sie den Grundrechtskatalog der Verfassung prägt, und der "Logik militärischer Gewalt" andererseits, die in einem unüberbrückbaren ethischen Gegensatz zueinander stehen.

Ich meine damit nicht die - jedenfalls mich - nicht sehr überzeugende Gegenüberstellung von "gewaltlosem Widerstand" einerseits und "militärischer Gewalt" andererseits, auf die viele in endlosen Debatten mit den damals noch vorhandenen Prüfungsgremien abgestellt haben, um sich am Ende sagen lassen zu müssen, sie seien eben keine Realisten.

Diese Gegenüberstellung zielt vielmehr auf den wirklich grundlegenden, geradezu paradigmatischen Unterschied zwischen ziviler Gewalt, wie sie auch im alltäglichen Leben einer Zivilgesellschaft unverzichtbar ist, mit ihrer unabdingbaren Bindung an den Maßstab der Menschenwürde und den daraus resultierenden unbedingten Anspruchs des Einzelnen auf Leben einerseits, und der - einer völlig anderen inneren Logik folgenden - spezifisch militärischen Gewalt andererseits, die von dieser Bindung befreit ist. Also nicht lediglich unterschiedliche Intensität von sonst wesensgleicher Gewalt, sondern grundsätzlich unterschiedliche Arten von Gewalt, unterschieden eben durch die Maßstäbe und Grenzen ihrer Anwendung und die ihnen damit jeweils zuwachsenden Aufgaben von Rettung oder Vernichtung.

Dieser Brückenkopf des Widerstandes wäre eine Chance für den Pazifismus gewesen, aber die blieb auch deshalb weitgehend ungenutzt, weil bei den Deutschen Republik, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit noch nicht wirklich angekommen und die Kräfte der Restauration mächtiger, geübter und schnellerwaren als die vom Faschismus dezimierten und sich erst wieder sammelnden Kräfte der Aufklärung, der Intellektuellen, der Linken, der humanistischen und der christlichen Opposition und der Gewerkschaften.

Die Täter und Profiteure des Krieges und des faschistischen Systems hatten trotz aller mit dem "Gesetz Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" verfolgter Bestrebungen ihrer "Ausschaltung aus der Teilnahme am öffentlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Volkes" schnell wieder die - zunächst wirtschaftliche - Macht inne (die an der neuen Rüstung auch wieder verdiente), aber nach einer kurzen Zwischenphase auch wieder die Macht in den Parteien, den Medien, den Schulen und Hochschulen und sonstigen Schlüsselstellen der Gesellschaft, von denen sie gerade ferngehalten werden sollten.

Was lag da näher als der Versuch, die Erinnerung an ihre Verbrechen und die Wirklichkeit des Krieges mit allen möglichen Mitteln der politischen Propaganda gezielt zu verdrängen, die Themen der Schmach ideologisch durch allerhand heuchlerische Rituale und Denkverbote zu neutralisieren - eben mit Tabus zu überdecken?!

Und das Tabu der Logik militärischer Gewalt scheint eines derjenigen zu sein, die sich bis heute am hartnäckigsten gehalten haben.

Die Methoden der ideologischen Entschärfung oder Verleugnung des ethischen Konfliktes, der sich durch die "Remilitarisierung" ergab, waren vielfältig und blieben nicht ohne Wirkung. Schon in der (von den Pazifisten dann allzu schnell übernommenen und bis heute gültigen) gesetzlichen Terminologie bei Einführung des Art. 12a GG sowie 25 des Wehrpflichtgesetzes von 1956 lag in gewisser Weise ein pejorativer Schlenker der Sprachregelung: Während Art. 4 Abs. 3 GG 1946 noch von dem Verbot spricht, jemanden zum Kriegsdienst zu zwingen, also das an den Staat und alle seine Organe gerichtete, unmittelbar wirksame Verbot ausspricht, aktiv auf jemanden zum Zwecke der Dienstleistung einzuwirken, liegt in dem Begriff des Kriegsdienstverweigerers, der dann schnell auch in der Umgangssprache gar zum Wehrdienstverweigerer mutiert ist, die geschickte Unterstellung einer Negativhaltung des Sich-Verweigerns, und das zumal noch gegenüber der doch eigentlich ganz selbstverständlich klingenden Reaktion und Pflicht des Sich-Wehrens und des Schutzes für andere.

Auch gab es allerhand Versuche der Abschleifung dieses Stachels des Pazifismus durch den Gesetzgeber selbst: Die so genannten weißen Jahrgänge und Angehörige von Opfern des Naziregimes wurden von der Einberufung verschont, wer Angehörige ersten Grades, Eltern oder Geschwister durch Kriegseinwirkungen verloren hatte, wurde nicht gegen seinen Willen einberufen, ebenso Theologen oder solche, die es werden wollten.

Aber je mehr Folgejahrgänge zur Einberufung anstanden, je mehr dann Mitte der 1960-er Jahre der Widerstand gegen das erstarrte und dysfunktional gewordene System der Restauration wuchs und je mehr der Bedarf an Soldaten stieg, um das 500.000-Soldaten-Versprechen des Remilitarisierungskanzlers zu erfüllen und den inzwischen wieder in Amt und Würden befindlichen Nazi-Generalen in neuer Uniform die erforderliche Verfügungsmasse zu verschaffen, wuchs auch die Zahl der "Verweigerer" - nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der erneut durch die Bilder und Berichte vom Krieg in Vietnam ins Bewusstsein gerufenen Wirklichkeit des Krieges.

Die Wahrnehmung des Grundrechtes aus Art. 4 Abs. 3 GG stand also (immer noch) für die ganz überwiegende Zahl derer, die davon Gebrauch machten, in einem unmittelbaren thematischen Zusammenhang mit den vergangenen Kriegen und den Folgen, die diese auf vielfältige Weise in den Familien hinterlassen hatten, also im Zusammenhang mit der Frage nach der ethischen Rechtfertigung militärischer Gewalt. Kaum eine Familie, in der nicht Angehörige im Krieg umgekommen waren oder den Krieg nur mit schwersten körperlichen oder seelischen Traumata überlebt hatten.

Was Wunder also, dass die Kräfte des Militarismus in der politisch-ideologischen Auseinandersetzung alles daran setzten, dieses Widerstandspotenzial zu brechen, es einzugrenzen, lächerlich zu machen oder zu dämonisieren, jedenfalls möglichst unschädlich zu machen?(3) Bei der Erfüllung dieses ideologischen und propagandistischen Auftrages kam den "Prüfungsausschüssen" und "Kammern für Kriegsdienstverweigerer" eine entscheidende Rolle zu, im Rückblick zeigt sich, dass eben darin ihre eigentlich Aufgabe und Funktion lag.

Die Vorsitzenden dieser Prüfungsgremien waren von der Wehrverwaltung dienstlich abhängig: Es gab für die Anerkennungen feste Quotenvorgaben, und wer zu viele Anerkennungen zuließ, hatte mit dienstlichen Sanktionen zu rechnen: Das war dann schnell das Ende der Karriere. Die Beisitzer waren von den Kommunen, genauer: dort von den politischen Parteien benannt, und nicht wenige von ihnen waren "alte Kämpfer", die die Niederlage des Faschismus nie wirklich als Befreiung verstanden hatten. Sie meldeten sich nur allzu gerne freiwillig für dieses Amt, um in den Verfahren zu zeigen, dass es doch nichts Böses gewesen sein könne, Soldat gewesen zu sein - Angriffskrieg hin oder her. Soldat sein war aber vor allem unter der neuen Sprachregelung wieder gut und edel, die das Amt Blank dereinst für den Remilitarisierungs-Kanzler entwickelt hatte: "Notwehr" - nicht Militarismus!

Wer von "Militarismus" mit Blick auf die Bundeswehr sprach, erntete nun plötzlich wieder Empörung und den Vorwurf, ideologisch verblendet zu sein und die gute Absicht der (neuen) Notwehr-Soldaten in den Schmutz zu ziehen.

So wie die in den Stadt- und Landkreisen gebildet "Spruchkammern" nach Artikel 24 des Gesetzes Nr. 104 zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus, zur "Entnazifizierung und Entmilitarisierung" führen sollten, war es der umgekehrte Auftrag der "Prüfungskammern", zur "Entpazifizierung" und Rehabilitierung des Militarismus im neuen Gewand beizutragen. Es ist bemerkenswert, wie bis in die Organisation und Terminologie hinein geradezu spiegelbildlich diese Aufgabe organisiert wurde.

Notwehr war somit bald der zentrale Topos, mit dem die Antragsteller verunsichert und demoralisiert wurden. Keine Verhandlung verging, in der nicht die übliche Falle aufgestellt wurde und nach einiger Jagd mit Salven einfältiger Fragen auch zuklappte, Fragen, deren Sinn die Fragesteller oft selbst nicht verstanden, aber deren Zweck klar und deren Wirkung erprobt war: "Was würden Sie im Falle einer auf Leben und Tod zugespitzten Notwehrsituation tun?"

Wer erklärte, er werde keine Gewalt anwenden, wurde - in der Regel zu Recht, weil das nur ganz wenige wirklich ernsthaft meinen - als unglaubwürdig abgelehnt.

Wer erklärte, er werde sich - auch mit einer Waffe - wehren, erhielt triumphierend den Vorhalt, eben dies tue doch die Bundeswehr, die alleine - wenn überhaupt, was eigentlich ganz ausgeschlossen sei - in (Staats)Notwehr eingesetzt werde.

Wer darauf nicht gefasst war und den fundamentalen ethischen Unterschied von ziviler und militärischer Gewalt nicht verstanden hatte, jedenfalls nicht formulieren konnte, sah in aller Regel nur noch zwei Züge, die das triumphierende und gänzlich demoralisierende "Schach Matt" verzögern, nicht aber wirklich verhindern konnten: Er stritt entweder verbittert darüber, woher er denn überhaupt im fraglichen Fall eine Waffe haben solle, ob denn die Bundeswehr nicht doch einmal zum Angriff blasen könne (als ob es darauf ankomme), und was es da an hilflosen Hakenschläge eines gejagten und schon angeschossenen Hasen sonst noch so gab, oder er erklärte, das alles eben gar nicht erst lernen zu wollen, oder gar nicht erst in diese komplizierte Situation kommen zu wollen. Beides jedenfalls trieb den Kandidaten ganz im Sinne der Jäger immer weiter von der ursprünglich ethisch begründeten Motivation weg.

Feste - freilich außergesetzliche! - Mindestanforderung für eine Anerkennung war zudem, dass der Antragsteller bereit sein musste, für seine demonstrierte Feigheit vor dem Feind für mindestens einen Teil seines Lebens auf Knien durch die Republik zu rutschen, indem er bußfertig "Ersatzdienst" (so hieß das damals noch und viel offener als heute) leisten werde, je anstrengender desto besser (später als "lästige Alternative" in die Diskussion eingeführt). Nur wer sich öffentlich selbst geißelte und bestrafte, war glaubhaft.
(Dieses Verständnis wirkt übrigens bis heute noch in der Umgangsweise des BAZ mit Zivildienstpflichtigen nach!)

Das rechtliche Entscheidungsprogramm des Art. 4 Abs. 3 GG spielte in den Verfahren vor den Prüfungsgremien einschließlich einer Reihe von Verwaltungsgerichten praktisch keine Rolle, wurde kaum je verstanden oder thematisiert, und es dauerte lange, bis die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) dem (z.T. sehr zögerlich und erst auf Druck des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)) Grenzen setzte.


Domestizierte Pazifisten

Langfristig entscheidend für die Schwächung der pazifistischen Bewegung waren nach meiner Beobachtung zwei Elemente:

Unter der ab Mitte der 1960-er Jahre rapide wachsenden Zahl der Antragsteller der ersten Nachkriegsgeneration (1937 ff.) gab es sehr viele, für die die Vorstellung, Soldat zu werden, eine wirkliche Katastrophe war, der Kontakt mit der Waffe im Wortsinne "unvorstellbar". Es gab nicht wenige, die aus Angst vor dieser Situation ins Ausland oder in das damals entmilitarisierte Berlin emigrierten, Haftstrafen in Kauf nahmen und solche auch wiederholt abgesessen haben, sich ganze Lebensabschnitte und Karrieren verdorben oder gar - und das war leider keine Seltenheit - aus Scham vor der Demoralisierung der Prüfungsverfahren und aus Angst vor dem Kontakt mit der Waffe sich das Leben genommen haben.

Die Verweigerung des Kriegsdienstes berührte so oder so also stets auch die Geschichte der eigenen Familie(4). Was das wirklich bedeutet, ist erst sehr viel später im Rahmen der wissenschaftlichen Erforschung und Aufarbeitung der so genannten Second-Generation-Problematik(5) ins Bewusstsein getreten: Das Trauma von Krieg, von Vernichtung, Verfolgung, Niederlage und vor allem Verlust von Menschen wirkt - wie wir heute wissen - auf spezifische Weise über Generationen hinweg nach. Krieg endet nicht mit dem Friedensschluss oder der Kapitulation. Die soziale und individuelle, innerpsychische Verarbeitung beginnt dann erst und dauert oft verdeckt und aus dem Bewusstsein verdrängt über Generationen an. Es ist für das Verständnis unseres vorliegenden Problems vielleicht hilfreich, darauf hinzuweisen, dass die jeweiligen Folgegenerationen nicht etwa in gleicher Weise und abnehmend, sondern gänzlich unterschiedlich, gleichsam zyklisch abwehrend oder offensiv auf solche kollektiven und individuellen Traumata ihrer Eltern regieren.

Beratung von Verweigerern war damals jedenfalls ganz überwiegend die Beratung "junger" Menschen (18 bis 28 oder auch 32), die sich zu einem großen Teil wirklich in innerer Not befanden: Nicht in der Not, als Soldat sofort in den Krieg ziehen zu müssen - den gab es ja damals nicht. Nein, Not vielmehr - psychologisch betrachtet - als Angst vor der Vorstellung, das lernen und positiv besetzen zu sollen, was in den Familien als kollektives Trauma Ursache und zugleich Symbol von Verlust von Angehörigen und verdrängter Schuldgefühle war.

Der Streit zwischen Prüfungskommission einerseits und Antragsteller andererseits drehte sich aber von Anbeginn und zunehmend um die (rechtlich im Rahmen des Art. 4 Abs. 3 GG völlig irrelevante) Frage, ob denn die Position des Pazifismus oder die der Rüstung und der Kriegsbereitschaft (was Militarismus schon nicht mehr genannt werden durfte) die sozusagen "objektiv richtige" sei. Der angstbesetzten Motivation der Antragsteller, die sie zugleich erpressbar machte, entsprach es dann, argumentativ schnell zu kapitulieren und einzuräumen, dass es ja nun der schlichten Vernunft entspreche, militärische Gewalt vorzuhalten, man selbst, der Pazifist und Verweigerer, aber eben psychisch oder sonst persönlich nicht stabil genug sei, sich dieser Pflicht zu stellen - also gegen die immer im Raum stehende Anklage der Feigheit und Fahnenflucht verteidigungsweise eine Art Zurechnungsunfähigkeit in Sachen Vaterlandsverteidigung geltend zu machen.

Dies freilich um den Preis, dann selbstverständlich und ungefragt Zivildienst zu leisten. Die letzte Frage zum Test auf die vollkommenen Unterwerfung unter das damit akzeptierte Primat des Militarismus lautete: "Haben Sie sich denn schon um eine Zivildienststelle gekümmert?" Wer dann nichts vorzuweisen hatte, stand im bösen und die Anerkennung gefährdenden Verdacht der Insubordination. Wer gar sagte, er wolle dem Zivildienst - wenn rechtlich möglich - lieber entgehen, stand schon bald auf dem Kasernenhof, wenn er nicht tatsächlich zuvor die Flucht ergriff.

So erlebten viele ihre Verweigerung, die doch eigentlich Widerstand war oder hätte sein können, noch als Kapitulation vor der scheinbaren Macht der überkommenen Vorstellung, dass Krieg männlich und stark und rational sei und nicht etwa kulturelle Kapitulation und Rückfall in die Barbarei: Gleichsam als mentale und argumentative Wiederholung der Kapitulation der Elterngeneration vor den Folgen der eigenen Kriegsverbrechen. Anstatt ethische Grundsätze gegen den Militarismus aufzurufen, akzeptierten zunehmend immer mehr Verweigerer ausgesprochen oder unausgesprochen, dass sie ja nun eigentlich wegen ihrer Verweigerung ein schlechtes Gewissen haben müssten, für das es sich zu entschuldigen gelte - und nicht umgekehrt.

