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BERICHT/202: Quo vadis, Bundeswehr? (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 18 - II/2008
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

"Quo vadis, Bundeswehr?"
Sozialpsychologische Aspekte zweier Bundeswehr-Urteile

Von Manfred Pappenberger


Gleich zu Beginn eine Feststellung, um Missverständnisse zu vermeiden: Die Bundeswehr ist nicht Abu Ghraib, in der Bundeswehr wird nicht systematisch gefoltert, und Coesfeld ist nicht die Bundeswehr.

Allerdings hat das Landgericht Münster am 12. März im größten Prozess in der Geschichte der Bundeswehr um die Misshandlung von Rekruten in der Coesfelder Freiherr-vom-Stein-Kaserne sechs frühere Ausbilder zu Geld- und Bewährungsstrafen zwischen 10 und 22 Monaten verurteilt. Vier der Angeklagten wurden freigesprochen - weniger wegen erwiesener Unschuld als aus Mangel an Beweisen. Damit ist der juristische Aspekt des Komplexes zu Ende, der politische steht jedoch erst am Anfang. Denn wieder einmal musste ein bundesdeutsches Gericht eine Grenzziehung vornehmen, zu der die betreffende Institution selbst offensichtlich nicht in der Lage ist - das ist der eigentliche, der politische Skandal.

Der Coesfelder Fall landete vor Gericht, weil es einige wenige Kläger gab.

Die Bundeswehrpraxis sieht jedoch anders aus. Einer Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr "Truppenbild mit Dame" aus dem Jahr 2007 zufolge melden drei von vier Frauen sexuelle Belästigungen nicht. Eine Pilotstudie "Gewalt gegen Männer in Deutschland. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern" aus dem Jahr 2004 kommt zu der Erkenntnis, dass viele Gewaltakte, Misshandlungen und Demütigungen für die Institution Bundeswehr bis zu einem gewissen Grad bei allen Beteiligten als notwendig, selbstverständlich und legal angesehen werden. Eine klare Grenzziehung, wo diese legalisierte Gewalt endet und illegale Folterungen und Menschenrechtsverletzungen beginnen, ist für viele Rekruten nicht ersichtlich. Es liegt in der Struktur, es liegt am Klima in der Bundeswehr, dass alltägliche personale Gewalt von vielen Soldaten als Normalität wahrgenommen wird und hinter dieser scheinbaren Normalität verbergen sich die gewaltsamen Geschehnisse bei der Bundeswehr. Für diese Normalität ist der Führungsstab der Bundeswehr und das Verteidigungsministerium (mit-)verantwortlich.

Werden personale Gewalt und Menschenrechtsverletzungen bekannt, sprechen Führungsoffiziere und politisch Verantwortliche jedoch gerne von Einzelfällen und Ausnahmen. So erklärte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) am 21. Januar 2005 auf einer Pressekonferenz in Berlin, "es habe sich gezeigt, dass es sich dabei um Einzelfälle handele" und "Coesfeld ist nicht die Bundeswehr."(1) Auch der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, kommt im Jahresbericht 2005 zu der Einschätzung, "dass Coesfeld ganz offensichtlich ein singuläres Ereignis geblieben ist."(2)

Ein weiteres Reaktionsschema wird mit der Transformation der Bundeswehr von einer Verteidigungs- hin zu einer Interventionsarmee begründet. Demnach sei es die Pflicht eines verantwortungsvollen Dienstherren, die Soldaten umfassend, realistisch und einsatznah auf den Ernstfall vorzubereiten. Dabei könnte es vereinzelt zu übertriebenen und fehlgeleiteten Ausbildungsversuchen kommen, die eben diesem veränderten Auftrag der Bundeswehr in internationalen Krisen- und Kampfeinsätzen geschuldet seien.

