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BERICHT/212: Kriegsdienstverweigerung und Antirekrutierung verbinden (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 4 - September 2008
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Alter Wein in neuen Schläuchen
Kriegsdienstverweigerung und Antirekrutierung miteinander verbinden und KDVer "richtig" beraten

Von Klaus Pfisterer


Die KDV-Arbeit in der DFG-VK wird weiter ein Standbein unserer Arbeit sein. Dazu ist der Neuaufbau eines Beraternetzes notwendig, das über aktuelle Informationen verfügt. Die Verbindung zur Antirekrutierungsarbeit hat politisch Priorität. Das Bemühen der Zentralstelle KDV, ein bundesweites Beraternetz aus Mitarbeitern der Mitgliedsorganisationen aufzubauen, die professionell geschult werden sollen, wird unterstützt. Diese Ergebnisse wurden beim bundesweiten KDV-Beratertreffen am 31. Mai in Frankfurt am Main vereinbart, zu dem der Landesverband Baden-Württemberg gemeinsam mit dem Bundesverband eingeladen hatte.

Trotz erheblicher Reiseverzögerungen im Bahnverkehr wegen Unwetterschäden kamen 15 Aktive nach Frankfurt, die zum Teil seit Jahrzehnten KDV-Beratung machen.

Im letzten Jahr ist die Zahl der KDV-Anträge um 15 Prozent auf 161.448 gegenüber 140.756 Anträgen im Vorjahr deutlich gestiegen. Dieser Anstieg ist auf die drastisch erhöhte Zahl an Musterungen von 360.000 auf 451.000 zurückzuführen, ein Plus von 25 Prozent. Die Zahl der Soldatenverweigerungen stieg um fast 1.000 Anträge auf 3.119.

Das Seminar gliederte sich in zwei Teile. Im ersten Teil gab es eine Beraterschulung durch Rechtsanwalt Eberhard Kunz aus Wiesbaden vom Vorstand der Zentralstelle KDV, der alle wesentlichen Informationen zum aktuellen Stand "richtiger" KDV-Beratung ausführlich erläuterte.

Der zentrale Punkt der "neuen" Beratung: Kein Wehrpflichtiger soll vor oder bei der Musterung den KDV-Antrag stellen, sondern zunächst abwarten, ob er überhaupt tauglich ist. 2007 war fast jeder zweite Wehrpflichtige untauglich und muss keinerlei Dienst leisten. Kunz erläuterte, dass im vergangenen Jahr rund 20.000 Wehrpflichtige nur deshalb Zivildienst leisten mussten, weil sie vor der Musterung verweigerten. Der Grund: Wehrpflichtige mit bereits gestelltem KDV-Antrag werden zu einem höheren Prozentsatz tauglich gemustert als "normale" Wehrpflichtige, also solche, die zwar KDVer sind, aber noch keinen Antrag gestellt haben, oder diejenigen, die bereit sind, Bundeswehrdienst zu leisten.

Die Musterungen sind generell die Stellschraube, mit der die Regierung die Menge der für eine Dienstleistung zur Verfügung Stehenden steuert. Über Nicht- und Ausmusterungen wird diese bewusst klein gehalten. Vor dem Bundesverfassungsgericht ist nämlich ein Verfahren anhängig, bei dem die verfassungsgemäße Durchführung der Wehrpflicht geprüft wird. Das Verwaltungsgericht Köln sieht die aus dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes abgeleitete "Wehrgerechtigkeit" verletzt, weil die Heranziehung zum Dienst nicht gleichmäßig und gerecht erfolge und die Wehrpflicht damit willkürlich und nicht mehr verfassungsgemäß sei. Da es diese Thematik aber nicht selbst entscheiden kann, legte es die Frage dem Verfassungsgericht bereits im Frühjahr 2005 zur Entscheidung vor. Dort liegt sie seitdem, wann Karlsruhe entscheiden will, ist nicht bekannt. Die Strategie der Regierung für dieses Verfahren und den Eindruck in der Öffentlichkeit: Wenn willkürlich viele Wehrpflichtige nicht oder ausgemustert werden, reduziert sich die Zahl der potenziell Dienstleistenden. Da der Umfang der Bundeswehr reduziert wurde, die männlichen Jahrgänge aber gleichbleibend groß sind, wird der Schein erzeugt, jeder müsse Dienst leisten.

Eberhard Kunz informierte auch über den aktuellen Stand bei den KDV-Verfahren. Seit 2003 gibt es keine mündlichen Verhandlungen mehr. Alle Anträge werden vom Bundesamt für den Zivildienst im schriftlichen Verfahren entschieden. In der Regel werden die Anträge binnen kurzer Zeit anerkannt, wenn alle Unterlagen - KDV-Antrag, Lebenslauf und ausführliche schriftliche Begründung - vorliegen. Allerdings wurden in den vergangenen fünf Jahren rund 10.000 Ablehnungen wegen fehlender Unterlagen ausgesprochen. Mehrere hundert Anträge wurden wegen "ungeeigneter" Gründe abgelehnt.