Im öffentlichen Bewusstsein wurde so diese Position der vollkommenen und offenkundig realitätsfernen Gewaltlosigkeit dann zunehmend mit Pazifismus und dem Gewissensbegriff gleichgesetzt - als ob es eigentlich keine wirklich tragfähige und mit klarem Verstand vertretbare Begründung der Verweigerung des Kriegsdienstes und des Pazifismus gebe.

Tatsächlich hätten ja diese "Prüfungs"verfahren - bei aller Problematik, die ihnen mit ihrer Aufgabe eigen war, unter dem Vorwand der Gewissensprüfung Pazifisten zu demoralisieren - ein Bumerang für den Militarismus, nämlich ein Ort permanenter Erinnerung an die Wirklichkeit des Krieges und damit ein Ort der öffentlichen ethischen Skandalisierung des Militarismus gerade auch für die nachwachsenden Generationen sein können. Denn nichts ist dem Militarismus so gefährlich, nichts entlarvt ihn gerade in der Form der "Notwehr-Soldaten" so sehr, wie eben diese Erinnerung an die Wirklichkeit des Krieges.

Dennoch wurde nach meiner Beobachtung diese defensive Haltung ("Militär muss ja sein, aber ich kann's halt nicht!") den Antragstellern schon bald zunehmend auch von vielen Beratern nahegelegt - sei es, dass diese wohl überwiegend selbst keine andere Vorstellung hegten und bereits selbst kapituliert hatten, sei es, dass sie den Aufwand einer umfassenden ethischen Durchdringung des Themas für nicht leistbar hielten.

Jedenfalls wurde die Kapitulationserklärung von den Prüfungsgremien bereitwillig akzeptiert, ja geradezu abgefordert, wiewohl diese Position - und das ist sehr bemerkenswert - nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes einer Anerkennung einer Gewissensentscheidung im Sinne Von Art. 4 Abs. 3 GG eigentlich zwingend entgegensteht. Denn nach dieser Rechtsprechung kann nur anerkannt werden, wer urteilt: "Militär und Krieg dürfen nach meiner ethischen Überzeugung nicht sein, und eben deshalb: Ich nicht!"

Das zweite für die Schwächung der pazifistischen Bewegung entscheidende Element bestand in der öffentlichen Selbstdarstellung der Bundeswehr:

Diese Selbstdarstellung - eigentlich: die Lebenslüge der Bundeswehr - bestand ja schon alsbald nach Ihrer Gründung in der Beteuerung der bloßen Notwehr, mithin der reinen Verteidigung bedrohter Menschen, und sodann ab Ende der 1960-er Jahre in Fortsetzung dieser Argumentation durch die Behauptung: Alleine die bloße Existenz der Streitkräfte sichere dauerhaft den Frieden. Abschreckung wurde als verlässliches Mittel behauptet, niemals mehr Krieg führen zu müssen. Und das schien ja auch zu funktionieren. Die Bundeswehr präsentierte sich dann öffentlich zunehmend als Mischung aus Berufsbildungseinrichtung und Sportverein mit dem perfiden, weil vom eigentlichen Problem gezielt ablenkenden Slogan: "Wir schaffen Sicherheit - in Berufen voller Zukunft!"

Wer sich nun aber auf die Position einließ, dass ja Militär notwendig sei, er selbst aber dessen Anwendung aus persönlicher Schwäche nicht leisten könne, befand sich vollends in der Falle - und das eben nicht nur in dem Anerkennungsverfahren. Auch die politische Diskussion außerhalb dieser Verfahren führte letztendlich zu der weit verbreiteten Einschätzung in der Gesellschaft, Pazifisten seien diese "Gewaltlosen" - oder genauer gesagt: Gewaltunfähigen -, die eben lieber alte Leute pflegen, weil sie ein Gewehr nicht halten können, und denen man besser einen Bodyguard oder Vormund an die Seite stellen sollte, wenn sie durchs Leben gehen.

Nach dieser zum Großteil selbstverursachten Niederlage der Pazifisten in der ethischen - oder wenn man so will: im ursprünglichen Wortsinn ideologischen - Auseinandersetzung mit dem Militarismus haben sich Kriegsdienstverweigerer (und ihre Verbände?) zunehmend und dann überwiegend darauf konzentriert, den Nachweis zu erbringen, dass ihr "Zivil"-Dienst doch ebenfalls sozial wertvoll sei.(6)

Das ging und geht so weit, den Zivildienst jedenfalls im Bewusstsein der Öffentlichkeit als eigenständigen Dienst neben dem Wehrdienst zu etablieren und damit erneut das pazifistische Widerstandsmoment der Verweigerung zu verleugnen und zu verdrängen:

Soldat und Pazifist sozusagen traulich vereint auf einem Bild, der eine mit dem G3 und der andere mit der Schnabeltasse in der Hand, aber allemal bereit, sich kurzfristig auch mal zu vertreten. Zwei verschiedene Jobs eben.

Pazifisten und Militaristen haben ihren Frieden geschlossen, die Pazifisten sind domestiziert.

Man hat sich auf ein Stillhalteabkommen geeinigt, die Militaristen nicht mehr mit ihrem erbittertsten Feind und ihrer größten Gefahr zu konfrontieren: Der Wirklichkeit des Krieges und der Frage: "Wie haltet ihr es mit der Ethik der Zivilgesellschaft?".

Das Tabu um die militärische Gewalt war damit jedenfalls wieder weitgehend intakt. Lediglich die Bausteine und Etiketten waren ausgetauscht: Wo ursprünglich emotionale Momente wie der perfide Mythos der Heldenhaftigkeit, imperiale Machtgelüste und Rassismus die mentale Klammer bildeten, wurden jetzt eher rational klingende Momente wie Abschreckung und Verteidigung von Menschenleben, Demokratie und Freiheit geltend gemacht, um die Erinnerung an und Diskussion über die Wirklichkeit des Krieges im Keim zu ersticken.

Die gesellschaftliche Diskussion über Militarismus und Pazifismus, die - wie immer einer sich dann auch entscheidet - ja mit jeder Erfassung eines Wehrpflichtigen eigentlich neuen Brennstoff bekommen sollte, ist heute von wenigen kleinen Nischen abgesehen faktisch beendet.

Die babylonische Sprach- und Begriffsverwirrung war und ist total: Die Partei, die sich in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik den Pazifismus ausdrücklich wieder auf die Fahnen und ins Parteiprogramm geschrieben hatte(7), hat ohne besonderes öffentliches Aufmerken mehrere, als Verweigerer anerkannte Minister sowie einen Vizekanzler gestellt, die die Bundesrepublik ohne nennenswerten Widerstand der Öffentlichkeit in den ersten offenen Kriegseinsatz ihrer Geschichte geführt haben. So erklärte die Grünen-Abgeordnete Marieluise Beck im März 2008 dem "Spiegel" auf die Frage nach der Zustimmung einer pazifistischen Partei zum Kriegseinsatz im Kosovo: "Wir haben uns nie als pazifistische Partei definiert. (...) Aber die Frage, wie wir gefährdete Menschen schützen, die haben wir zu der Zeit noch nicht diskutiert." - was vermutlich stimmt, weil sonst nicht die Vorstellung geblieben sein könnte, Pazifisten ließen gefährdete Menschen grundsätzlich im Stich und ohne Schutz, weil sie doch nur mit Schnabeltassen umgehen können.

Bereits 1979 hat ein Verteidigungsminister der SPD (wie dann fast regelmäßig alle seine Nachfolger) sich strahlend zum "ersten Pazifisten des Landes" erklärt, ohne dass landesweit Empörung oder mindestens höhnisches Gelächter ausgebrochen wäre. (Einer der Nachfolger war gar Generalsekretär der Nato, zu der der "Tagespiegel" vom 23.1.2008 berichtete: "Fünf ehemalige Nato-Kommandeure haben die Allianz aufgefordert, ein Konzept für einen atomaren Erstschlag zu entwickeln und entsprechende Entscheidungsmechanismen aufzubauen.")

Der amtierende Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages gar ist anerkannter Kriegsdienstverweigerer - also einer, der bei Beachtung der noch immer geltenden Rechtsprechung die Anwendung militärischer Gewalt für "ethisch zutiefst verwerflich" halten oder eben heute auf seine Anerkennung verzichten müsste, was er nicht tut. In seinem Lebenslauf heißt es dazu nur knapp "1975 bis 1976 Zivildienst", so als ob er eben mal irgendwo ein Praktikum absolviert und nicht zuvor ein Anerkennungsverfahren durchlaufen hätte. Wie man hört, hat er lediglich erklärt, heute würde er nicht mehr verweigern (man wüsste nur zu gerne: Warum? Und warum früher?). Aber an der Öffentlichkeit geht das vorbei, wie die Wetternachrichten von vorgestern.

Die überwiegende Zahl der Wehrpflichtigen weiß inzwischen nicht einmal, dass man, um - wie das sprachverstümmelt heißt - "Zivi" zu werden, zunächst den Kriegsdienst verweigern muss. Was das mit Gewissen oder auch nur ethischen Grundüberzeugungen zu tun haben soll, ist für viele oft kaum nachvollziehbar.

Manche erklären, sie seien "Totalverweigerer" und meinen damit, dass sie - wenn's denn geht - lieber ganz um den Dienst herumkommen möchten, aber wenn's denn sein muss, auch Panzertruppe. Von der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs "Totalverweigerer", von dem Mut und dem Schicksal derer, sie sich ihm verpflichtet gefühlt haben, haben sie nie etwas gehört. In der Schule nicht, in der Kirche nicht, zuhause nicht - nirgendwo.

Nicht wenige überlegen, ob sie lieber Fallschirmspringer bzw. Gebirgsjäger mit ordentlicher Waffenausbildung werden oder "Zivi machen". Manche probieren Skifahren bei den Gebirgsjägern erst einmal aus, und wenn es ihnen dann wegen des Dienstbeginns nachts um 5 Uhr missfällt, steigen sie auf "Zivi" um und werden dann gelegentlich gar vom "Spieß" ihrer Einheit fürsorglich beraten, woher sie aus dem Internet die für die Begründung erforderlichen Texte beziehen können, weil der sich auch für einen Pazifisten hält. Viele, die in der Beratung auf die beiden Arten der Erfüllung der Wehrpflicht angesprochen werden, machen die Wahl davon abhängig, ob Zivildienst noch immer länger dauere als Wehrdienst, und würden ggf. ganz pragmatisch die zeitsparende Variante wählen. Die sich so nennenden "Zivis" sitzen in der Pause an der Spielkonsole und laden sich Kriegsspiele herunter, ohne dass dies auch nur im Ansatz als Widerspruch zu ihrer Verweigerung des Kriegsdienstes empfunden würde. Die Wahl zwischen Wehr- und Zivildienst ist für viele eine Wahl geworden wie zwischen Theater oder Kino, Weißwurst oder Döner, je nach Laune und Geschmack, je nach dem, was die nächsten Freunde machen oder wo grade die Freundin wohnt etc. - und dies alles, obwohl die Gefahr von Kriegen von Jahr zu Jahr größer wird und sich die Bundeswehr faktisch und immer tiefer im Krieg befindet, ja die Diskussion aktuell ist, sie auch im Innern einzusetzen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich werfe mit solcher Pointierung den jungen Bürgern, die vor diese Wahl gestellt werden und sie so treffen, nicht etwa Oberflächlichkeit oder gar mangelnde ethische oder intellektuelle Reflexionsfähigkeit vor (zumal ja die selbstbewusste Wahrnehmung der Freiheit vom Wehrdienst allemal legitim und - wie ich noch zeigen werde - im besten Sinne legal ist). Denn es zeigt sich, dass sie dann, wenn sie sich mit dem Thema intensiver auseinandersetzen müssen oder qualifiziert dazu angeregt und die Tabus aufgebrochen werden, durchaus in der Lage und bereit sind, sich auch ethisch klar zu positionieren. Häufig sind sie dann ganz erstaunt, dass es dieses Thema überhaupt gibt.


Internet-Textbausteine anstatt politischer Auseinandersetzung

Das zunächst ins Auge springende weitgehende Desinteresse und die mangelnde Informiertheit über eine der Grundfragen einer Gesellschaft - nämlich ob sie bereit ist, in bestimmten Fällen zu der Barbarei des Krieges zurückzukehren und zu militärischer Logik und militärischer Gewalt zu greifen - ist vielmehr Ergebnis jener erfolgreichen, tiefgreifenden Tabuisierung und Verleugnung dieses Themas, zu allererst bei Eltern und Lehrern aus der Generation, die mit ihren Pazifismusversuchen so nachhaltig gedemütigt wurden, dass sie daran nicht mehr denken, ja daran nicht mehr erinnert werden möchten. Tabuisierung aber auch z.B. bei den Kirchen und Gewerkschaften etc., die es früher durchaus als ihre Pflicht angesehen haben, sich zu diesem Thema klar und offen zu positionieren.

Und die Pazifisten selbst haben längst ihren Frieden gemacht mit denjenigen, die sie früher als "Militaristen" bezeichnet und zur Diskussion und Rechtfertigung herausgefordert haben. Ihr eigenes Thema haben sie um den Preis der sozialen Anerkennung klammheimlich beerdigt: Sie leisten ja schließlich Zivildienst.

Durch diese erstaunliche Entwicklung war auch sukzessive ohne Gefahr des Widerauflebens der Militarismus/Pazifismus-Diskussion der Weg frei für allerhand Gesetzesänderungen, die - wiewohl im Ergebnis wünschenswert - aber auch dazu beigetragen haben, die notwendige Aufmerksamkeit von diesem Bereich abzulenken: Die Prüfungsverfahren wurden angesichts des Wegfalls jeder Diskussion über ethische Fragen des Militärs ideologisch überflüssig und abgeschafft. Pazifisten stellen keine Gefahr für den Militarismus mehr dar, und selbst die Begriffe Militarismus/Pazifismus sind aus der öffentlichen Debatte praktisch verschwunden.

Die als verfassungsrechtlich unzulässig angesehene - und abschätzig als "Postkartenverfahren" apostrophierte - einfache Erklärung, dass man von seinem Grundrecht aus Gewissengründen Gebrauch mache, ist durch eine entsprechende Mitteilung per Weltpostkarte gewichen mit 5 bis 10 standardisierten und im Internet abrufbaren Textbausteinen, dass man doch ein netter Mensch sei, Gewalt nie erlebt habe, anderen lieber helfen wolle, als auf einem Kasernenhof langweiligen Dienst zu schieben, und im Übrigen schon gar nicht dienen wolle, solange nicht auch die Frauen etc. Die anstelle der Gewissensprüfung zunächst eingeführte Verlängerung des Zivildienstes ist wieder abgeschafft.

Die Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissengründen ist faktisch zum Wahlrecht geworden - wiewohl nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich unzulässig.(8) Geblieben ist lediglich ein absurd schematisierter und rechtsstaatlichen Ansprüchen Hohn sprechender Prüfdienst des BAZ, der wie ein zur bloßen Attrappe gewordener Gesslerhut noch immer formale - wenn auch wortkarge - Verbeugung vor dem Primat des Militarismus fordert.

KDV wurde - und auch dazu haben wohl allerhand Kampagnen der Verbände willentlich oder unwillentlich beigetragen - gleichsam zum bloßen Rechtsbehelf gegen die Einberufung für jedermann, ohne dass damit auch nur die geringste ethische oder politische Positionierung verbunden sein müsste. Aber mehr noch: Der Militarismus, also die Bereitschaft, Krieg zu führen oder sich jedenfalls darauf vorzubereiten, ist auch von der letzten ethischen Infragestellung befreit, die letzten Reibungsflächen sind beseitigt.

Es bleibt dann mangels Masse nur noch die - wie ich meine: eigentlich ziemlich hilflose - Frage, ob denn die Wehrpflicht nicht abgeschafft werden soll, so als ob sich damit die, ja nun wahrhaftig nicht an der Wehrpflicht hängende, ethische Fragestellung nach der sittlichen Rechtfertigung militärischer Gewalt erledigen würde.

Anstatt die nachwachsenden Generationen bewusst und offensiv mit dem Thema militärischer Gewalt, deren großflächige und globale Anwendung immer wahrscheinlicher wird, zu konfrontieren - und das bedeutet freilich auch: mit der von den Grünen "damals nicht diskutierten" Frage, "wie wir gefährdete Menschen schützen"! - und sie zur ethischen Positionierung anzuhalten, wird ihnen mit solchen Forderungen nach Abschaffung der Wehrpflicht der Eindruck vermittelt, das Ganze sei in Wirklichkeit ein Problem einer verfehlter militärpolitischen oder organisatorischen Konzeption, das durch einen Federstrich des Gesetzgebers zu beheben sei.