Ein anderes Reaktionsmuster ist die Relativierung der Coesfelder Soldatenmisshandlungen nach dem Motto: "Die Bundeswehr ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft - und die ist auch nicht fehlerfrei."(3) Selbst die Erhöhung der Zahl der Eingaben an den Wehrbeauftragten von 6.082 im Jahr 2003 auf 6.154 im Jahr 2004 zeige, dass die Bundeswehr selbstkritisch auf solche Vorfälle zu reagieren vermag und sei lediglich eine unerhebliche statistische Schwankung, die bei einer knapp 300.000 Mann starken Institution wie der Bundeswehr völlig normal ist.(4)


Entwicklung der Zahl der Eingaben an den Wehrbeauftragten(5)
Berichtsjahr

Eingaben

Jahresdurchschnittszahl
an Soldaten
Soldaten pro
Eingabe
1959
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2003
2004
2005
2006
2007
3.368
5.471
4.408
7.142
6.439
7.244
8.002
9.590
5.979
4.952
6.082
6.154
5.601
5.918
5.276
248.800
258.080
437.236
468.484
486.206
490.243
495.361
458.752
344.690
318.713
283.723
263.990
251.722
249.964
248.995
74
47
99
66
76
68
62
48
58
64
47
43
45
42
47

Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Thomas Kossendey, stellt die Frage, ob es, trotz entsprechender Wertevermittlung, nicht immer irgendwelche Ausreißer gebe?(6) Und er fragt sich im Zusammenhang mit den Ereignissen in Coesfeld, "ob die Bundeswehr die 'Schule der Nation' sein könne?"(7)

Eine detaillierte inhaltliche und empirische Dokumentation und Analyse aller Vorkommnisse, insbesondere die Schaffung eines Klimas, das die Beteiligten ermutigt, Gewaltwiderfahrnisse und Demütigungen weiterzuleiten, wird derzeit nicht in befriedigendem Maße geleistet. Selbst der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages erklärte im Zusammenhang mit dem Folterskandal in Coesfeld, dass die Eingaben betroffener Soldaten "eher karg" ausgefallen seien.

Interessant in diesem Zusammenhang ist ein weiteres Gerichtsurteil. Am 21. Juni 2005 sprach das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG 2 WD 12.04) den Bundeswehrmajor Florian Pfaff vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung frei. Im erstinstanzlichen Urteil der 1. Kammer des Truppendienstgerichts Nord (Az.: N 1 VL VL 24/03) vom 9. Februar 2004 wurde Major Pfaff zum Hauptmann degradiert. Das war der Bundeswehr offensichtlich zu wenig, so dass sie Berufung einlegte mit dem Ziel, Major Pfaff ganz aus dem Dienstverhältnis zu entlassen. Das BVerwG in Leipzig hat dann letztinstanzlich Major Pfaff vom Vorwurf der Gehorsamsverweigerung freigesprochen und eine Grundsatzentscheidung darüber getroffen, welchen Geltungsbereich das Grundrecht der Gewissensentscheidung bei Soldaten hat. Mittlerweile wurde Major Pfaff an das Sanitätsamt der Bundeswehr in München versetzt und erhielt 2006 von der Internationalen Liga für Menschenrechte die Carl-von-Ossietzky-Medaille verliehen. Zur Begründung hatte Major Pfaff, der an der Entwicklung eines militärischen Software-Programms arbeitete, ausgeführt, er könne es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren, Befehlen zu folgen, die geeignet seien, völkerrechtswidrige Kriegshandlungen im Irak zu unterstützen. So viel zur juristischen Seite.

Besonders interessant sind wiederum die Reaktionen seitens der Bundeswehr zu diesem Urteil, offenbaren sie doch viel über den eigentlichen Geist der Bundeswehr und ihrem Umfeld. Ich berufe mich dabei sehr stark auf die Ausführungen von Jürgen Rose, der als Oberstleutnant die Bundeswehr selbst genauestens von innen kennt und sich intensiv mit der Problematik beschäftigt hat.(8) Jürgen Rose ist Sprecher der kritischen Soldatenorganisation "Darmstädter Signal".

Ganz allgemein ist festzustellen, dass viele Juristen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministerium der Verteidigung durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts einen Zusammenbruch der militärischen Ordnung und der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr befürchten. Allerdings, so die Leipziger Richter, ergeben sich sowohl aus dem Grund-, als auch aus dem Soldatengesetz rechtliche Grenzen des Gehorsams, die sich in sieben Kategorien zusammenfassen lassen. U.a. führt das Gericht in diesem Zusammenhang völkerrechts- und verfassungswidrige Einsätze oder die Verletzung der Menschenwürde an.(9) Gerade durch eine kategorische Rechtsbindung der Streitkräfte sollte ein Missbrauch der neu gegründeten Bundeswehr nach den katastrophalen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges verhindert werden. Der Staatsbürger in Uniform sollte zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können und sich im Zweifelsfalle rechtswidrigen Befehlen widersetzen. Im Falle des durch das Völkerrecht nicht gedeckten Irak-Krieges ist Major Pfaff (soweit bekannt) der einzige Bundeswehroffizier, der Befehle zur Unterstützung dieses Krieges der USA und ihrer Verbündeten aus Gewissensgründen verweigert hat.