Ein Schwerpunkt der Schulung war die Soldatenberatung. Die Gründe für den deutlichen Anstieg der KDV-Anträge von Soldaten sind im "Praxisschock beim Bund" zu finden. Der rüde Ton der Vorgesetzten schockiert viele Wehrpflichtige zu Beginn der Dienstzeit. Hinzu kommt, dass ihnen klar wird, dass sie tatsächlich an der Waffe und zum Töten ausgebildet werden. Die Auslandseinsätze haben kaum Auswirkungen hin zur Verweigerung, da zu ihnen nur Freiwillige, aber keine Wehrpflichtigen abkommandiert werden.

Einberufene und Soldaten werden innerhalb weniger Tage vom BAZ anerkannt, wenn alle Unterlagen fristgerecht eingereicht wurden. Bei Einberufenen wird dann die Einberufung sofort zurückgenommen, und sie leisten Zivildienst. Bei Soldaten wird das Dienstverhältnis umgewandelt und sie leisten ihren "Restzivildienst", wenn sie weniger als sechs Monate, Grundwehrdienst geleistet haben. Wenn sie bereits mehr als sechs Monate Grundwehrdienst hinter sich haben, entfällt meist die Restdienstzeit, weil kein geeigneter Zivildienstplatz zur Verfügung gestellt werden kann.

Zum Ende der Schulung stellte Eberhard Kunz die Planungen der Zentralstelle KDV über den Aufbau eines bundesweites Beraternetzes vor. Dieses soll überwiegend aus professionell geschulten Mitarbeitern der Mitgliedsorganisationen aufgebaut. Diese Idee traf auf breite Zustimmung, wenngleich die Kosten für die Schulung als sehr hoch eingestuft wurden. (Siehe nebenstehendes Programm)

Im zweiten Teil des Tages ging es um die KDV-Arbeit innerhalb der DFG-VK. Als Diskussionsgrundlage diente ein Thesenpapier von Klaus Pfisterer, demzufolge die KDV-Arbeit in der DFG-VK in vielen Regionen nahezu zum Erliegen gekommen ist. Nur noch vereinzelt wird gezielt und intensiv Beratung durchgeführt. Die Bundesgeschäftsstelle hat die Beratung vor vielen Jahren aufgegeben, und die Landesgeschäftsführer haben in ihren Landesverbänden andere Arbeitsschwerpunkte als die Beratung. Trotzdem wenden sich Wehrpflichtige an uns und fragen um Rat und Hilfe nach. Die unterschiedlichen Strömungen im Verband favorisieren ihre jeweiligen Kampagnen (www.machs-wie-dieter.de, "Wehrpflicht abschaffen" oder "Bundeswehr abschaffen), die sich in ihren Zielsetzungen teilweise widersprechen bzw. blockieren.

Die Diskussion brachte ein anderes Fazit. Die Widersprüche einzelner Kampagnen waren begründbar, sind heute jedoch überholt. "Die Pendel waren zu weit ausgeschlagen und müssen wieder zusammengeführt werden". Die einzelnen Kampagnen widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich. Die Kriegsdienstverweigerung ist für unser Selbstverständnis wichtig und darf nicht aufgegeben werden. Gerade die Öffentlichkeitsarbeit die im Mai zur Freilassung der bei der Bundeswehr inhaftierten Totalverweigerer führte, ist ein Beispiel für effiziente Presse- und Solidaritätsarbeit.

Die Antirekrutierungsarbeit muss mit der KDV-Arbeit verzahnt werden, denn viele Jugendliche haben keine, falsche oder unzureichende Informationen über die Bundeswehr und schlittern gedankenlos in den Grundwehrdienst. Die hohe Zahl der Soldatenverweigerungen im letzten Jahr (die sich in den ersten vier Monaten 2008 fortsetzte) ist ein Zeichen, dass wir hier ansetzen sollten und "nützliche Produkte" liefern, wie es ein Teilnehmer treffend formulierte. Hierfür bedarf es einer aktuellen Homepage, ansprechenden Informationsmaterialien und einem funktionierenden Beraternetz. Die anwesenden DFG-VK-Mitglieder vereinbarten, diese Aufgaben der Reihe nach anzugehen. Sie wollen sich vernetzen und Informationen austauschen. Die Änderung unseres Beratungsprofils muss an die anderen Berater weiter gegeben werden, weil sonst falsch beraten wird.

Als Ansprechpartner für spezielle KDV-Fragen haben sich Gottfried Müller (Kiel), Rüdiger Pusch (Frankfurt) und Klaus Pfisterer (Hochdorf) bereit erklärt. Sie sind auch bereit, neue Leute in die Beratung einzuarbeiten. Das KDV-Seminar hat sich gelohnt. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wurde intensiv über die KDV-Arbeit in der DFG-VK gesprochen. Die Bereitschaft der Anwesenden zur Fortführung der KDV-Arbeit ist ein Anfang, der in den nächsten Monaten erste Ergebnisse zeigen soll.

Wer in die Berater-Mailingliste aufgenommen werden möchte, wende sich bitte an: Klaus Pfisterer, eMail pfisterer@webstueck.de

Das nächste bundesweite Treffen ist für das Frühjahr 2009 geplant.


Klaus Pfisterer ist Sprecher des baden-württembergischen DFG-VK-Landesverbandes.


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Quelle:
ZivilCourage Nr. 4 - September 2008, S. 20-21
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK e.V.),
Kasseler Straße 1A, 60486 Frankfurt
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Erscheinungsweise: zweimonatlich
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Einzelheft: 2,00 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2008