Was kann "Beratung von Verweigerern" heute noch sein?

Versteht man diese Frage im engeren Sinn, nämlich der Beratung derer, die den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigern müssen oder wollen, dann erinnert mich das an mein erstes, 1973 in der damals noch jungen (und 2004 eingestellten) "antimilitarismus information" veröffentlichtes Papier zu diesem Thema, also an eine Zeit, als sich noch lange vor der Politisierung durch die Nachrüstungsdebatte eine ähnliche allgemeine Resignation vor dem Primat des Militarismus abzeichnete, die es notwendig machte, grundsätzlich neu über Beratung nachzudenken.

Gegen die entwürdigende Praxis der Anerkennungsverfahren und gegen diese zunehmende Tabuisierung militärischer Gewalt galt es damals, Widerstand zu entwickeln und denjenigen, die diesen Verfahren ausgesetzt waren, die Kraft zu geben, mit gradem Rücken und erhobenen Hauptes die Prüfungsprozedur offensiv anzugehen und erfolgreich durchzustehen.

So waren der Tenor und der Grundsatz unserer damaligen
Beratungspraxis:

Weg von der falschen, weil defensiven Strategie, auf einfältige Fragen von Prüfungsausschüssen ebenso einfältige Antworten auswendig zu lernen, um vor den wirklichen - ja wahrhaft komplexen und schwierigen - Problemen davonzulaufen; - hin zu einer offensiven und intellektuell redlichen Auseinandersetzung mit den Themen Gewalt/Verteidigung/Krieg/Frieden/Militarismus/Pazifismus etc.

Weg von der bloßen Fixierung auf die Prüfungsverfahren und der alles überdeckenden Überlegung, wie man dem Wehrdienst entgehen kann; hin zu einer offensiven aber fairen, weil offenen und konstruktiven Auseinandersetzungen mit denen, die militärische Gewalt für vertretbar halten, hin zu einer Ebene der Reflexion, auf der sich Pazifismus auch als politische und ethische Position verantwortlich formulieren lässt.

Kern und Ziel der so konzipierten Beratung war es also von Anbeginn:

1. Den Betroffenen die Demoralisierung eines derartigen Verfahrens zu ersparen und ihnen das Bewusstsein und die Sicherheit zu geben, dass sie sich für ihre Entscheidung gegen den Kriegsdienst nicht entschuldigen müssen, nicht Angeklagte, sondern Ankläger oder mindestens doch selbstbewusste Fragesteller, nicht Geprüfte sondern Prüfer nach den Maßstäben der alltäglichen Ethik sein können, indem sie die Gesellschaft mit ihren eigenen ethischen Normen beim Wort nehmen, anstatt sich mit heuchlerischen Begriffsverdrehungen und durchsichtiger Rabulistik in den Verfahren vorführen und wie die hilflosen Hasen jagen zu lassen.

2. Wer den Kriegsdienst verweigert, hat es nicht nötig, sich dafür zu entschuldigen und hinter einer als Monstranz vor sich hergetragenen Bereitschaft zum Zivildienst zu verstecken oder sich damit präventiv zu entschulden.

3. Wer den Kriegsdienst verweigert, soll den Mut und die Fähigkeit erwerben, offener, ernsthafter und mit mehr Kompetenz über militärische Gewalt zu reflektieren und zu reden, als diejenigen, die militärische Gewalt anwenden und sie eben deshalb tabuisieren müssen, um nicht darüber - im Wortsinn - "verrückt" zu werden.

4. Wer den Kriegsdienst verweigert, soll weit über das bloße Verfahren der Anerkennung hinaus die Bereitschaft einer Gesellschaft zu militärischer Gewalt thematisieren und problematisieren.

Diese Art der Beratung bestand folglich zu allererst in einer wirklich vielfältigen und spannenden, offenen Diskussion mit den Betroffenen, die sich zunächst einmal gänzlich von der rein verfahrenstaktischen und daher angstbesetzten Frage gelöst hat, wie man am reibungslosesten das Prüfungsverfahren übersteht.

Was in diesen Diskussionen interessierte, war:

Gibt es eine ethische Rechtfertigung von Krieg, und was sind deren Grundannahmen? Und spiegelbildlich dazu und fast noch wichtiger:

Gibt es eine ethische Rechtfertigung des Pazifismus und der Verweigerung militärischer Gewalt jenseits der allzu einfachen Feststellung, dass Krieg eben hässlich und brutal ist und doch allemal durch Diplomatie ersetzbar sei?

Wie realistisch ist und was bedeutet Pazifismus in einer durchmilitarisierten Welt?

Was sind die gesellschaftlichen und politischen - auch ökonomischen - Rahmenbedingungen von Rüstung und Militarismus?

Vor allem: Wie sieht die Wirklichkeit des Krieges aus?

Was sind die Charakteristika von Militär, militärischer Logik und militärischer Gewalt und wie läuft militärisches Handeln im Detail ab?

Wie werden Menschen individuell und gesellschaftlich mit Krieg fertig, und wie kommt es, dass Menschen im Krieg scheinbar zu Handlungen fähig sind, die sie im Zivilleben nie begehen würden?

Wie und mit welchen Mitteln und bis zu welchem Punkt ist es möglich, Menschen so von der über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende kulturell erworbenen (manche behaupten sogar: naturhaft vorgegebenen) Alltagsethik abzubringen, dass sie in der Lage sind, sich an der Barbarei eines Krieges aktiv zu beteiligen?

Geht es eigentlich um "Gewaltlosigkeit" oder geht es um "Gewalt gegen Menschen" und ggf. um welche Art von Gewalt?

Wie und wodurch unterscheidet sich eine Zivilgesellschaft von einer kriegsbereiten Gesellschaft oder einer Gesellschaft im Krieg?

Aus alledem hat sich alsbald ein sehr konkretes Bild dessen entwickelt, was man als "Ethik einer Zivilgesellschaft" einerseits und "Logik militärischer Gewalt" andererseits bezeichnen kann und was in einem unüberbrückbaren ethischen Gegensatz zueinander steht: Jenen beiden grundsätzlich unterschiedlichen Arten von Gewalt, die ich eingangs angesprochen hatte und die an dieser Stelle in einigen Aspekten noch einmal etwas näher beleuchtet werden sollen.


Die Gewaltfrage richtig stellen

Während sich zivile Gewalt einerseits - auch und gerade solche gegen Menschen, um die es ja hier geht - unter der Geltung der zivilen Ethik, die den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes ebenso bestimmt wie den Kanon der Menschenrechte, in jeder Phase und jedem Moment des Handelns ausnahmslos an dem einzelnen Menschen oder auch den vielen einzelnen Menschen und deren unbedingtem individuellem Recht auf Leben zu orientieren hat, orientiert sich militärische Gewalt (im besten Fall: zunächst) an "den Vielen". Die aber sind auch dann gerettet/erhalten, wenn nur ein Teil davon fortbesteht. Der Blick militärischer Gewalt ist stets alleine auf das einmal festgelegte Ziel gerichtet, dessen möglichst effiziente Erreichung dann absolute Priorität vor allen anderen Gesichtspunkten und Maßstäben hat.

Alles, was und vor allem jeder, der der Erreichung des Ziels im Wege steht, muss und darf unter Verweis auf die übergeordnete Bedeutung des Ziels beseitigt werden - unabhängig davon, ob von diesem Hindernis eine konkrete Gefahr für das (angebliche oder vermeintliche) Schutzgut ausgeht, dessen Erhaltung die Anwendung von Gewalt eben erst rechtfertigen soll. Dabei ist die Beseitigung keineswegs immer auf die Tötung gerichtet. Ob die Tötung erfolgt oder nicht, ist häufig vielmehr einfach gleichgültig und Zufall. Ob einer oder Tausende mehr oder weniger umgekommen sind, erfährt selbst der Akteur oder Planer in der Regel erst später.

Während bei ziviler Gewalt gegen Menschen mit der Option des Tötens, die nur zur Rettung eines konkret bedrohten Lebens überhaupt in Betracht kommt, das Ziel und die Mittel, die zu seiner Erreichung eingesetzt werden sollen, stets in einem unmittelbaren Zusammenhang und in einer kontinuierlichen und unauflösbaren Abhängigkeit voneinander stehen und sich wechselseitig bedingen und legitimieren, wird bei militärischer Gewalt diese Verbindung aufgelöst. Sie ermöglicht so selbst die massenhafte, jedenfalls pauschale Vernichtung von Menschenleben und rechtfertigt diese an dem Ziel, das - vermeintlich oder wirklich - als richtig und gut erkannt worden ist, für das indes das Leben der Einzelnen im konkreten Handeln keine Bedeutung mehr hat.

Indem jedoch das Lebensrecht des Einzelnen oder der vielen Einzelnen seine alleine Maßstabsbildende Bedeutung für das Ob und die Grenzen der Gewaltanwendung verliert, die enge Relation zwischen Schutzgut und Mittel also aufgelöst wird, wächst der Gewalt zugleich eine andere Aufgabe zu: Während zivile Gewalt - auch und gerade solche gegen Menschen - in jeder Phase alleine der Rettung (selbst noch des Störers/Angreifers) dient oder dienen darf, erwächst der von dieser Bindung losgelösten militärischen Gewalt die Aufgabe der Vernichtung all dessen zu, was die Zielerreichung auch nur verzögern oder sonst irgendwie in Frage stellen könnte.

Das wird u.a. auch daran deutlich, dass die Logik militärischer Gewalt selbst noch die Vernichtung des Lebens der eigenen Soldaten, der eigenen Bevölkerung oder sonst unbeteiligter Dritter einkalkuliert und eben in Kauf nimmt.(9) Letztendlich aber wird die Vernichtung des Gegners dann zum eigentlich und alles bestimmenden Element militärischer Aktionen.

Selbst Massaker wie das von My Lai(10), das seinerzeit eine ganze Generation erschütterte, sind so gesehen nicht Exzesse, nicht "Kriegs-Verbrechen" im Sinne einer Überschreitung der Regeln militärischer Gewalt, sondern nur die schlussendliche Konsequenz aus der Lossagung von den ethischen Maßstäben der Zivilgesellschaft, von der Orientierung am Lebensanspruch des Einzelnen oder der vielen Einzelnen, mithin also reguläre Bestandteile oder mindestens typische Begleiterscheinungen des "Verbrechens Krieg".

Denn worin soll auch - ethisch, aber auch praktisch, d.h. aus der Perspektive der Opfer - der Unterschied bestehen zu einem Flächenbombardement wie das der auf Guernica (1.654 Tote und 889 Verwundete)(11), Wielun (1.200 Tote)(12), Frampol, Covenrty (554 Tote), Warschau, oder Rotterdam durch die Deutschen(13), auf Hamburg ("Operation Gomorrha" 34.000 Tote und 125.000 Verletzte(14)), Dresden (18.000 bis 25.000 Tote), Kassel (10.000 Tote), Darmstadt (12.300 Tote, 70.000 Obdachlose), Pforzheim (20.277 Tote) durch die Alliierten oder auf Hanoi(15) durch die USA, der Bombardierung von Hiroshima(16) (140.000 Tote) und Nagasaki (250.000 Tote einschließlich der Langzeitfolgen), die als - zwar völkerrechtlich umstrittene, aber nichts desto weniger praktisch reguläre - Kriegseinsätze gelten, zugleich aber noch weit hinter dem zurückbleiben, was mit der Vernichtungskapazität der heute zur Verfügung stehenden Waffensystem anzurichten wäre?

Mit der "Area Bombing Directive" des Britischen Luftfahrministeriums vom 14. Februar 1942 z.B. wurde eine nach Priorität sortierte Zielliste aller deutschen Städte zuerst mit über 100.000 Einwohnern, später auch alle über 15.000 Einwohnern, aufgestellt, nach der das britische "Bomber Command" seine Ziele ausgewählte und die auch das flexible Ausweichen wegen ungünstiger Wetterbedingungen (Lübeck 28./29.3.1942: 320 Tote, weil Hamburg wegen starker Wolkenbildung nicht erreichbar war) etc. ermöglichte. So verloren z.B. im Mai 1945 6.400 Häftlinge des KZ Neuengamme durch die britische Zufalls-Bombardierung der "Cap Ascona" und der "Thielbek", auf die sie verlegt worden waren, ihr Leben - klassische Kolateralschäden eben.

Das "moral bombing" auf die Zivilbevölkerung, insbesondere die Industriearbeiterschaft, sollte deren Moral brechen und ihren Widerstandswillen schwächen. Die Bomben auf Dresden, das keinerlei militärische Bedeutung hatte, sollte die Lufthoheit der Alliierten demonstrieren und die Kapitulation beschleunigen - klassisch militärisches Kalkül also, das man sonst als Terror zu bezeichnen gewohnt ist. Ob jemand getroffen wird oder entkommt, Leben also ausgelöscht wird oder nicht, ist alleine Zufall.

Die Beliebigkeit der Wahl der strategischen und taktischen Ziele und Mittel und deren Abkoppelung von der Grundentscheidung, ob und zu welchem Zweck, also mit welcher Rechtfertigung Gewalt eingesetzt wird, ist im Hinblick auf die oben bereits angesprochene Übertragung des Notwehrmusters auf die militärische Situation höchst aufschlussreich: Mit diesem verdeckten Austausch der "Schutzgüter" und Maßstäbe wird nämlich zugleich die ursprüngliche, aus der Notwehrlage hergeleitete Rechtfertigung, es gehe der militärischen Verteidigung doch um den Schutz der zu verteidigenden (vielen einzelnen) Bürger des Landes und deren Leben, das durch feindlichen Angriff bedroht sei, aufgegeben und erweist sich nur noch als bloßer Vorwand, der die eigentliche Absicht verdecken soll. Die Entscheidung, Krieg zu führen, verselbständigt sich also vollständig gegenüber ihrer Rechtfertigung. Dem folgend verselbständigt sich auch vollständig die Wahl der Mittel: Strategie und Taktik sind - wie es in militärischen Ausbildungs- und Dienstvorschriften heißt - "auf Täuschung und Vernichtung des Feindes" gerichtet, nicht notwendig aus Sadismus (der subjektiv bei solchen Eruptionen von Aggressivität immer auch ein erheblich Rolle spielt), sondern weil eben diese Vernichtung einen Wert an sich hat: Den Feind zu schwächen.

Zivile und militärische Gewalt unterscheiden sich also - um es zu wiederholen - nicht lediglich durch unterschiedliche Intensität von sonst wesensgleicher Gewalt, sondern sind grundsätzlich unterschiedliche Arten von Gewalt, unterschieden durch die Maßstäbe und Grenzen ihrer Anwendung und die ihnen damit jeweils zuwachsenden Aufgaben von Rettung oder Vernichtung. Diese unterschiedlichen äußeren Formen und Aufgaben von Gewalt verlangen aber auch von denen, die sie anwenden, eine grundsätzlich unterschiedliche innere Einstellung. Während zivile Gewalt auf das Funktionieren der natürlichen Tötungshemmung gegenüber dem "Artgenossen" gerade dann zur Wahrung der Regeln der zivilen Ethik angewiesen ist, wenn sich die Tötung aus Gründen der Rettung des anderen Einzelnen oder auch der vielen anderen Einzelnen als unausweichlich erweist, setzt das reibungslose Funktionieren militärischer Gewalt den systematischen Abbau dieser Hemmung geradezu voraus.