Der ehemalige Verteidigungsminister und Verfassungsrechtler Prof. Dr. Rupert Scholz ist der Auffassung, dass es nicht die Aufgabe eines Soldaten sei, zu bewerten, ob ein Krieg völkerrechtswidrig ist und ob er deshalb die Ausführung bestimmter Befehle verweigern dürfte. Gerade Berufssoldaten wären dem existenznotwendigen Prinzip von Befehl und Gehorsam verpflichtet. Und deshalb könne es nicht sein, dass Rechtsfragen Gegenstand einer Gewissensentscheidung des Soldaten würden mit der Maßgabe, dass er den Befehl verweigern könnte.

Der brandenburgische Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) spricht hinsichtlich des besagten Urteils von einer bedauerlichen Entwicklung und warnt unter Bezugnahme auf Theodor Heuß, vor einem "Verschleiß des Gewissens". Darüber hinaus sieht er die Bündnisfähigkeit Deutschlands in der NATO gefährdet, "wenn Bundeswehrsoldaten in wichtigen Funktionen plötzlich anfangen, sich auf ihr Gewissen zu berufen..."(10)

Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberst Bernhard Gertz, konstatiert, man müsse hinsichtlich der Gewissensfreiheit für Soldaten unterscheiden zwischen Wehrpflichtigen und Zeit- sowie Berufssoldaten. Für Berufssoldaten gelte eine deutlich stärkere Pflichtenbindung. Darüber hinaus fordert Gertz eine Einschränkung der Gewissensfreiheit für Soldaten, die ihre Grenzen dort finden müsse, wo die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr betroffen sei.

Stefan Sohm, Ministerialrat im Verteidigungsministerium, ist der Auffassung, es bestehe kein rechtliches Hindernis, die Gewissensfreiheit des einzelnen Soldaten mit entgegenstehenden dienstlichen Zwecken abzuwägen. Vielmehr kommt dienstlichen Aufgaben und Befehlen grundsätzlich die Dignität demokratischer Legitimation zu. Doch wie oft hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere seit dem 11. September demokratisch legitimierte Gesetzesvorhaben eingeschränkt, mit der Auflage zur Nachbesserung an den Gesetzgeber zurückgegeben oder ganz verworfen?(11)

Eine weitere Umdeutung des BVerwG-Urteils findet sich in der von der Rechtsabteilung I 5 des Verteidigungsministeriums herausgegebenen offiziellen Handlungsanleitung für Rechtsberater und Rechtslehrer der Bundeswehr. Im Hinblick auf den Umgang mit Soldaten und Soldatinnen, die aus Gewissensgründen Befehle nicht befolgen wollen, wird ausgeführt, dass Angehörigen der Streitkräfte engere Grenzen gezogen werden als "normalen" Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen. In völliger Umkehrung des BVerwG-Urteils wird hier die Gewissensfreiheit der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte untergeordnet.

Auch im Zusammenhang mit diesem Urteil begegnen wir wieder der Einzelfallthese: "Im Interesse funktionsfähiger Streitkräfte, eines ausgewogenen Verhältnisses individueller Freiheit zu den dienstlichen Aufträgen und vor allem eines hohen Maßes an Rechtssicherheit für Vorgesetzte und Untergebene ist zu wünschen, dass das Urteil das bleibt, was es juristisch betrachtet ohnehin ist: eine zu respektierende Einzelfallentscheidung, aber keine Neujustierung des Befehlsrechts in den deutschen Streitkräften."(12)

Major Pfaff selbst wird gemieden. So wurde sein Angebot, am Zentrum für Innere Führung bei einem Seminar zum Thema "Soldat und Ethik" über seinen Fall zu informieren und sich kritischen Fragen zu stellen, ebenso abgelehnt wie entsprechende Angebote an die Bundeswehruniversitäten, die Führungsakademie, die Offiziersschulen von Heer, Luftwaffe und Marine und die Akademie für Information und Kommunikation.