Unübertrefflich klar - und zynisch - hat das der Verfasser mehrerer Lehrbücher zur Miltärmedizin, der Generalarzt der Bundeswehr Prof. Rodenwald, schon sehr früh und unverändert gültig wie folgt formuliert, wenn er das Ziel soldatischer Ausbildung beschreibt:

"Die Ausschaltung des individuellen Haltungs- und Bewegungstypus zugunsten eines Massentypus, die Drosselung der Motorik hat den Sinn, eine beruhigte, für den Befehl und dadurch für ein einheitliches Handeln empfängliche Grundhaltung zu erzeugen, und mit der einheitlichen äußeren Haltung auch eine Vereinheitlichung der innerlichen Verfassung der zu schulenden Menschengruppen zu erreichen. Mit dem Abstellen der Individuellen Typologie wird zugleich ein wesentlicher Störfaktor ausgeschaltet, der seelische Untergründe haben könnte, Äußerungen der Unlust, des Widerwillens, des Trotzes, sei es auch nur durch die Andeutung einer Gebärde. Auch der Typus der Temperamente muss einem Gleichmaß unterworfen werden (...) Das Ziel ist eine physio-psychische Uniformierung, die mehrere oder selbst viele Personen als ein einheitlich handelndes Subjekt erscheinen lässt und ein einheitliches Handeln zu erreichen versucht (...) Dem militärischen Stillstehen ist ein wesentlicher Bewusstseinsinhalt zugeordnet, der hohe Grade an Aktivitätsbereitschaft in sich schließt, die bedingungslose Bereitschaft, den zu erwartenden Befehl zu befolgen. Mit dieser auf ein bestimmtes Handeln gerichteten Bereitschaft, die befohlen ist, sind individuelle Ausdrucksbewegungen unvereinbar, das "Hurra" ausgenommen, dem der Charakter einer repräsentativen Gebärde zukommt ..."

Derart "vereinheitlicht" treten die vielen Einzelnen nicht mehr in den Blick, weder als diejenigen, die es - vorgeblich - zu schützen gilt, noch als diejenigen, die es zu deren Schutz zu vernichten gilt. Sie werden so oder so zur strategischen und taktischen Verfügungsmasse. So hat gar der Militärpsychiater und Sanitätsoffizier der Bundeswehr Röse in der militärischen Diskussion um die Möglichkeit der massenhaften Panik unter der Zivilbevölkerung beim Einsatz von ABC-Waffen in einem Aufsatz in einer militärmedizinischen Fachzeitschrift der Bundeswehr ungerügt vorgeschlagen, "den Paniksturm gegen den Feind zu lenken", die Bevölkerung, um deren Schutz es gehen soll, als Waffe einzusetzen.

Aber der Sanitätsoffizier Rodenwald erkennt und benennt freilich auch völlig richtig, wo die größte Gefahr für diese militärischen Verwandlung der vielen Einzelnen zum "einheitlich handelnden Subjekt" liegt: In den "individuellen Ausdrucksbewegungen", die die Teile dieser Masse plötzlich wieder als Einzelne erscheinen lassen könnten und den ebenso "vereinheitlichten" Gegner an seine eigene Individualität erinnern könnten.


Die Logik militärischer Gewalt ...

Darin liegt zugleich der Schlüssel zu einer ganzen Reihe von Fragen, die Kriegsdienstverweigerern (und auch manchen Beratern?) erfahrungsgemäß so gänzlich unlösbar erscheinen, aber eben ungelöst die Position des Pazifisten oder Verweigerers in die blanke Irrationalität, gar ins unethische Abseits der bloßen Unfähigkeit verweisen.

Ohne diese begriffliche und kategoriale Erfassung des Wesens, also der inneren Logik militärischer Gewalt und deren Abgrenzung von anderen Gewaltformen, erscheinen all die Grauen des Krieges, die Anstoß für die Aufnahme von Art. 4 Abs. 3 GG in die Verfassung waren, wie letztendlich ungewollte, im Prinzip gar vermeidbare Unfälle oder Exzesse, die bei "humaner" Kriegsführung und "guter", nur der Verteidigung dienender Absicht doch entfallen könnten. Schlimm und verwerflich erscheinen dann nur die vergangenen, nicht aber die "sanften" und auf "Friedensschaffung und Friedenserhaltung" gerichteten militärischen Einsätze der Gegenwart und Zukunft - obwohl doch das Gegenteil offenkundig ist, wenn man sich die Kriegswirklichkeit betrachtet.

Erst diese kategoriale Trennung macht deutlich, dass jedes militärische Vorgehen unabhängig von seiner Motivation diesen Prinzipien unterliegt und dass auch jeder Teil des militärischen Systems (Stichwort Militärmedizin) bis ins letzte Glied diesen Regeln zu folgen hat.(17)

Der Begriff der "Kollateralschäden" bringt das, was wir hier als "innere Logik militärischer Gewalt" bezeichnen, auf den Punkt. Selbst das 1. Zusatzprotokoll von 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte räumt in Art. 57 praktisch ein, dass bei allem Schutz, den die Zivilbevölkerung genießen soll, das militärische Ziel im Zweifel oder jedenfalls dann, wenn seine Erreichung sonst ernsthaft gefährdet wäre wäre, den Vorrang genießt. So jedenfalls wird es in der Kriegspraxis gehandhabt. (Für den Lebensanspruch der Kombattanten selbst gilt aber nicht einmal dieser begrenzte Schutz.)

Man kann die Logik militärischer Gewalt an einem bewusst einfach und banal gewählten, aber jedem Soldaten aus der Ausbildung wohl bekannten Beispiel demonstrieren: Während z.B. der Polizist, der gegen einen zu allem entschlossenen Geiselnehmer oder Terroristen (also gegen einen militärisch und soldatisch agierenden Störer!) vorgeht, in völliger Übereinstimmung von geltendem Recht und geltender Ethik immer auch dessen Leben zu achten und zu bewahren hat und es nur gefährden oder notfalls auch auslöschen darf, wenn dadurch ein bestimmtes anderes und von dem Störer bedrohtes Leben gerettet werden kann, niemals aber das Leben eines Unbeteiligten opfern darf, geht der Soldat - wie das Soldaten seit Generationen gelernt haben - so vor: Lage: in einem Bunker befindet sich auch "Feind" oder wird dort jedenfalls vermutet. Aktion: der Soldat schleicht sich an Bunker an und macht seine Handgranate scharf, Bunkertür auf, Handgranate rein, Bunkertür zu, Handgranate explodiert, Bunkertür auf und sehen: Wer war da drin? Der Polizist etwa, der zur Abwehr einer konkreten, und sei es auch mutmaßlich lebensbedrohenden Gefahr so vorginge, würde wegen Mordes angeklagt. Der Soldat hat so zu handeln.

Dasselbe Muster lässt sich ebenso am anderen Ende der Vernichtungsskala, den Massenvernichtungswaffen, wie an jedem beliebigen ihrer Punkte zeigen und folgt stets derselben inneren Logik: Der Einsatz, ja selbst auch nur die Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln aller Art und von der Splitterbombe bis zur Nuklearwaffe und die Planung ihres Einsatzes sind überhaupt nur denkbar, wenn man bereit ist, den Blick bei der ethischen Abwägung von "dem Einzelnen" und seinem unbedingten Lebensanspruch abzuwenden hin zu einer Zweck-Mittel-Relation, in der - und das ist die wesentliche Weichenstellung - die Gesamtheit einer Gesellschaft, also eben nicht die vielen Einzelnen, sondern die Vielen, das angenommene Schutzobjekt bilden, und dann folglich die angestrebte Erhaltung eines Teils des Ganzen die Opferung des anderen Teils, am Ende also das als richtig erkannte Ziel die Opferung auch der vielen Einzelnen allemal rechtfertigt.

Im Kasernenjargon heißt das: "Wo gehobelt wird, fliegen eben Späne" - und wenn der Hobel einer B52 über bewohntes Gebiet geht, dann sind die Späne eben Teile menschlicher Körper oder Leichen, ganz gleich ob von Soldaten oder Zivilisten, Männern oder Frauen, Kindern oder Greisen. Ganz gleich ob Freund oder Feind, ganz gleich, ob von ihnen eine Gefahr ausgeht oder nicht. Und auch: Ganz gleich, mit welcher friedlichen oder kriegerischen Gesinnung oder Vorstellung der Pilot ausgestattet ist, wenn er die Bomben auslöst. Auch auf ihn als Person oder auf seine Vorstellung kommt es im militärischen Apparat und Ablauf der Dinge so wenig an, wie es ihm auf die Personen ankommen darf, die er da mit einem Knopfdruck zu Asche werden lässt und von denen er nichts weiß, nichts gegen sie hat und die eben einfach nur auf dem Weg zum militärischen Ziel dazwischen gekommen sind.

Gerade die letzte Erkenntnis ist wichtig, weil man ja häufig auf aktive oder ehemalige Soldaten trifft, die - glaubhaft - beteuern, dass sie doch nun wirklich anständige Menschen seien, denen man doch abnehmen könne, dass sie mit der menschenverachtenden Logik des Krieges und des Militärs nichts, aber auch gar nichts gemein hätten. Das mag manchmal Ausrede und Verdrängung sein, aber selbst wenn es stimmte: Maßgeblich ist alleine die Funktion, die der Einzelne im militärischen Apparat hat. Die alleine bestimmt im Ergebnis sein Handeln, ob er das will oder nicht.


...und die Ethik der Zivilgesellschaft

Was mit dieser Logik militärischer Gewalt gemeint ist, kann schließlich an zwei anderen - vielleicht überraschend und ungewohnt erscheinenden - Beispielen noch einmal veranschaulicht werden, die zugleich klar machen, dass auch die Zivilgesellschaft alltäglich Gefahr läuft, von der Logik militärischer Gewalt korrumpiert und überlagert zu werden:

Das erste Beispiel betrifft das Thema medizinische Menschenversuche: Zur Bekämpfung einer viele Menschen bedrohenden Krankheit lässt man einzelne oder auch viele einzelne Menschen exemplarisch sterben oder nimmt deren Tod in Kauf, um daraus Erkenntnisse zu gewinnen für die Heilung der anderen Erkrankten, evtl. sogar für die endgültige Beseitigung der Krankheit.

Niemand, der sich der Wertordnung des Grundgesetzes (genauer gesagt also: der Ethik der Zivilgesellschaft mit ihrer unbedingten Priorität des Schutzes des Lebens jedes Einzelnen und dessen unbedingtem Lebensanspruch) verpflichtet fühlt, zweifelt auch nur einen Moment daran, dass solche - und sei es auch äußerlich noch so überzeugend und "verlockend" begründeten - Menschenversuche ethisch und rechtlich vollkommen inakzeptabel sind.

Der Soldat aber geht in seinem Bereich nach eben dieser Logik vor und muss so vorgehen, indem er viele Einzelne vernichtet, um damit (vermeintlich) eine unbestimmte Vielzahl anderer evtl. zu retten. Es ist kein Zufall, dass gerade die Miltärmedizin eine Reihe solcher Beispiele hervorgebracht hat und noch heute ähnliche hervorbringt. Die Menschenversuche von SS-Ärzten in den KZs Dachau und Ravensbrück mit Unterdruck- und Unterkühlungsversuchen sowie im KZ Buchenwald mit Meerwasserversuchen wurden ganz im Sinne der militärischen Zweckmäßigkeit begründet(18) und nach Verurteilung einiger der verantwortlichen Militärärzte sodann teilweise mit demselben Personal von der CIA ausgewertet und in anderer Form mit anderen Mitteln und Zielen fortgesetzt(19). Die Einrichtung von so genannten Magen-Bataillonen im Zweiten Weltkrieg, die der militärmedizinisch so gesehenen "therapeutischen Kraft des Trommelfeuers" ausgesetzt wurden, um ihnen "die Flucht in die Krankheit" zu versperren, folgte derselben Logik.

Die Weisung an die Ärzte im "Nato-Handbuch für dringliche Kriegschirurgie" (ZDv 49/50), bei bestimmten Lagen die Tarnung der Lazarette zu veranlassen und damit den Verletzten den Schutz der Genfer Konvention zu entziehen, oder die zuerst zu versorgen, die alsbald wieder kampffähig gemacht werden können, während Schwerstverletzte im Rahmen der Triage eine "geringe Dringlichkeitsstufe" bekommen und "infolgedessen" (! - und nicht umgekehrt) eine geringe Überlebenschance haben, sind nur wenige Beispiele von vielen, die allesamt demselben Muster der inneren Logik militärischer Gewalt folgen. Der Versuch der Militärmedizin in den späten 1970-er Jahren, die zivile Katastrophenmedizin nach den Maßstäben der - der Logik militärischer Gewalt folgenden - Militärmedizin zu okkupieren(20), ein weiteres.

Das zweite - aktuelle - Stichwort lautet Luftsicherheitsgesetz: Um andere vor einem terroristischen Angriff zu bewahren, der mit einem vollbesetzten Passagierflugzeug verübt werden soll, sollte es nach dem Willen der Bundesregierung und des Bundestages (oder jedenfalls seiner überwiegenden Mehrheit) zulässig und notwendig sein, dieses Flugzeug abzuschießen. Auch in diesem Fall sollte man annehmen, dass niemand, der sich der Wertordnung des Grundgesetzes (genauer gesagt also: der Ethik der Zivilgesellschaft mit ihrer unbedingten Priorität des Schutzes des Lebens jedes Einzelnen und dessen unbedingtem Lebensanspruch) verpflichtet fühlt, auch nur einen Moment daran zweifelt, dass solche - und sei es auch äußerlich noch so überzeugend und "verlockend" begründeten - Maßnahmen ethisch und nach dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes absolut inakzeptabel sind, indes bedurfte es erst einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die der Mehrheit der Abgeordneten und der Regierung diese Grundlagen der Verfassung (und nicht etwa nur irgendwelche peripheren Zuständigkeitsregelungen, über die Juristen streiten können) vordeklinieren musste, um eine Abgrenzung zwischen der Ethik der Zivilgesellschaft und der Logik militärischer Gewalt in Erinnerung zu rufen. Und es waren hier eben genau jene Argumente, die wir oben zur Analyse der Logik militärischer Gewalt benannt hatten, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung anführt(21) und die hier des halb etwas ausführlicher zitiert werden sollen. (Anm. d. Red.: Aus Platzgründen können die Zitate aus der Verfassungsgerichtsentscheidung hier nicht abgedruckt werden. Die Entscheidung ist auszugsweise veröffentlicht in Forum Pazifismus 09, S. 33ff.; das gesamte Urteil ist abrufbar auf der Internet-Homepage des Bundesverfassungsgerichts unter der Adresse
www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20060215_1bvr035705.html)

Um mögliche voreilige Euphorie zu dämpfen: Das Bundesverfassungsgericht hat damit nicht militärische Gewalt schlechthin verboten (das war nicht Gegenstand seiner Entscheidung), sondern zu nächst (nur) klargestellt, dass die Wertordnung des Grundgesetzes gerade in ihren paradigmatischen Grundannahmen mit militärischer Logik in einem unüberbrückbaren Widerspruch steht.

Auch die damit thematisierte alltäglich sukzessive Aushöhlung der Ethik einer Zivilgesellschaft durch den Geist des Militarismus, also die Logik militärischer Gewalt, ist ein Teil des Themas Pazifismus/Militarismus, das schon alleine einer umfangreichen Aufarbeitung bedürfte, um Kriegsdienstverweigerer über das Ziel ihrer bloßen Anerkennung hinaus zu beraten.


Militaristen unter Druck

Diese systematische Aufarbeitung der inneren Logik militärischer Gewalt hatte und hat - wo sie denn erfolgte - eine enorme Stärkung in der Diskussion um Pazifismus und Militarismus zur Folge, die weit über die Bewältigung irgendeines Anerkennungsverfahrens hinausreicht.

Es wurde deutlich, dass nicht der Pazifist oder Kriegsdienstverweigerer in seiner ethischen Grundposition von der allgemein als verbindlich angesehenen Ethik der Zivilgesellschaft abweicht, wie sie Grundlage der Verfassung ist, sondern eine Gesellschaft, die sich zum Krieg bereit macht, von eben dieser konsequent an dem einzelnen Menschenleben orientierten Ethik abweichen und bereit sein muss, diese für unbestimmte Zeit auszutauschen gegen eine Ethik, die es ermöglicht, den Einzelnen oder auch viele Einzelne nur noch als Teil eines Ganzen zu sehen, den man im (gemutmaßten) Interesse des Ganzen opfern kann.

Mit anderen Worten: Wer Soldat sein will, muss spätestens im Krieg seine Position gegenüber menschlichem Leben ändern, in dem er dieses unter bestimmten Bedingungen einer pauschalen - unter nichtkriegerischen Bedingungen strikt geächteten und unter Strafandrohung stehenden! - pauschalen Abwägung mit militärischen Zielen unterwirft, oder wie das das BVerfG an an derer Stelle einmal formuliert hat: Einer "pauschalen Abwägung von Leben gegen Leben, die zur Freigabe der vermeintlich geringeren Zahl im Interesse der Erhaltung der angeblich größeren Zahl führt" und eben deshalb "nicht vereinbar (ist) mit der Verpflichtung zum individuellen Schutz je des einzelnen konkreten Lebens".(22) Nicht der Pazifist oder Verweigerer kann und muss mithin darlegen, warum er an dem all täglich "ethisch Selbstverständlichen" auch im Krieg festhält. Der ethische Paradigmenwechsel zurück zu Grundeinstellungen, die wir üblicherweise dem Totalitarismus zu ordnen und der der Begründung bedarf, er folgt vielmehr beim Soldaten oder bei der Gesellschaft, die ihn einsetzt.

Soldat und Pazifist unterscheiden sich mithin nicht notwendig und nicht einmal in der Regel in ihrer Friedensliebe, also dem eventuellen Ziel ihres Bemühens, sondern die Weichenstellung zwischen der Bereitschaft, Krieg zu führen einerseits, und der Weigerung, dies zu tun, andererseits erfolgt dort, wo die die zivile Alltagsethik begründende strikte Orientierung am einzelnen Leben aufgegeben und ersetzt werden muss durch die Orientierung an der Erhaltung des Lebens der Vielen, die dem einzelnen Leben gerade keinen Schutz mehr garantiert, sondern es beliebig für nahezu jedes taktische Ziel verfügbar macht.

In der praktischen Auseinandersetzung mit den Prüfungsgremien - aber eben nicht nur dort - hatte diese Aufarbeitung der Logik militärischer Gewalt (wo sie denn er folgte und diese Position dargelegt wurde) regelmäßig eine völlige Umkehrung der üblichen inquisitorischen Verhandlungssituation zur Folge:

Ethisch zu "verteidigen" hatte sich nicht der, der auf den ethischen Grundpositionen der Zivilgesellschaft mit der konsequenten Orientierung am Einzelnen und dessen Lebensanspruch beharrte, sondern der, der die Frage aufwerfen wollte, was denn nun so schlimm daran sei, im Krieg Menschen zu töten, und warum das denn der Antragsteller nicht könne.

Solche Verhandlungen liefen in der Regel ohne eine einzige Frage ab, wurden rasch mit Anerkennung beendet, und die Prüfungsgremien waren froh, alsbald mit ihrer sonst vertretenen gegenteiligen Position nicht mehr in den Spiegel der zivilen Ethik sehen zu müssen, der ihnen da vorgehalten wurde.

Denn niemand hatte und hat ja den Mut, diese Ethik etwa infrage zu stellen, sondern es wird bloß - und wie sich zeigt: zu Unrecht wider alle praktische Erfahrung in jedem Krieg - deren unbeschadete Fortgeltung auch im Krieg behauptet.

Aber auch über die Anerkennungsverfahren hinaus ist es aufschlussreich und bemerkenswert, dass man bei den Vertretern des Militarismus, also bei denen, die militärische Gewalt für zulässig erachten, und bei Soldaten in aller Regel gerade nicht die gleiche Aufgeschlossenheit und Problembereitschaft findet, sondern jene geradezu reflexhafte und zwanghafte Tabuisierung des Themas, deren Entstehung ich oben beschrieben habe.

Wer denen, die bereit sind, militärische Gewalt anzuwenden, diesen Spiegel vor hält, erlebt stets dieselbe Reaktion: Ausweichen, Verleugnen, Tabubildung, wohl weil die Negierung der menschheitsgeschichtlich und kulturell erworbenen ethischen Normen des Zusammenlebens - wie das Siegmund Freud einmal formuliert hat - "zu tiefst unsere innersten Gefühle verletzt".

Stellt man Soldaten - welchen Dienstranges auch immer - vor dieses Problem, dann sind sie, wenn sie nicht ausweichen, meist äußerst erstaunt und räumen ein, das bisher so nicht gesehen zu haben. Ich habe in all den Jahren vielfältiger Diskussionen mit Befürwortern militärischer Gewalt und mit Soldaten nicht einen gefunden, der sich am Ende wirklich zu der Abkehr von den in der Zivilgesellschaft geltenden ethischen Grundsätzen hätte bekennen wollen, was freilich nichts daran ändert, dass sie im Kriegsfall dennoch so handeln werden. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür werde ich noch schildern.

Es ist übrigens äußerst bemerkenswert, dass diese Position der Trennung zwischen ziviler Ethik und der Logik militärischer Gewalt vollständig mit der von Kriegsdienstverweigerern oft - und wie ich meine: völlig zu Unrecht! - gescholtenen Rechtsprechung des 6. Senats des BVerwG übereinstimmt, die auch vom BVerfG gebilligt und geteilt wurde und wird.

Nicht die Frage der eventuellen Bereitschaft zur Gewaltanwendung (notfalls auch gegen Menschen) als solche ist danach maßgeblich für die Berechtigung, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, sondern alleine die Frage, an welchen ethischen Maßstäben sich die ggf. akzeptierte Gewaltanwendung orientiert: An der Erhaltung des Lebens oder der Gesundheit des Einzelnen oder an der auf taktische und strategische Ziele gerichteten Logik militärischer Gewalt.

Allerdings: Nach der Rechtsprechung zu Art. 4 Abs. 3 GG kann und darf eben wegen dieses systematischen Ausnahmecharakters der Berechtigung, sich aus der Entscheidung der (parlamentarischen) Mehrheit auszuklinken, nur derjenige als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden, der militärische Gewalt jedenfalls für sich "als sittlich zutiefst verwerflich" ansieht.

Er muss dabei dem Soldaten nicht das Recht absprechen, eine andere Position zu beziehen, ihn also nicht als Person verurteilen, wohl aber dessen Handeln nach den eigenen Maßstäben als sittlich verwerflich beurteilen. Etwas anderes ist ja auch schwerlich vorstellbar!(23)


Die Tucholsky-Diskussion

Dass solche Diskussion über die ethische Rechtfertigung von Militarismus und Pazifismus jederzeit und trotz aller erfolgreicher propagandistischer Bemühungen der Domestizierung des Pazifismus wieder aufbrechen kann, macht ein Beispiel deutlich:

Ein - wie es scheint - letztes öffentliches Aufflackern dieser Diskussion war in den sich über mehrere Jahre hinziehenden Prozessen um das bekannte Diktum Tucholskys zu beobachten, "Soldaten seien potenzielle Mörder" und dies werde ihnen während der Ausbildung durch Drill beigebracht.

Ein über die Grundlagen seines Berufes offenbar wenig aufgeklärter Jugendoffizier hatte etwa 1985 gegen einen Frankfurter Arzt und Mitglied der IPPNW (selbst Ex-Offizier der Bundeswehr) Anzeige erstattet, der diesen ganz und gar banalen Satz in einer Diskussion mit Schülern im Beisein dieses Offiziers wiederholt hatte. Der Jugendoffizier - durch ein ihm von der Bundeswehr gestelltes juristisches Großaufgebot als Nebenkläger vertreten - machte immer wieder geltend: Dass ein Soldat eventuell töten müsse, folglich also vielleicht als "Töter" oder eventuell auch "Totschläger" bezeichnet werden dürfe, sei notfalls hinzunehmen - nicht aber die zutiefst verletzende Bezeichnung als "Mörder".

Das Programm der Anklage war klar: Das um militärische Gewalt mit ihrer obszönen Verletzung der Ethik einer Zivilgesellschaft sorgfältig gelegte Tabu war erneut öffentlich in Gefahr und sollte wiederhergestellt werden.

Banal ist dieser Satz vom "potenziellen Mörder", weil er eine ganz einfache, auch mit geltendem Recht völlig übereinstimmende Feststellung trifft: Militärische Logik bedeutet die Abkehr von der Orientierung am Einzelnen und seinem Lebensanspruch. Strafrechtlich unterscheiden wir zwischen Mord ( 211 StGB) und Totschlag ( 212 StGB) ganz im Sinne der zivilen Ethik: Wer zur Tötung von Menschen etwa "gemeingefährliche Mittel" anwendet, begeht Mord und nicht lediglich Totschlag. Und dies eben deshalb, weil er damit die Tötung einer unbestimmten Vielzahl von Menschen einfach billigend in Kauf nimmt, sein erstrebtes Ziel der Tötung eines Menschen also ohne Rücksicht auf die mögliche und ihm im Übrigen gleichgültige Zahl weiterer Opfer verfolgt. Eben genau so, wie jeder Soldat handeln muss, wenn er seinen militärischen Auftrag erfüllen will: Kolateralschäden muss er im Interesse der effizienten Erreichung des Ziels in Kauf nehmen.

Gänzlich unbefangen, offenbar ohne je den Skrupel und für jedermann hörbar hatte eine derartige Erkenntnis übrigens der Nato-Stabschef US-General Schuyler bereits 1956 formuliert mit den Worten: "Unser Operationsziel wird Mord sein, und die Atomexplosion ist unser Hauptmordinstrument."(24)

Die - gleichsam pflichtgemäße - öffentliche Empörung über die Äußerung vom "Soldaten als potenziellem Mörder" und den neuerlichen Tabubruch war seinerzeit bei den Amtsträgern vom liberalen Außenminister Genscher bis hin zum amtierenden und sonst doch aufgeklärten Bundespräsidenten v. Weizsäcker gewaltig, von den Reservistenverbänden und Stammtischen ganz zu schweigen. Volksverhetzung war der Vorwurf und auch Gegenstand der Straf anzeige und der dann erhobenen Anklage.

Die gewaltige ideologische Barriere, die sich um das den militärischen Akteuren so unangenehme Thema militärischer Gewalt und ihrer Folgen als Tabu bereits wieder ge bildet hatte, wird durch eine aufschlussreiche Szene aus diesem Prozess dokumentiert:

Anklage und Nebenkläger einerseits und die Verteidigung andererseits waren von der Strafkammer gebeten worden, Sachverständige für ihre jeweilige Position zu stellen. Wir als Verteidiger hatten Friedensforscher aufgeboten, der Nebenkläger auf persönliche Weisung des amtierenden Verteidigungsministers zwei hochrangige Offiziere, einen Generalleutnat und einen Oberst i.G., die er allem Anschein nach für kompetent, jedenfalls für eindrucksvoll genug gekleidet hielt, um dem Gericht den Weg der Erkenntnis zu weisen.

Der Vorsitzende der Strafkammer, ein ausgezeichneter und durchsetzungsfähiger Jurist, der auch durch noch so viel goldenes Lametta auf den Epauletten und der Heldenbrust nicht einzuschüchtern war, hielt der Anklage und deren gutachternden Offizieren immer wieder das Argument der Verteidigung vor, dass 211 StGB als mordqualifizierendes Merkmal die Anwendung "gemeingefährlicher Mittel" nenne und schon die einfache Handgranate zweifellos diese Bedingungen erfülle. Als das buchstäblich auf taube Ohren stieß, kopierte er den Text des 211 StGB vergrößert auf ein DIN A4 Blatt, hielt es der Anklagevertretung, dem Nebenkläger und seiner anwaltlichen Vertretung sowie deren Sachverständigen entgegen und fragte unbeirrt von allen argumentativen Täuschungs- und Ausweichmanövern die Generale, was sie denn nun tun würden, wenn es zum Angriff auf die Bundesrepublik käme und sich die Notwendigkeit ergäbe, über "Abschreckung durch bloßes Dasein" hinaus und vor allem über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus militärisch derart "gemeingefährlich" tätig zu werden, wie es die Sachverständigen der Verteidigung am Beispiel von Massenvernichtungsmitteln dargelegt hatten.

Die übereinstimmende und angesichts der immer enger werdenden Diskussion um die Wirklichkeit eines Kriegs offensichtlich abgesprochene Antwort des Generals und des Obristen war, (1.) dazu werde es nie kommen und (2.) wenn doch, werde man eben sofort zurücktreten. Das klingt wie schlechtes Kabarett, ist aber wirklich so passiert.

Uns ist aus einer jener "gewöhnlich gut informierten Quellen" berichtet worden, dass der General unmittelbar anschließend an die mündliche Verhandlung beim Verteidigungsminister vorgesprochen und erklärt habe, das Theater reiche ihm jetzt, der Prozess solle sofort zu Ende gebracht werden, weil er der Bundeswehr schade. Was hätte der tapfere General wohl gesagt, wenn da schon der spätere Verteidigungsminister Struck gesessen hätte, der wiederholt und auch als Fraktionsvorsitzender der SPD kürzlich wieder betont hat: "Das Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt"? Zurückgetreten? Den Minister wegen Verfassungsverrates vorläufig arrestiert? Oder sich gefreut, dass er einen findet, mit dem er offen reden kann?

Wie bekannt, wurde der Angeklagte freigesprochen. Der Vorsitzende der Strafkammer erhielt daraufhin eine Reihe ernstzunehmender Morddrohungen. Unsere Kanzlei ging kurze Zeit später in Flammen auf. Ein Oberst der Bundeswehr, der seine Zustimmung zu diesem Freispruch zum Ausdruck brachte, wurde degradiert, die Degradierung wurde dann vom BVerfG später auf unsere Verfassungsbeschwerde hin wieder aufgehoben.


Das Tabu aushebeln

Ich bin aus der Erfahrung der vergangenen Jahre sehr sicher, dass die Neuentfachung dieser Diskussion über spezifisch militärische Gewalt nicht nur bei den Wehrpflichtigen, sondern auch bei den Beratern, die es dafür zu gewinnen gilt, einen neuen Schub des Engagements für diese Fragestellung bringen kann, wenn die Diskussion offen und offensiv gegenüber den wieder verfestigten Tabus geführt wird.

Wer hat denn als Berater auf die Dauer schon Lust dazu, immer wieder erneut die selben Satzschablonen zu lesen oder gar zu empfehlen, diese lustlos zur Begründung der KDV abzusondern, um den bürokratischen Vorgang der Anerkennung zu absolvieren?

Auch insoweit bedarf es aber wohl vor gängig einer Diskussion mit den Beratern, die über den bloß organisatorischen Aspekt der Beratung hinausreicht und den inhaltlichen Kontext und die Aktualität der Pazifismus/Militarismus Diskussion zunächst ein mal herausarbeitet und wieder greifbar macht. Denn es ist ja das eigentliche Paradoxon unseres Themas, dass mit steigender Kriegsgefahr, mit steigender militärischer Aktivität in der Welt und mit dem Zunehmen klassischer Kriegsursachen gleichzeitig die Diskussion zu verflachen scheint, weil das Tabu funktioniert.


Naturhaft wie der Sonnenaufgang?

Versteht man die Beratung von Verweigerern hingegen nicht alleine als solche zur Vorbereitung eines Anerkennungsverfahrens, dann ergibt sich eine gänzlich anders strukturierte Herangehensweise.

Aus der Sicht der Pazifismus/Militarismus-Diskussion mag es - zu welcher Entscheidung man sich da im Ergebnis auch immer durchringt - wenig erfreulich sein, dass Wehrpflichtige heute überwiegend ganz und gar "pragmatisch" und alleine unter Nützlichkeitsgesichtspunkten die Frage von Wehr-/Zivildienst angehen und dies nicht in erster Linie als eine Grundsatzfrage einer Gesellschaft sehen, ob man sich unter ethischen Gesichtspunkten für Krieg bereit machen darf oder nicht.

Sie treffen aber mit dieser Herangehensweise - wenn auch in der Regel in vollkommener Unkenntnis der rechtlichen und historischen Zusammenhänge - doch fast spontan einen anderen Punkt, der zwar nicht von so existenzieller Bedeutung ist, wie die Frage von Krieg und Frieden, aber doch von grundsätzlicher Bedeutung: Nämlich die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Staat in die Freiheit eines Bürgers überhaupt und im Einzelfall eingreifen darf.

Diese Frage ist von der beschriebenen Sprach- und Begriffsverwirrung im Zusammenhang mit der KDV nahezu verschüttet worden, obwohl sie im jeweiligen Einzelfall vorab jeder Entscheidung über Wehr- oder Zivildienst zu beantworten ist. Und sie zielt nicht auf das Thema "Beibehaltung oder Abschaffung der Wehrpflicht", sondern vielmehr darauf, was bestehende Wehrpflicht denn im Einzelfall wirklich bedeutet. Gerade aber darüber besteht - nicht nur bei den Wehrpflichtigen! - ein beeindruckendes Maß an wirklich fundamentaler Unkenntnis, die derjenigen über die ethischen Fragen militärischer Gewalt durchaus ähnlich ist.