Auch der Vorschlag von Oberstleutnant Jürgen Rose, im Rahmen der vorgeschriebenen Politischen Bildung über das BVerwG-Urteil zu informieren, wurde abgelehnt. Jürgen Rose sieht darin einen Beleg dafür, dass die Bundeswehrführung kritischen Diskussionen über Themen wie die Legitimität von Befehlen, die Gewissensfreiheit von Soldaten oder das BVerwG-Urteil aus dem Wege geht. Die Bundeswehr unterläuft damit eine weitere Forderung der Leipziger Richter nach einer möglichst objektiven Unterrichtung aller Beteiligten über die maßgebliche Rechtslage.

Für die These des Totschweigens des BVerwG-Urteils spricht nach Jürgen Rose auch die Tatsache, dass im Intranet der Bundeswehr der Fall Major Pfaff überhaupt nicht erwähnt wird, während z.B. das Urteil zur Wehrgerechtigkeit vom 19. Januar 2005 (ebenfalls vom BVerwG, Az.: 8 C 22.03), das zugunsten des Verteidigungsministeriums ausfiel, in voller Breite aufgeführt ist. Dieses Urteil hob den gegensätzlichen Richterspruch des Verwaltungsgerichts Köln vom 21. April 2005 (Az.: 8 K 154/04) auf und bestätigte den Wehrersatzbehörden, dass ihre Einberufungspraxis nicht gegen das Prinzip der Wehrgerechtigkeit verstößt.

Doch Jürgen Rose wird nicht nur gemieden, er wird auch bedroht. Im Juli 2007 erhielt er einen Hass- und Drohbrief von Daniel K., einem Hauptmann der Kommando-Spezialkräfte (KSK). Darin heißt es: "Ich beurteile Sie als Feind im Inneren und werde mein Handeln danach ausrichten, diesen Feind im Schwerpunkt zu zerschlagen." Und weiter: "Sie werden beobachtet ... von Offizieren einer neuen Generation, die handeln werden, wenn es die Zeit erforderlich macht." Der Brief endet mit dem Satz: "Es lebe das heilige Deutschland."(13) Gegen den KSK-Hauptmann wurde lediglich eine einfache Disziplinarmaßnahme verhängt, das Truppendienstgericht wurde nicht eingeschaltet.

Viel zu wenig, findet Jürgen Rose und wendet sich an den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Der versichert, das Verteidigungsministerium einzuschalten und den Fall zu überprüfen - bisher ohne Ergebnis.

Eine Armee, die fest auf dem Boden der Verfassung steht, sollte offensiv gegen solche Vorfälle angehen, auch um zu dokumentieren, dass die Menschenrechte ein ernsthaftes Anliegen der Bundeswehr sind.

Die ausführliche Schilderung diverser Reaktionen des Führungspersonals der Bundeswehr wirft ein bezeichnendes Licht auf den Geist und das Klima der Bundeswehr, auf das, was in der Bundeswehr als Normalität vermittelt wird. Dieser soziale Rahmen ist nun aber ganz entscheidend dafür, was in der Bundeswehr geschieht oder nicht geschieht. Diese These wurde schon durch Philip Zimbardo in seinem berühmten Gefängnis-Experiment formuliert.(14)


Das Stanford-Gefängnis-Experiment

Philip Zimbardo wollte mit seinem Experiment zeigen, wie sich ganz gewöhnliche Menschen verändern, wenn sie sich im Sozialsystem eines Gefängnisses in unterschiedlichen Rollen und mit unterschiedlichem Machtpotenzial ausgestattet wiederfinden.

Die Anzeige, mit der er 1971 seine Versuchspersonen fand, lautete: "Männliche College-Studenten für psychologische Studie zum Gefängnisleben gesucht". Aus 75 Interessenten wählte Zimbardo 24 Studenten aus, die in einem zuvor durchgeführten Persönlichkeitstest die geringsten Auffälligkeiten aufwiesen und über eine gewisse emotionale Stabilität verfügten.

Der Zufall entschied, wer Wärter und wer Gefangener wurde. Um die Echtheit und Authentizität des Experiments zu gewährleisten, wurden die zukünftigen Gefangenen zu Hause von der Polizei verhaftet und mit verbundenen Augen in das Simulationsgefängnis im Keller der Stanford Universität gebracht. Dort trafen sie auf ihre Wärter: in Uniform (zur Erhöhung des offiziellen Charakters), mit Schlagstöcken (zur Steigerung der Autorität) und mit einer verspiegelten Sonnenbrille, hinter der die Augen verborgen waren (zur Erhöhung der Anonymität). Die Wärter bekamen die Aufgabe, einen vernünftigen Grad von Ordnung innerhalb des Gefängnisses aufrechtzuerhalten, damit das Gefängnissystem möglichst effektiv funktioniert. Auf unvorhersehbare Zwischenfälle (z.B. Ausbruchsversuche) sollte angemessen reagiert werden.

Nach 36 Stunden musste der erste Häftling entlassen werden, weil er psychisch zusammenbrach. An den folgenden Tagen mussten drei weitere Gefangene wegen schwerer emotionaler Störungen, wie hysterisches Weinen und Depressionen, entlassen werden. Die restlichen Häftlinge waren mittlerweile in tiefe Resignation, Apathie und Hilflosigkeit versunken und ließen widerspruchslos die sadistische Behandlung der Wärter über sich ergehen (z.B. wurden die Häftlinge zu homosexuellen Handlungen gezwungen).

Philip Zimbardo brach den Versuch erst am sechsten Tag, jedoch acht Tage eher als geplant, ab. Auch er hatte längst die Rolle gewechselt: vom Wissenschaftler zum Gefängnisdirektor. Für den Situationstheoretiker Zimbardo belegt dieses Experiment eindeutig, dass das Verhalten von Menschen weniger von Dispositionen, also von Erbanlagen oder vom Charakter beeinflusst wird, sondern von Situationen. Die Wärter sind nicht so brutal, weil sie Psychopathen oder Sadisten sind (Dispositionstheoretiker), sondern sie werden grausam, weil das (Gefängnis-)System selbst pathologisch ist und den Wärtern sadistisches und den Gefangenen rebellisch-aggressives oder apathisches Verhalten zumindest nahe legt (Situationstheoretiker).(15) Für Zimbardo ist die Schlussfolgerung seines Experiments offensichtlich: "Wir müssen unsere Überzeugung, dass wir so etwas nie tun würden, durch die Einsicht ersetzen: Wir alle können es tun."(16)

Auch das nicht minder berühmte Milgram-Experiment zeigt die Macht der Situation in erschreckender Weise auf.


Das Milgram-Experiment

Im Jahre 1961 wollte der amerikanische Psychologie-Professor Stanley Milgram von der Yale Universität herausfinden, ob es einer Autorität gelingen würde, Versuchspersonen dazu zu bringen, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen und zu quälen. Hierzu erklärte Milgram den Versuchspersonen, dass sie an einem Lernexperiment teilnähmen. Es solle getestet werden, inwieweit die Androhung von Strafe die Lernleistung eines Schülers beeinflusse. Für jeden Fehler, den der Schüler dabei mache, solle der Proband (Lehrer und eigentliche Versuchsperson) eine Strafe in Form eines immer um 15 Volt steigenden Elektroschocks verabreichen, angefangen bei 15 Volt und endend bei 450 Volt.

Zuvor hatte Milgram Experten und Fachleute gebeten, eine Prognose über den Ausgang des Experiments abzugeben. Die Psychiater vermuteten, dass lediglich ein Prozent der Versuchspersonen bis 450 Volt, dass die Mehrheit der Probanden nur bis 150 Volt und dass nur vier Prozent über 300 Volt drücken würden.

Das Ergebnis überraschte alle Beteiligten. In der klassischen Variante versetzten 62 Prozent der Versuchspersonen dem Schüler imaginäre Stromstöße, obwohl das Opfer schrie, obwohl es flehte aufzuhören und obwohl das Opfer ab 300 Volt völlig verstummte, was Anlass zur Vorstellung gab, das Opfer könnte bewusstlos oder gar tot sein. Die Experten überschätzten ganz offensichtlich die Rolle der Persönlichkeit, während sie der Macht der Situation zu geringe Bedeutung beimaßen.

In Deutschland wurde das Milgram-Experiment am Münchener Max-Planck-Institut für Psychiatrie mit ähnlichen Ergebnissen wiederholt(17): 85 Prozent zeigten totalen Gehorsam, 54 Prozent zeigten beim vorgespielten Protest totalen Gehorsam, 98 Prozent waren der Auffassung, dass bei dem Experiment tatsächlich jemand gequält würde, 15 Prozent nahmen an, das Opfer könnte tot sein, 70 Prozent waren der Meinung, das Opfer sei zumindest bewusstlos, zehn Prozent nahmen an, es hätte starke Schmerzen gehabt, fünf Prozent dachten, dem Schüler sei nichts passiert, 74 Prozent lehnten die Verantwortung für ihr Tun ab mit der Begründung: das Max-Planck-Institut müsse wissen, was es tut. 40 Prozent waren während des Versuchs nicht einmal nervös.