Die Wehrpflichtigen, die zur Beratung kommen, lassen sich nach meiner Erfahrung grob in drei Gruppen aufteilen:

(a) Die erste und wohl zahlenmäßig noch immer größte (und wie es scheint: sogar wachsende) Gruppe ist als Folge einer über Jahrzehnte und Generationen reichenden gezielten Desinformationsstrategie der Wehr- und Zivildienstbehörden umfassend uninformiert und hält die allgegenwärtige "Allgemeine Wehrpflicht" für eine naturhafte Gegebenheit wie den Sonnenauf- und Untergang, derzufolge jeder irgend einen Dienst zu leisten habe. Dem entspricht dann fast spiegelbildlich die Vorstellung, dass man dieser Pflicht allenfalls durch mehr oder minder trickreiches Davonschleichen durch die Hintertür entgehen könne.

Diese Gruppe hat in der Regel diffuse Gerüchte darüber gehört, dass man mit Krankheiten, Rauschmittelmissbrauch, fester oder mobiler Zahnspange oder Freundin mit oder ohne Schwangerschaft oder festem oder befristetem Job o.ä. der Einberufung angeblich irgendwie entgehen könne.

Sie macht sich dann entweder auf die Suche nach meist erfundenen, aggravierten oder vollständig vorgetäuschten Krankheiten etc. (Felix Krull findet da seine eifrigen Epigonen) oder entschließt sich angesichts vermeintlich oder wirklich aussichtsloser Suche nach solchen Umständen füfür eine der beiden Dienstarten, bevor überhaupt noch geprüft ist oder feststeht, ob die gesetzlichen Heranziehungsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen.

Da wird dann schnell erneut kapituliert und der KDV-Antrag als taktischer Ausweg möglichst schon vor der Musterung gestellt oder erst, wenn der Einberufungsbescheid gekommen ist - in beiden Fällen oft mit fatalen Folgen.

(b) Die zweite Gruppe ist in der Regel etwas besser informiert und geht von Anbeginn davon aus, dem Dienst in welcher Form auch immer entgehen zu wollen, weil sie den dadurch entstehenden Zeitverlust vermeiden möchte, hat aber nur wenig brauchbare Informationen, wie das - vor allem legal! - geschehen könne.

(c) Zahlenmäßig zu vernachlässigen ist nach meiner Erfahrung die sehr kleine Gruppe derer, die einen der beiden Dienste wirklich will. (Davon übrigens strikt zu unterscheiden ist die Untergruppe derer, die einem weit verbreiteten Fehlverständnis folgend lediglich und meist unausgesprochen meinen, so oder so ja ohnehin Dienst leisten zu müssen, weil es ja doch keinen gangbaren "Ausweg" gebe. Da wird dann schnell die eigene vermeintliche Chancenlosigkeit aus Angst vor der auch nur gedanklichen Niederlage positiv gewendet in die Formulierung, man "wolle" Dienst leisten. Es gehört zu einer seriösen Beratung, das zunächst herauszuarbeiten - woran es in der Praxis leider sehr häufig fehlt! Ich höre von - auch anwaltlichen - Beratern, die auffallend viele KDV-Verfahren initiieren, immer wieder, der Klient habe doch erklärt, dass er - Zivildienst leisten wolle, was sich dann aber nach genauerer Befragung als bloßer Aufklärungsmangel erweist).

Die Gründe dafür, wirklich Dienst leisten zu wollen, sind oftmals lebensgeschichtlich begründet:

Abiturienten, die durch die ständige Bevormundung in der Schule traumatisiert sind, begründen die Auszeit oder das Sabbatjahr vor dem Studium den Eltern gegenüber mit Zivildienst und sind ganz froh, sich auf die schicksalhafte Einberufung verlassen zu können. Das lässt sich auch noch mit der Erklärung veredeln, Zivildienst sei doch "Dienst an der Gesellschaft" etc. und imponiert meist den Müttern, die dann im Bekanntenkreis mit dem sozialen Engagement der Söhne punkten können. Ganz wenige sehen im Zivildienst eine Chance, einen anderen Beruf kennenzulernen oder etwa einen Bonus für den Studienzugang zu erhalten o.ä. Für die dauert die Beratung wenige Minuten - wenn man sie nicht zugleich auch über die nicht unerheblichen Risiken dieses Vorgehens informiert, was indes selten geschieht.

Den beiden ersten Gruppen ist aber in aller Regel gemeinsam, dass sie - bei aller scheinbaren Informiertheit im Detail und Kenntnissen in der vergifteten Krull'schen Trickkiste - auch nicht die geringste Vorstellung davon haben, in welchem rechtlichen und organisatorischem Zusammenhang die einzelnen Aspekte stehen, also was "Allgemeine Wehrpflicht" eigentlich rechtlich (vor allem verfassungsrechtlich) bedeutet und vor allem, welche unmittelbaren Konsequenzen sich aus solcher Kenntnis für die Vorgehensweise im konkreten Einzelfall für die Erreichung des selbst gesteckten Zieles ergeben. Sie teilen diesen Informationsmangel allerdings mit der ganz großen Mehrzahl der Bürger. Und dies nicht, weil es sich bereits auf dieser Ebene um komplizierte juristische Fachfragen handeln würde, sondern weil Republik und Rechtsstaat in die Köpfe der Deutschen noch nicht wirklich Einzug gehalten hat.


Der Staat hat dem Bürger zu dienen - und nicht umgekehrt

Da die Grundlagen des Verhältnisses von Bürger und Staat allem Anschein nach ihrer Natur nach flüchtig sind, scheint es erforderlich zu sein, sie als Grundlagen der Verfassung in der Beratung (aber auch den Beratern) immer wieder in Erinnerung zu rufen: Und die sind eigentlich ganz einfach, stehen aber erfahrungsgemäß der allgemein verbreiteten Vorstellung über dieses Grundverhältnis diametral entgegen, was bis in die kleinste Verhaltensweise von Wehrpflichtigen von der Musterung bis zur Entlassung unmittelbare Auswirkungen hat.

Es lohnt sich dabei wirklich, ganz grundsätzlich anzusetzen: In einer Republik geht die Macht vom Volke aus und das Volk bedient sich zur Durchsetzung seiner Macht der staatlichen Organe, wie das Art. 20 Abs. 2 GG bestimmt - und nicht umgekehrt. Der so vom Volk beauftragte Staat - also hier das Organ "Exekutive" - darf in die generelle und systematisch allem vorgelagerte allgemeine Handlungsfreiheit eines Bürgers (Art. 2 Abs. 1 GG) im Einzelfall nur eingreifen, wenn und soweit ihm dies bis ins Detail durch ein förmliches Gesetz ausdrücklich erlaubt ist, während der Bürger alles darf, was ihm nicht ausdrücklich verboten ist oder die Rechte Dritter verletzt.

Diese Erkenntnis gehört auch nach - mit 12 Jahren Unterbrechung durch den Faschismus - immerhin über 70 Jahren Republik in Deutschland noch immer nicht zum Selbstverständnis der Deutschen. Die überwiegende Mehrheit ist spontan vom Gegenteil überzeugt, ohne eigentlich sagen zu können, woher das stamme. Es ist für sie einfach Natur. Der aus der Monarchie überkommene "Vater Staat" ist ein noch immer gebräuchliches und fast unausrottbares Bild für die Beschreibung des Verhältnisses der Deutschen zum Staat.

Die - in der Verfassung angelegte - Feststellung gar, dass der Staat dem Bürger zu dienen habe und nicht umgekehrt, weil eben das Volk sich des Staates bedient und nicht umgekehrt, wird regelmäßig als unverschämte Anmaßung in der Nähe zum Irrsinn verstanden und - zumal von Amtsträgern - empört zurückgewiesen.

Was also bedeutet - verfassungsrechtlich betrachtet - vor diesem Hintergrund "Allgemeine Wehrpflicht" und welche Folgen ergeben sich daraus für die Beratung von Wehrpflichtigen?

Wenn man sich die öffentliche Debatte darüber betrachtet, scheint kaum bekannt zu sein, dass es kein Gesetz der Bundesrepublik gibt, in dem wörtlich oder auch nur sinngemäß geregelt ist, dass grundsätzlich jeder männliche Bürger Wehr- oder Zivildienst zu leisten habe.

Art. 12a GG enthält als Einschränkung zur allgemeinen Berufsfreiheit und zum Verbot von Zwangsarbeit die Ermächtigung des Verfassungsgebers an den Gesetzgeber, ein Gesetz zu erlassen, aufgrund dessen zunächst ganz allgemein "Männer vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden können". (Daraus - wie das häufig geschieht - die Pflicht ableiten zu wollen, dass jeder Wehr- oder Zivildienst zu leisten habe, würde dann ebenso zu einer "Allgemeinen Bundesgrenzschutzpflicht" und ähnlichen Unsinn führen.)

Der Gesetzgeber hat mit dem Wehrpflichtgesetz (und ihm folgend dem ZDG) von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht und geregelt, dass "alle Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an, die Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind, wehrpflichtig sind" (und das bedeutet z.B.: der Wehrüberwachung unterliegen) und sodann - aber davon strikt zu unterscheiden -, ob und ggf. unter welchen im Gesetz im Einzelnen festgelegten Voraussetzungen ein derart wehrpflichtiger Bürger wann und wie lange einberufen werden kann oder nicht.

Nur vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich richtigen Einordnung dieser Regelungen in den rechtsstaatlichen Kontext wird aber offenkundig, dass daraus also folgt: Die Heranziehung zum Wehr- oder Zivildienst ist (schon unabhängig von der statistischen Verteilung der Einberufungen, der so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, um einen vermeintlichen Verfassungsverstoß zu belegen, der zur Abschaffung der Wehrpflicht führen soll) verfassungssystematisch immer schon die Ausnahme von der ihr vorgelagerten allgemeinen Handlungsfreiheit. Die Absicht, davon frei bleiben zu wollen, ist verfassungsrechtlich (!) so legitim wie die Absicht, zu atmen, und bedarf keiner Rechtfertigung. (Die allgegenwärtige Formulierung, die z.T. auch von Wehrpflichtigen selbst übernommen wird, einer wolle sich ja nur "drücken", stellt die Verhältnisse auf den Kopf, um die Betroffenen einzuschüchtern.)

Wohl aber bedarf die Heranziehung in jedem Einzelfall einer (gesetzlichen) Rechtfertigung, indem sie nur erfolgen darf, wenn die im Gesetz für den Einzelfall definierten materiellen Heranziehungsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen (wofür übrigens die Behörde die Beweislast trägt!). Erst wenn diese Voraussetzungen (verfassungssystematisch betrachtet: ausnahmsweise) tatsächlich vorliegen, was eine genaue Prüfung voraussetzt, kann sich die Frage stellen, welche der beiden Arten von Dienst in Betracht kommt: Wehr- oder Zivildienst.

Daraus folgt aber ferner, dass es zum selbstverständlichen Recht, wenn nicht gar zur Pflicht eines souveränen Bürgers gehört, dem im Auftrag des Volkes tätig werdenden Staat genauestens auf die Finger zu schauen, wenn er diese Voraussetzungen prüft, und der Behörde dabei nach Kräften behilflich zu sein (im Falle der Wehrpflicht ist das sogar gesetzliche Pflicht!), um keinem Bürger ohne sachlichen Grund seine Freiheit zu nehmen, also grundsätzlich auf gleicher Augenhöhe mit der Behörde zu agieren.

Das bedeutet schließlich auch, dass der Wehrpflichtige bei der Musterung nicht lediglich Objekt des Handelns der Behörde ist, sondern offensiv seine Musterung betreiben soll, bei der er nichts dem Zufall überlässt: Also vor allem zunächst einmal genauestens erfährt, was da unter welchen Kriterien mit welchen Mittel geprüft wird und was er dazu beitragen kann und muss, um unter vollständiger Wahrung seiner Rechte zu einem dem Gesetz entsprechenden Ergebnis zu kommen.

"Offensiv" heißt dabei nicht, Einberufungshindernisse zu erfinden oder vorzutäuschen.(25) Es heißt vielmehr: Der Musterung nicht auszuweichen, sondern sie gezielt und ausschließlich entlang den gesetzlichen Vorgaben anzugehen, anstatt sich - wie üblich - passiv und in häufig genug nahezu untertäniger Schreckstarre durchschleusen zu lassen.

Dass das nicht von selbst funktioniert, weiß jeder, der je eine Musterung erlebt hat, sei es nun, weil die Behörden den Wehrpflichtigen bewusst die maßgeblichen Informationen vorenthalten oder diese gezielt verschleiern(26), sei es, weil diese Behörden selbst mit einer an den gesetzlichen Regeln orientierten Musterung vollständig überfordert sind oder sei es auch, weil die behördliche Routine immer und fast naturhaft dazu führt, die Macht der Bürokratie über die gesetzlichen Grenzen hinaus auszudehnen und damit zu missbrauchen.

Diese Grundlagen am jeweiligen Fall zu vermitteln und verständlich zu machen, ist nach meiner Überzeugung und Erfahrung Grundaufgabe jeder Beratung von Wehrpflichtigen, weil diese erst dann aus dem eines souveränen Bürgers unwürdigen Status "eines bloßen Objektes staatlichen Handelns" (BVerfG) befreit und in die Lage versetzt werden, als "Subjekte des Verfahrens" auf gleicher Augenhöhe mit der Behörde ihre Rechte vollumfänglich in Anspruch zu nehmen. Das setzt freilich voraus, dass die Berater selbst sich dieser rechtlichen und systematischen Grundlagen bewusst sind.

Der Gesetzgeber hat nun - aus verfassungsrechtlich zwingendem Grund - an den Anfang aller Prüfungen die Frage gestellt, ob ein Wehrpflichtiger den körperlichen (und psychischen) Anforderungen des Dienstes ohne Gefahr einer gesundheitlichen Schädigung gewachsen ist. Zwingend deshalb, weil der, der keinen Wehrdienst zu leisten hat, auch keinen Zivildienst zu leisten hat. Alles andere wäre eben jene in den Köpfen vieler Bürger herumspukende "allgemeine Dienstpflicht", die die Verfassung aus gutem Grund gerade nicht zulässt.

Das hat zwangsläufig zur Folge, dass dieser ersten Fragestellung "Ist ein Wehrpflichtiger nach den Regeln des Gesetzes wehrdienstfähig oder nicht?" mit größter Sorgfalt nachzugehen ist, bevor weitere Eingriffe in seine ansonsten geschützte Freiheit geprüft und eventuell hingenommen werden können (d.h. er erst dann vor die Frage gestellt wird, ob er den Kriegsdienst verweigern muss).


Die Beratungsfalle

Zu dieser Prüfung und der daraus folgenden Beratung - das muss man allerdings in aller Offenheit sagen - sind die meisten (jedenfalls die nichtanwaltlichen) Berater aus ganz und gar verständlichen Gründen bisher weder fachlich noch inhaltlich noch organisatorisch ausreichend in der Lage.(27)

Gerade in diesem Bereich der Prüfung des Vorliegens dieser Heranziehungsvoraussetzungen genügt es aber auch nicht, die Wehrpflichtigen faktisch sich selbst zu überlassen, weil sie in aller Regel auch nicht im Ansatz die dafür erforderlichen Kenntnisse besitzen. Schon der bloße Rat, sie seien dazu etwa unter Hinzuziehung ihrer behandelnden Ärzte selbst in der Lage, ist - weil er fachkundig zu sein scheint - gefährlich und fatal. Therapeutisch tätige Ärzte sind in aller Regel nicht in der Lage, die hier erforderliche und völlig anderen Gesichtspunkten und Argumentationsmustern folgende Belastbarkeitsprognose zu erstellen, auf die es rechtlich alleine ankommt. Und wer keinen "behandelnden" Arzt hat, hält sich dann schon deshalb für wehrdienstfähig - ein fataler Irrtum.

Gerade bei der Beurteilung der "Wehrdienstfähigkeit" geht es nämlich um eine ziemlich komplexe Verknüpfung rechtlicher und (medizinisch-)fachlicher Fragestellungen und Faktoren, die ein Laie regelmäßig nicht überblickt und an denen selbst Juristen nicht selten scheitern.

Schon die Selbsteinschätzung eines Wehrpflichtigen, welche Tauglichkeitseinschränkenden Umstände bei ihm überhaupt vorliegen, ist - wie die langjährige Erfahrung zeigt - regelmäßig falsch, weil er weder die Kriterien kennt, auf die es rechtlich ankommt, noch die einschlägigen inneren physischen Dispositionen sehen oder, wo er etwas davon spürt, angemessen interpretieren kann. Vollends in die Irre geführt wird er zudem dann, wenn er an jemanden gerät, der ihm erklärt, dies mithilfe jener obskuren Zentralen Dienstvorschrift (Anm. d. Red.: der Bundeswehr; ZDv) 46/1 kompetent und verlässlich erklären zu können, weil doch auch die Behörde hieran ihre Entscheidungen orientiere. Diese ZDv 46/1ist der denkbar schlechteste, weil irreführende Berater zu diesen Fragen und ist rechtlich - allem dazu entfalteten behördlichen Getöse und auch unter Beratern weit verbreiteten Missverständnis zuwider - auch praktisch ohne Bedeutung.(28)

Das alles führt dann aufgrund mangelnder Kenntnisse auch der Berater - bisher und wie mir scheint: zunehmend - gelegentlich zu einer fatalen Beratungs-Falle, indem diese Themen - sei es aus Unkenntnis, dass und in welchem Umfang diese Prüfungsnotwendigkeit überhaupt besteht, oder sei es aus Unerfahrenheit - einfach ausgeblendet werden und sich die Berater - freilich in bester Absicht - auf die Frage konzentrieren, wie man statt Wehrdienst Zivildienst leisten kann.

Wir erleben als Anwälte immer wieder, dass Mandanten mit folgender oder ähnlicher Vorgeschichte kommen: Es wurde ihnen zunächst vor der Musterung - wie sie glauben durften: fachkundig und kompetent, weil von einem Berater stammend - geraten, die Wahrscheinlichkeit einer Einberufung sei denkbar gering, (was indes in dieser Abstraktheit schon deshalb falsch und nichtssagend oder reine Spekulation ist, weil aus den allgemeinen Einberufungsstatistiken auch nicht ansatzweise entnommen werden kann, welche "Verwendungssymbole", die für die Heranziehung maßgeblich sind, in welcher Größenordnung bei dem jeweiligen Kreiswehrersatzamt angefordert werden und der Wehrpflichtige zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen kann, welches "Verwendungssymbol" er erhalten wird, und dabei unberücksichtigt bleibt, dass sich in den langen fünf Jahren der Einberufbarkeit wegen der unterschiedliche Jahrgangsstärken der Einberufungsanteil erheblich ändern kann), sie sollten die Musterung einfach und eher passiv über sich ergehen lassen oder allenfalls mal eben ein paar "Atteste vom Hausarzt"(29) besorgen (die dann meist nichtssagend oder Gefälligkeitshalber "wohlwollend" formuliert sind und das Gegenteil dessen bewirken, was beabsichtigt ist - meist können die Wehrpflichtigen nicht einmal beurteilen, was aus den dortigen diagnostischen Angaben folgt!), sie sollten auf Zurückstellung wegen der Ausbildung spekulieren oder darauf, dass man sie "vergessen" werde (also sich eigentlich wegducken und wie die kleinen Kinder, die die Hand vor die Augen halten in der Annahme, dann seien sie nicht da), und schließlich, sie sollten passiv auf die Einberufung warten und dann noch schnell den KDV-Antrag stellen (was im günstigsten Fall dann zum Zivildienst führt, ohne je seriös geprüft zu haben, ob es dazu überhaupt kommen musste).

Das ist - stellt man die Interessen der Ratsuchenden in den Vordergrund und die eigene Lust am Beratungsbetrieb und an der fünf Jahre währenden Betreuung dahinter zurück - nach meiner Überzeugung und Erfahrung unter vielerlei Gesichtspunkten vollkommen inakzeptabel:

Ich halte es nicht für vertretbar, den Ratsuchenden letztendlich in die fünfjährige Warteschleife der Spekulation auf die Statistik zu schicken, weil es ihn zwangsläufig in seiner Entscheidungsfreiheit massiv behindert, wenn er immer noch das Damoklesschwert der Einberufung über sich hat, ohne wirklich planen zu können, während er die Frage der Wehrpflicht bei gezielter Herangehensweise längst geklärt haben könnte. Daraus entstehen dann immer wieder solche inakzeptablen Situationen wie die, dass ein Studium künstlich verlängert, ein eigentlich gewünschter Studienfachwechsel unterlassen wird aus Sorge um den Bestand der Zurückstellung, oder ein Auslandsaufenthalt nicht angetreten wird in der Sorge, durch den notwendig werdenden Antrag auf Verlassensgenehmigung die Behörde auf sich aufmerksam zu machen, ein Arbeitsplatz nicht angenommen werden kann, der nur bei Planungssicherheit vergeben wird u.v.a.m., nur weil sonst das hilflose und auf Sand gebaute Konstrukt der Verschiebetaktik ins Wanken gerät - mit unabsehbaren Folgen nicht nur für die berufliche Karriere.

Ziel der Beratung kann es nicht sein, fünf Jahre lang durch Trickserei und Versteckspiel das eigene Leben auf die Wehrpflicht einzustellen, sondern Ziel kann es nur sein, so früh wie möglich zu prüfen, ob und ggf. wie die Ratsuchenden nach den Regeln des Gesetzes davon zu befreien sind - und das sind sie ja! Allerdings ist es ein Mindestgebot der Fairness den Ratsuchenden gegenüber, sie mindestens auch über diese Alternativen offen und wahrheitsgemäß aufzuklären.


"Offensive Auseinandersetzung auf gleicher Augenhöhe"!

Mindestens ebenso wichtig ist mir aber, klarzumachen, dass ich es für völlig inakzeptabel halte, jungen Bürgern bei der in der Regel ersten Gelegenheit ihres Kontaktes mit "Staat" nahezulegen, sich trickreich vor diesem Staat davonzuschleichen, anstatt sich auf gleicher Augenhöhe, die in einem Rechtsstaat durch das Recht hergestellt wird (und auch das Musterungsverfahren bei der Behörde ist ein rechtlich geordnetes Verfahren!), offensiv mit ihm auseinanderzusetzen und ihm diejenigen Grenzen aufzuzeigen, die ihm durch das Gesetz gezogen sind. Den Ratsuchenden als Erstes und fast Einziges beizubringen, dass sie ja durch falsche oder "ungerechte" Einberufungspraxis, die mit noch so eindrucksvollen und großformatig präsentierte Statistiken belegt werden mag, die die Ratsuchenden aber ohnehin in der Regel kaum durchschauen, vom Staat um ihre Freiheit betrogen würden, anstatt sie über die sperrangelweit offen stehende Tür der gesetzlichen Möglichkeit der Erledigung der Wehrpflicht umfassen zu informieren, prägt zwangsläufig bei ihnen ein Verständnis des Verhältnisses von Staat und Bürger, das ich für fatal halte.

Das regelmäßige Ergebnis solcher asymmetrischen Beratung mag zu Zeiten noch weniger als solches aufgefallen sein, als wenigstens ein gewisser Prozentsatz der Wehrpflichtigen den Tauglichkeitsanforderungen für die Ableistung des Wehrdienstes selbst bei genauster Sachverhaltsaufklärung noch genügt hat. Seit das nicht mehr der Fall ist, weil der Gesetzgeber die Tauglichkeitsanforderungen - wie man annehmen muss: in vollkommener Unkenntnis dessen, was er da regelt - 2004 geändert hat, muss man eigentlich bei jedem, der in eine derartige Einberufungssituation gerät, wie ich sie beschrieben habe, sagen: "Das hätte nicht sein müssen. Bei rechtzeitiger und richtiger Herangehensweise wäre das Thema Wehrpflicht und damit die Gefahr eines Eingriffs in die Freiheit dieses Bürgers bereits mit der Musterung beendet gewesen."

Im Kern sollte es also bei der Beratung von ratsuchenden Wehrpflichtigen in diesem Abschnitt zunächst darum gehen, sie über diese systematischen Zusammenhänge aufzuklären, sie aus der Position eines Bittstellers der Behörde gegenüber zu befreien, ihr Bewusstsein dafür zu schärfen, dass sie aktiv handelnde Verfahrensbeteiligte und nicht Objekt des Verfahrens sind und dass daher die fast schon eingefleischte Methode des Wegduckens falsch, kontraproduktiv und gefährlich - und im Übrigen auch unwürdig ist.

Es geht mithin zunächst (ganz ähnlich wie bei der klassischen Beratung zur KDV) darum, mentale Barrieren zu beseitigen, die den Wehrpflichtigen immer wieder den Blick auf die rechtliche Situation verstellen, anstatt ihnen ein rosarot gefärbte Brille der Hoffnung auf ungewisse statistische Bewegungen und behördliche Fehler zu verpassen, und sie dann in großer Zahl doch in einen - gerade unter Anlegung gesetzlicher Maßstäbe - völlig überflüssig Dienst treiben zu lassen oder sie jedenfalls über Jahre dieser ungewissen Gefahr auszusetzen. Jedenfalls für die anwaltliche Beratung wäre das ein grober Kunst- und Beratungsfehler.

Es geht ferner darum - und das halte ich persönlich für genauso wichtig wie die notwendige und wünschenswerte kritische Diskussion über Militarismus/Pazifismus -, das rechtsstaatliche Bewusstsein der Wehrpflichtigen zu schärfen und sie in die Lage zu versetzen, als souveräne Bürger zu agieren. Das ist nicht nur aus der gesetzlichen Systematik heraus notwendig, weil vor der Entscheidung über Wehr- und Zivildienst die grundsätzliche Frage der Heranziehung zu klären ist, sondern es stärkt - wie die Geschichte und die Erfahrung zeigen - auch die Bereitschaft, staatliches Handeln nicht als naturhafte Vorgänge zu sehen, sondern als solche, die man kritisch auch nach ethischen Maßstäben beurteilen darf und muss und die man auch aktiv beeinflussen kann und darf.


Zivildienst ist kein Ablasszettel

Was bedeutet das also zusammenfassend für die "Beratung von Kriegsdienstverweigerern und Wehrpflichtigen" unter den veränderten Bedingungen, die ich eingangs beschrieben habe?

Am Anfang aller Beratung sollte nach so viel scheinbar eingefleischter Verwirrung der verbreiteten Vorstellungen über die Zusammenhänge wieder die Aufklärung über die rechtliche und systematische Einordnung der Wehrpflicht und aller daraus resultierenden Vorgänge stehen, um jenes rechtsstaatliche Bewusstsein wieder aufzubauen, das Grundlage der Verfassung ist und das die Zusammenhänge und die sich daraus ergebenden Abwehrmöglichkeiten erst wieder verstehbar und handhabbar macht.

Aber dabei alleine sollte es selbst dann nicht bleiben, wenn schon bei der Musterung die Frage der Wehrpflicht im Einzelfall gelöst werden kann. Wehrpflichtige sollten - wo möglich - auch dann mit der ethischen Problematik des Militarismus konfrontiert und dafür interessiert werden. Dazu gibt es vielerlei Möglichkeiten und Anlässe.

Gegenwärtig ist die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer als solche kein wirkliches Problem mehr. Das kann und wird sich vermutlich ändern, wenn die Kriegseinsätze der Bundeswehr zunehmen.(30) Bereits jetzt zeichnet sich eine deutliche, gewollte (nämlich zwischen BMVg einerseits und BAZ andererseits abgesprochene!) Verschärfung der Anerkennungspraxis bei Berufs- und Zeitsoldaten ab. Es spricht vieles dafür, dass sich das auch bei wehrpflichtigen Soldaten so fortsetzen wird.

Zudem sind die Regelungen, die seinerzeit zur Abschaffung der inhaltlichen Gewissensprüfung führen sollten, nämlich die Reduzierung der Prüfung auf äußere Tatsachen, sang- und klanglos (und leider ohne jeden Widerstand der Verbände, Kirchen usw., die sie seinerzeit durchgesetzt haben(31) aus dem KDV-Gesetz gestrichen worden, so dass einer Verschärfung der Prüfungspraxis bis hin zur alten Willkür der frühen Jahre nichts mehr im Wege steht. Da kann es wieder spezifischen Beratungsbedarf geben.

Die Aufgabe, die sich den Beratern, den Verbänden, den Kirchen (auch den Anwälten!) stellt, könnten also unter diesen veränderten Bedingungen neue Inhalte, Wege und Akzente fordern: Diese könnten perspektivisch in der Aufkündigung des Stillhalteabkommens zwischen Pazifisten und Militärs liegen, indem die ethische Diskussion über militärische Logik vor dem Hintergrund steigender Kriegsgefahr neu entfacht und offensiv geführt wird. An Anlässen dazu fehlt es nicht, wohl aber evtl. an der notwendigen Courage oder Initiative.

Die schleichende Vereinnahmung der Zivilgesellschaft durch militärische Logik auf vielen Gebieten könnte (wieder) zum Thema werden. (Dazu müssten Berater vielleicht wieder aus den Beratungszimmern hinaus in die Schulen, die Kirchen, die öffentlichen Plätze etc. gehen.)

Es muss wieder deutlicher werden: Wenn man sich als Kriegsdienstverweigerer bzw. Pazifist versteht, dann ist die Ableistung des Zivildienstes - so sozial wertvoll der Umstand der Hilfe für Hilfsbedürftige ist - kein Ablasszettel für die Verantwortung jedes Einzelnen für den Einsatz militärischer Gewalt "im Namen des Volkes", also auch im eigenen Namen, ob man daran nun unmittelbar beteiligt ist oder nicht.

Wer Soldat ist oder Soldaten einsetzen will, muss sich die Frage nach seinem Verhältnis zur Ethik der Zivilgesellschaft gefallen lassen und darf nicht mit der Ausrede davonkommen, diese werde auch im Krieg beachtet und gar verteidigt. Eine Armee, die sich dieses tiefen Konfliktes nicht in jeder Lage bewusst ist, wird nicht verantwortungsbewusst Waffen verwalten und Soldaten einsetzen können.

Die fortschreitende - jedenfalls äußerliche - Gleichgültigkeit der nachwachsenden Generationen gegenüber der Gefährdung der Zivilgesellschaft durch Militarismus muss uns ebenso unruhig und aktiv machen wie das Ersterben der Pazifismus/Militarismus-Diskussion.

Der schleichende Abbau und das notorische Defizit an Rechstaatlichkeit im Bereich des Wehrrechts muss als ein Umstand offengelegt werden, gegen den es sich im Interesse einer freiheitlichen und republikanischen Gesellschaft und Staatsordnung zu wehren gilt.

Die noch so begrüßenswerte Rundumversorgung der Wehrpflichtigen per Website weckt für sich alleine nicht das Bewusstsein für die grundsätzlichen Probleme, sondern macht die Beratungsstellen zu bloßen Dienstleistern beim Surfen an der Oberfläche.

So gesehen könnte man der ideologisch vielfach missbrauchten und notorisch missverstandenen "Allgemeinen Wehrpflicht" gleichsam eine "alternative Wehr-Pflicht der Pazifisten" entgegensetzen: Die Pflicht eines Bürgers in einem freiheitlichen und republikanischen Rechtsstaat, sich gegen die Tabuisierung der Logik militärischer Gewalt, gegen die Bereitschaft zur beliebigen Opferung einer unbestimmten Vielzahl von Menschen zu einem bestimmten, (für gut gehaltenen) Zweck, zu Lasten der ethischen Normen der Zivilgesellschaft und ihrer Verfassung zu wehren, sich gegen staatliche Übergriffe - oder wenn man so will: gegen die geradezu naturhafte Übergriffigkeit staatlicher Behörden beim Vollzug des Wehrrechts - zu wehren.

Wenn es in der Beratung von Wehrpflichtigen gelingt, dieses Bewusstsein zu schaffen und zu stärken, sie also zu "Verteidigern von Rechtsstaatlichkeit" und zu "Verteidigern der ethischen Normen einer Zivilgesellschaft" und nicht lediglich zu "Zivis" zu machen, dann hätte der Begriff der "allgemeinen Wehrpflicht" einen neuen, der Verfassung entsprechenden Sinn und Inhalt, der für die Betroffenen weit über die Frage der Ableistung von Wehr- oder Zivildienst hinausreichen könnte. Denn die ethischen Normen einer Zivilgesellschaft und der freiheitliche Rechtsstaat, wie sie beide in der Verfassung verankert sind, können nur im Alltag der Bürger und tagtäglich gegenüber einem sich verselbständigenden Staatsapparat wirksam verteidigt werden - und nicht am Hindukush - allerdings: auch nicht alleine dadurch, dass man "Zivi" wird.


Anmerkungen

(1) 1950 erfolgt die Ernennung von Theodor Blank zum "Beauftragten des Bundeskanzler für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen".