Mit wissenschaftlichen Mitteln lässt sich keine soziale Gruppenzugehörigkeit, keine Charaktereigenschaft und keine weltanschauliche Richtung fassen, die ihre Vertreter gegen die destruktive Gehorsamsbereitschaft feit. Rasse, Glaube, Bildungsniveau, Alter, Einkommen, Geschlecht, moralische Reife und die durch Tests bestimmbaren Persönlichkeitszüge einschließlich der Dimension Autoritätshörigkeit haben offenbar keinen oder nur geringen Einfluss auf das Verhalten in der Testsituation.

In weiteren Versuchen wurde untersucht, wie und ob sich Selbsteinschätzung und tatsächliches Verhalten der Versuchspersonen unterscheidet. Mehr als 90 Prozent der Befragten, denen die Grundzüge des Milgram-Experiments geschildert worden war, erklärten, dass sie sich diesen Anweisungen sicherlich wiedersetzt hätten. Sie waren der Auffassung, dass ihr Mitgefühl und ihr Gerechtigkeitssinn nicht zu pervertieren sei.(18) Stanley Milgram bemerkt dazu: "Die Kraft, die vom Moralgefühl des Individuums ausgeht, ist weit weniger wirksam, als gesellschaftliche Mythen uns glauben lassen möchten."(19) Es sind weniger die Persönlichkeitsmerkmale, die ein Mensch hat oder zu haben glaubt, die den Grad des Gehorsams bestimmen, sondern die spezifischen Bedingungen in der experimentellen Situation.

In ähnlicher Weise kommt Harald Welzer, Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am kulturwissenschaftlichen Institut in Essen sowie Professor für Sozialpsychologie der Universität Witten/Herdecke in seinem Buch "Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden" zu dem Ergebnis, dass es keine natürliche Grenze menschlichen Verhaltens gibt und somit jegliche Grausamkeit möglich ist. In Analogie zur "Banalität des Bösen" von Hannah Arendt bedarf es für Massenmord und inhumane Gräueltaten keines sadistischen Unmenschen oder keiner perversen Bestie, sondern lediglich einer Verschiebung des sozialen Referenzrahmens, einer Öffnung sozialer Handlungsräume, in denen plötzlich erlaubt oder gar gefordert ist, was zuvor verboten war.


Vor Mord kommt Rufmord

Natürlich sind es qualitativ unterschiedliche Eskalationsstufen, ob ich die Straßenseite wechsele, wenn ich einem Juden begegne, oder ob ich eine Wohnung beziehe, aus der zuvor eine jüdische Familie getrieben wurde, ob ich den Tod eines Juden zu verantworten habe, indem ich ein medizinisches oder juristisches Formular unterzeichne, ob ich Krematoriumsöfen baue oder den Gashahn aufdrehe. Auch ist es sicher unterschiedlich schwierig, diese verschiedenen Eskalationsstufen zu überschreiten, aber für Welzer stellt dies ein Kontinuum dar, welches scheinbar harmlos beginnt und in der Vernichtung endet. Es ist - wie beim Milgram-Experiment - entscheidend, die ersten Stufen überschritten zu haben, um die letzte überschreiten zu können.

Natürlich entfaltet Gewalt eine Eigendynamik, aber nicht jeder Krieg bringt Genozide, ethnische Säuberungen und systematische Massenmorde hervor. Wie schon im Milgram-Experiment gezeigt, verringert sich die Zahl der Gehorsamen und die Verweigerungsquote steigt, wenn die sozialen Parameter verändert werden.(20) Gewalt ist für Welzer sozial und historisch spezifisch; allerdings kann sich die tödliche Logik sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht nur unter bestimmten sozialen Bedingungen entfalten. Nach Welzer sind in gesellschaftlichen Institutionen und sozialen Handlungsgefügen Potenziale gespeichert, die je nach dem definierten Ziel, das verfolgt wird, ganz unterschiedliche Realitäten hervorbringen können.

Der Genozid an den Juden war gut vorbereitet. Die Verschiebung des sozialen Referenzrahmens, das "Judenproblem", wurde den Menschen systematisch eingehämmert, so lange, bis die universalistische Moral einer partikularen gewichen war, die für Juden nicht mehr galt. Vor Mord kommt sozialer Rufmord!

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass innerhalb eines solchen sozialen Referenzrahmens schon vor Coesfeld Misshandlungen von Soldaten aufgetreten sind (z.B. in Ahlen, Kempten und Nienburg). Wesentlich erschreckender sind jedoch die Ergebnisse der oben bereits erwähnten Pilotstudie: 60 % der befragten Männer über 18 Jahren berichteten, während des Militärdienstes "schikaniert, unterdrückt, schwer beleidigt oder gedemütigt" worden zu sein. 29 % der Befragten wurden "gezwungen, etwas zu sagen oder zu tun, was sie absolut nicht wollten". 15,9 % behaupteten, "richtig eingesperrt, gefesselt oder anderweitig in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt" worden zu sein. 10,3 % wurden "erpresst und bedroht". 5,6 % der Befragten hatten "Verletzungen wie Schnittwunden, Knochenbrüche, Quetschungen oder Verbrennungen durch andere" erlitten und 2,8 % wurden "geschlagen, geohrfeigt, getreten oder verhauen".(21)

So kommen die Autoren der Pilotstudie zu dem Schluss, dass der Wehrdienst für Soldatinnen und Soldaten ein wesentlich größeres Risiko beinhaltet, personale körperliche, psychische und sexualisierte Gewalt zu erleben, als das zivile Leben.


Politische Bildung

An dieser Stelle ist die Innere Führung, insbesondere aber die politisch Verantwortlichen gefordert, den sozialen Referenzrahmen in eindeutiger und unmissverständlicher Weise zu klären. Denn wie gezeigt, geschieht Gewalt in einem sozialen Rahmen. Alles ist möglich, im Guten wie im Bösen - es gibt keine natürliche Grenze menschlichen Handelns.

In einem ersten Schritt ist die Politische Bildung zu erhöhen, um der Truppe stärker zu vermitteln, dass der Geist der Bundeswehr nicht von Obrigkeitshörigkeit und Kadavergehorsam geprägt ist, sondern nach wie vor getragen wird von der Idee des Staatsbürgers in Uniform, der Pflichten, aber auch Rechte besitzt.

Politische Bildung hat weiterhin die Aufgabe, die Bundeswehr in ihrer Binnenstruktur als auch in ihrer Außenwirkung auf menschen-, völker- sowie verfassungsrechtliche Grundsätze zu verpflichten. Hier ist dem Wehrbeauftragten zuzustimmen, wenn er fordert, dass sich die Ausbildung dem im Fall Coesfeld sichtbar gewordenen mangelnden Rechts- und Wertebewusstsein sowohl bei den Ausbildern als auch bei den Rekruten künftig stärker zuwenden muss.(22) Die Sicherung demokratischer Grundrechte für die Staatsbürger in Uniform ist besonders wichtig, weil sie in ihrer täglichen Praxis einem strikt hierarchisch strukturierten militärischen Zwangs-, Disziplin- und Gewaltsystems unterworfen sind, das viele Merkmale einer Totalen Institution aufweist.(23) Und Philip Zimbardo fügt hinzu: Wenn wir das Übel an der Wurzel packen wollen, gilt es die sozialen Ursachen zu beseitigen. Verurteilt man (notwendigerweise und völlig zurecht) stets den Einzelnen, ist dennoch wenig erreicht - solange der negative Kontext weiterbesteht. Deshalb fordert er eine Reform der Rechtssprechung. Denn hohe Militärs und Politiker bleiben häufig straffrei, obwohl sie für das Vorgefallene, für die Skandale und Rechtsbrüche ebenso verantwortlich sind. "Die haben dieses Fass gezimmert, in dem aus guten schlechte Äpfel geworden sind."(24)


Menschenrechte bei internationalen Einsätzen

Gerade nach außen bei ihren internationalen Krisen- und Kampfeinsätzen ist die Bundeswehr, insbesondere der Verteidigungsminister, in diesem Zusammenhang aktuell gefordert. Hintergrund ist der vor kurzem im Repräsentantenhaus am Veto des US-Präsidenten George W. Bush gescheiterte Versuch das so genannte "waterboarding", das simulierte Ertränken, zu verhindern. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International brandmarken "waterboarding" als Folter. Nach Artikel 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 darf niemand der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Eine auf die Menschenrechte und das Grundgesetz verpflichtete Armee wie die Bundeswehr dürfte z.B. Gefangenenüberstellungen an US-Truppen in Afghanistan nur dann durchführen, wenn die USA hinreichend sicherstellen, dass die Gefangenen keinerlei Folter ausgesetzt sind. Menschenrechte sind unteilbar und universal gültig. Sie gelten für Wehrpflichtige für Zeitsoldaten und für Gefangene - auch und gerade im Anti-Terror-Kampf.