(2) Die Begriffe "Militarismus" und "Pazifismus" werden in den folgenden Ausführungen bewusst auf diesen Kern reduziert verwendet, nämlich Militarismus als die Bereitschaft einer Gesellschaft, Krieg zu führen bzw. sich darauf vorzubereiten, und Pazifismus als Weigerung des Einsatzes militärischer Gewalt - wohl wissend, dass sie sich darin nicht erschöpfen und damit nichts über die geselqelschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen von Militarismus und Pazifismus, bei letzterem auch nichts über dessen ganz unterschiedliche Strömungen, gesagt ist.

(3) Ich erinnere mich noch gut daran, dass in den ersten Jahren der Anerkennungsverfahren Antragsteller einschließlich ihrer Beistände (!) während des gesamten Aufenthaltes in der Behörde unter ständige Bewachung von Bediensteten gestellt wurden, die aber zugleich Redeverbot hatten, als ob die Antragsteller die Behörde mit gefährlichem Gedankengut kontaminieren könnten.

(4) Entgegen einer gewissen Legende meiner Generation, der so genannten "68er", war KDV in dieser Phase nach meiner Erfahrung nicht in erster Linie Resultat einer kritisch-rationalen Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, sondern viel eher ein Stück stiller Konsens und Identifikation mit deren Kriegstrauma.

(5) z.B. Ilany Kogan, Der stumme Schrei der Kinder, 1998

(6) Dazu gehört auch der - mir immer unverständlich gebliebene - Kampf um die Umbenennung des in der Verfassung ausdrücklich so benannten "zivilen Ersatzdienstes" zum "Zivildienst". Wenn überhaupt, müsste man die Verweigerung des Kriegsdienstes selbst als "Zivildienst", nämlich Dienst an der Zivilgesellschaft bezeichnen.

(7) Grundsatzprogramm der Grünen 1980: "Gewaltfreiheit gilt uneingeschränkt und ohne Ausnahme", keine "Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt durch Kriegshandlungen"; einige Jahre später immerhin noch: "Bündnis 90/Die Grünen sind nicht bereit, militärische Friedenserzwingung und Kampfeinsätze mitzutragen." Ziel grüner Politik bleibe die "Entmilitarisierung der Politik - bis hin zur Abschaffung der Armee und zur Auflösung der Nato".

(8) "Gesetzliche Regelungen müssen ausschließen, dass der wehrpflichtige Bürger den Wehrdienst nach Belieben verweigern kann." BVerfG, Urteil v. 13.04.1978 - BverfGE 48, 127, 168f., 170

(9) Der Einsatz von Massenvernichtungsmitteln ist dafür ebenso ein Beispiel wie der Einsatz von Agent Orange im Vietnamkrieg 1967, das unvermeidliche und daher einkalkulierte "Friendly Fire" ebenso wie gar die Hinnahme der Vernichtung eines Teils der eigenen Kriegsflotte mit 2.400 Toten, um die Zustimmung der eigenen Bevölkerung zum Kriegseintritt zu erreichen (Pearl Harbor) u.v.a.m.

(10) Sack, John, Ich war gern in Vietnam. Leutnant Calley berichtet. Aufgezeichnet von John Sack, Nachwort von Klaus Horn, Frankfurt am Main, Fischer, 1972,.

(11) http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/0,1518,479393,00.html

(12) Vgl. Von Joachim Trenkner, in: Die Zeit 07/2003
www.zeit.de/2003/07/A-Wielun?page=all

(13) Als Feuer vom Himmel fiel, Spiegel Spezial vom 01.04.2003,
www.spiegel.de/spiegelspecial/0,1518,ausg-1222,00.html

(14) Hans Brunswig: Feuersturm über Hamburg, Stuttgart 1978, S. 400 ff.; Malte Thießen: "Gedenken an 'Operation Gomorrha'. Hamburgs Erinnerungskultur und städtische Identität", in: Dietmar Süß (Hrsg.): Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung. München 2007

(15) Neue Luftangriffe auf Nord Vietnam, Die Zeit, 27.11.1970 Nr. 48,
www.zeit.de/1970/48/Neue-Luftangriffe-auf-Nord-Vietnam

(16) Die späte Reue der Atom-Pioniere, Spiegel Wissenschaft vom 06.08.2005,
www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,368129,00.html

(17) Das schließt freilich nicht aus, dass nicht jedes vorgehen einer Armee in diesem Sinne primär militärisches vorgehen sein muss. Befürworter der Bundeswehr berufen sich gerne auf die humanitären Einsätze in Afghanistan. Soweit diese tatsächlich technisch-humanitärer Natur sind, stellt sich dann allerdings stets die Frage, wozu man dann Soldat sein muss, um solche Tätigkeiten zu vollführen.

(18) Alexander Mitscherlich; Fred Mielke: Wissenschaft ohne Menschlichkeit: Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg. 1. Aufl., Heidelberg: Schneider 1949. (Die gesamte Auflage dieses von der Mehrheit der damaligen Ärzteschaft nicht eben geschätzten Buches wurde von den Ärztekammern aufgekauft und ist erst 1960 als Fischer Taschenbuch unter dem Titel "Medizin ohne Menschlichkeit" neu erschienen; ebenso Angelika Ebbinghaus, Klaus Dörner, Karsten Linne (Hrsg. und andere), Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47. Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, K.G. Saur-Verlag 1999. Deutsche Ausgabe. Hrsg. im Auftrag der Stiftung Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Mikrofiche-Edition. München: K.G. Saur Verlag, 1999, 381 Fiches mit Erschließungsband. ISBN 3-598-32020-5 (Erstveröffentlichung der vollständigen Akten)

(19) Unternehmen Artischocke von Egmont R. Koch; Michael Welch, Bertelsmann Verlag 2002; siehe auch
www.bordeninstitute.army.mil/published_volumes/ethicsVo12/Ethics-ch-18.pdf

(20) vgl. Michael Hofferbert, Rechtliche Aspekte der Katastrophenmedizin, in: Katastrophenmedizin oder: Die Lehre vom ethisch bitteren Handeln, Neckarsulm und München, 1987: S. 137 ff

(21) Urteil des Ersten Senats vom 15.02.2006 - 1 BvR 357/05 -

(22) Urteil vom 25. Februar 1975 - 1 BvF 1, 2, 3, 4, 5, 6/74 - = BverfGE 39, 1ff.

(23) Die dagegen übrigens von den so genannten Totalverweigerern alter Prägung gerichtete Kritik, der Staat habe schon nicht das Recht, eine Gewissensentscheidung und gar deren Begründung zu verlangen, setzt sich nach meinem Verständnis leicht dem verdacht aus, dass sie sich allzu sehr an einem Bild des Verhältnisses von Staat und Bürger orientiert, das vorrepublikanischen Verhältnissen entlehnt ist.

Mag man doch eine Begründung fordern. Wer das tut, könnte dann leicht eine vorgehalten bekommen, bei der er sich evtl. wünschen könnte, sie nie gefordert zu haben, denn er wird in den Spiegel der Verfassung und der ethischen Regeln sehen müssen, die er gerade zu verteidigen vorgibt: Und dieses Bild eines zwar harmlos aussehenden, aber notfalls auch zum Massenmord entschlossenen Soldaten wird ihm kaum gefallen können.

(24) Wie Der Spiegel im März 1956 berichtete, sei dessen strategiseher Plan für die Nato "ebenso einfach, wie seine Konseqnenzen für das deutsche Gebiet ostwärts der Zonengrenze fatal sind. Der General Schuyler hat errechnet, dass er in der Lage ist, mit dem zusammengefassten Feuer aller taktischen Atom-Waffen der Nato jeden sowjetischen Aufmarsch zwischen Lübeck und Passau in einer Tiefe von einigen hundert Kilometern zu zerschlagen, sodass ein Angriff der Sowjets schon in der Bereitstellung ersticken müsste. (...) Für diesen Zweck hält der Nato-Stabschef - vorläufig im Westen und Südwesten der Bundesrepublik - an taktischen Atom-Waffen parat:

Atom Kanonen (fünf Bataillone mit je sechs Geschützen, Kaliber: 28 Zentimeter, Reichweite: 35 Kilometer);
"Honest Johns" (nicht ferngelenkte Raketen, Durchmesser: 72,2 Zentimeter, Reichweite: 32 Kilometer);
"Corporals" (ferngelenkte Raketen, Länge: 12,19 Meter, Durchmesser: 76 Zentimeter, Reichweite: 241 Kilometer);
"Matadore" (zwei Staffeln mit je 75 unbemannten ferngelenkten Bombern in Bitburg und Hahn [Rheinland-Pfalz], Länge: 12 Meter, Spannweite: 8,7 Meter, Reichweite: 800 Kilometer).

Außerdem verfügt Shape noch über Schlachtfliegerverbände mit 600 Jabos, die mit taktischen Atom-Bomben ausgerüstet werden können. Sollten die Sowjets nun tatsächlich jemals angreifen, dann schwirren nach Schuylers Plan die Honest Johns, Corporals und Matadore ab, die Atom-Kanonen brüllen los, die Jabos werfen ihre Bomben und Mitteldeutschland wird im Feuerwirbel der Atomgeschosse mit einer Sprengwirkung von je 10.000 bis 15.000 TNT Tonnen zur grausigen Ödnis. Zwischen Lübeck und Rostock, zwischen Fulda und Leipzig, zwischen Passau und Brünn würde die Hölle sein."

Der Verfasser der "flexiblen" und die Zivilbevölkerung "schonenderen" Verteidigung, ein Oberst v. Bonin, wurde angesichts solch argumentativer Übermacht (die auch die Rüstungsindustrie erfreut haben dürfte) unter einem Vorwand aus dem "Amt Blank" entlassen. Zu dessen Karriere auch:
www.bundesarchiv.de/foxpublic/EA4FCAC00A06221200000000313040E0/frame. jsp?detail=findmittelinfo.html&oben=findmittelinfo_oben,html

(25) Man kann häufig nur mit Erstaunen konstatieren, mit wie viel Sorglosigkeit unter allerlei unkundiger Beratung bei der Musterung gezielt falsche "Atteste" vorgelegt werden, was immerhin mit Freiheitsstrafe bedroht ist. Wenn man dann zugleich feststellt, dass eben diese Kandidaten regelmäßig über eine ganze Reihe von physischen Faktoren verfügen, die ihre Einberufung völlig legal ausschließen, dann wird die Verantwortungslosigkeit, mit der solche Ratschläge erteilt werden, besonders offenkundig.

(26) Schon das Fehlen der Begründung der Tauglichkeitseinstufung hat den alleinigen Sinn, den Wehrpflichtigen die notwendigen Informationen vorzuenthalten, die sie allererst in die Lage versetzen würden, zu prüfen, aufgrund welcher tatsächlicher Feststellungen die Behörde ihre Entscheidung getroffen hat und ob die mindestens schlüssig ist. Die Mitteilung von - auch rechtlich - völlig unsinnigen, sprachlosen Jargonfetzen wie "T2" erinnert eher an den Gütestempel bei einem Zuchtbullenwettbewerb als an eine Begründung in einem rechtsstaatlichen Verfahren, die nachvollziehbar sein soll. Was wie Trägheit und Schlamperei wirkt, dient offensichtlich alleine dem Zweck, die Anfechtung zu erschweren oder zu verhindern. Denn was soll denn einer schon gegen "T2" sagen? Gegen die allemal zumutbare Feststellung, "wir haben bei Ihnen die körperlichen Merkmale ABC festgestellt und sind der Auffassung, dass die daraus bei der Ableistung des Wehrdienstes entstehenden Folgen XYZ zumutbar sind, weil...", würde dem einen oder anderen schon nahelegen, dieses Ergebnis kritisch infrage zu stellen.

(27) In der Regel dürften sie bisher allerdings auch nicht die Berechtigung besitzen, in diesen Bereichen zu beraten. Dazu genügt auch nicht die bloße kirchliche Beauftragung welchen Inhalts auch immer, weil die Kirchen das Recht zur Rechtsberatung außerhalb der gesetzlichen Vorgaben, die für kirchliche Berater auf die Beratung zur KDV beschränkt ist, nicht verleihen können.

(28) Ganz abgesehen davon, dass die dort aufgeführten Kriterien als solche, nämlich zur Abgrenzung medizinischer Sachverhalte unter dem Gesichtspunkt der Belastbarkeit, weitgehend bis vollkommen ungeeignet sind, werden diese Abgrenzungen in aller Regel zudem von Laien noch falsch gelesen, weil sie einer ganz bestimmten und aus dem Text sich nicht erschließenden Systematik folgen. Und zu allem Überfluss: Auch von der überwiegenden Zahl der Mitarbeiter der medizinischen Dienste der Wehrbehörden werden sie falsch gelesen und folglich falsch angewendet, von den niedergelassenen Ärzten ganz zu schweigen. Die dort aufgeführten Kriterien entstammen nämlich nicht einer im strengen Sinne wissenschaftlich-medizinischen Beurteilung, sondern im Kern einer statistischen Auswertung, wer von denjenigen, bei denen bei der Musterung X oder Y festgestellt wurde, dann im Sanitätsdienst mit welcher Häufigkeit wieder auftaucht. Es geht bei der Anwendung der ZDv 46/1 also - auf den Punkt gebracht - weniger um die gesetzlich alleine bedeutsame Belastbarkeitsprognose, die auf eine mögliche zukünftige (und über die Dauer des Wehrdienstes weit hinausreichende!) Veränderung des Gesundheitszustandes zielt, sondern um die Auffälligkeits- oder - wenn man so will - "Lästigkeitsprognose" während des Wehrdienstes. Das ist übrigens militärisch konsequent!

(29) So verblüffend es auch klingen mag: Das Schlimmste oder mindestens Irreführendste, was einem Wehrpflichtigen passieren kann, ist ein Hausarzt, der selbst Wehrdienst geleistet hat und daher glaubt, durch die Kenntnis der ZDv 46/1 die Kriterien zu kennen, auf die es für die Musterung rechtlich ankomme. Der Patient vertraut ihm und erfährt dadurch in aller Regel nicht, welche physischen Bedingungen bei ihm vorliegen, auf die es für die Belastbarkeitsprognose ankommt, die aber nicht im Blickfeld des Therapeuten liegen, weil sie therapeutisch irrelevant sind.

(30) Daran ändert sich übriges auch nichts dadurch, dass Wehrpflichtige gegenwärtig (noch) nicht zu solchen Einsätzen herangezogen werden. So wenig sich die breite Öffentlichkeit 1946 eine neue deutsche Wehrmacht vorstellen konnte oder wollte, so wenig man sich noch vor 15 oder 20 Jahren hierzulande vorstellen konnte, dass die Bundeswehr in den Krieg zieht, ohne angegriffen zu sein, so wenig können und wollen sich heute manche vorstellen, dass Wehrpflichtige zum Waffeneinsatz im Krieg herangezogen werden - aber so wenig verlässlich ist solche Hoffnung auch. Die ersten Einsätze der Bundeswehr im Ausland waren "humanitäre" Einsätze des Sanitätsdienstes etc. Sehr schnell hat sich aber erwiesen, dass damit lediglich die Akzeptanz auch ganz anderer Einsätze vorbereitet werden sollte. Sicher werden Wehrpflichtige ggf nicht sofort zu direkten Kampfeinsätzen, sondern zunächst zur "Katastrophenhilfe" o.ä. herangezogen werden; wenn etwa die absehbaren Folgen der Klimaveränderungen z.B. zu Überschwemmungen ebenso wie zu Wassermangel oder Hungersnöten und globalen Wanderungsbewegungen führen, die die (auch militärischen!) Planervoraussagen. Aber auch diese Grenze wird verwischt werden, wenn erst einmal die ersten Schritte im öffentlichen Bewusstsein akzeptiert sind. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und vorsitzende des Nato-Militärausschusses und heutige Berater der Bundesregierung, Klaus Naumann (übrigens: auch Aufsichtsratsmitglied des französischen Rüstungskonzerns Thales Group), von dem auch die Erkenntnis stammt, "es gelten nur noch zwei Währungen in der Welt: Wirtschaftliche Macht und militärische Mittel, sie durchzusetzen" (Spiegel 03/1993), hat dies schon zu Zeiten in Strategiepapieren formuliert, zu denen die Öffentlichkeit noch nicht einmal geahnt hat, wie bald es zum ersten kriegerischen Einsatz der Bundeswehr kommen wird.

(31) Vgl. Fritz/ Baumüller / Brunn, Kommentar zum KDVG, Rdnrn. 5, 22 zu 5 KDVG


*


Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 20, IV/2008, S. 8 - 21
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2009