Manfred Pappenberger ist Dipl.-Pädagoge und Dozent für politische Bildung an der Zivildienstschule Bad Staffelstein. In dem Beitrag vertritt er ausschließlich seine persönliche Meinung.


Anmerkungen

(1) www.BMVg.de/Bundeswehrplanung 2005

(2) Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht 2005, S. 10.

(3) Interview mit Bundesminister Dr. Jung mit dem "Stern" am 01.11.2006. In: www.BMVg.de/Reden des Ministers.

(4) Vgl. hierzu: Randow, Gero von: Treffer. In: Die Zeit, 60.Jg., Nr.12, vom 17.03.2005

(5)Quelle: Jahresbericht 2007 (49. Bericht). Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten, S. 58f. Die Spalte "Soldaten pro Eingabe" entstammt eigener Berechnungen und bedeutet, dass z.B. 2007 auf 47 Soldaten 1 Eingabe kommt. Dabei entfallen zwei Drittel der Eingaben auf "Personalangelegenheiten der Berufs- und Zeitsoldaten" (31,1 %) und "Menschenführung/Wehrrecht/Soldatische Ordnung" (36,1 %). In letzterem sind u.a. enthalten: Verfassungsrechtliche Grundsätze, Schutz von Grundrechten, Leitbild des Staatsbürgers in Uniform, Befehl und Gehorsam, Führungsstil und Führungsverhalten u.Ä. Der Rest der Eingaben gliedert sich in "Personelle Fragen der Wehrpflichtigen" (8,9 %), "Reservistenübungen" (3,7 %), "Heilfürsorge" (5,1 %), "Unterkünfte/Verpflegung/Bekleidung/Betreuung" (4,2 %) "Besoldung" (6,3 %) und "Soziales/Versorgung" (4,6 %).

(6) www.BMVg.dc

(7) www.BMVg.de/05.06.2007 Staatssekretär Kossendey auf 7. Generals- und Admiralstagung in München

(8) Vgl. hierzu Rose, Jürgen: Primat des Gewissens; Das Bundesverwaltungsgericht bricht eine Lanze für den gewissenhaften "Staatsbürger in Uniform". In Forum Pazifismus Nr. 07/2005, S. 14-16; ders.: Absolutes Schweigen in der Bundeswehr zum Freispruch von Major Pfaff - Kritische Soldaten sollen mundtot gemacht werden. In Forum Pazifismus Nr. 09/2006, S. 27-29; ders.: Juristische Lohnschreiber - Auftrag Urteilsschelte: Wie des Verteidigungsministers Advokaten einen hochnotpeinlichen Richterspruch umdeuten. In Forum Pazifismus Nr.10/2006, S. 6-8.

(9) Das schriftliche BVerwG-Urteil kann auf der Internetseite von Forum Pazifismus eingesehen werden. Eine Zusammenfassung des Urteils ist in Forum Pazifismus Nr. 07/2005, S. 9-13 nachzulesen.

(10) Vgl. Schönbohm, Jörg: Berufsrisiko für Soldaten. Interview mit Jörg Schönbohm, in: Süddeutsche Zeitung, 24. Juni 2005, S. 2.

(11) Hierunter fallen insbesondere das Luftsicherheitsgesetz (BVerwG 357/05 vom 15.02.2006), die Vorratsdatenspeicherung (BVerwG 256/08 vom 11.03.2008) oder das automatisierte Erfassen von Kfz-Kennzeichen (BVerwG 2074/05 und 1254/07 vom 11.03.2008).

(12) Sohm, Stefan: Vom Primat der Politik zum Primat des Gewissens? Anmerkungen zu BVerwG 2WD 12.04 vom 21. Juni 2005. In: NZWehrr 2006 Heft 1 S. 24.

(13) Vgl. hierzu: Demmer, Ulrike: Feind im Inneren. In: Der Spiegel, Nr. 13, vom 22.03.2008, S. 24 und Wette, Wolfram: Der Feind im Inneren. In: Frankfurter Rundschau vom 04.04.2008, S. 10.

(14) Der nachfolgende Text ist der gekürzte Beitrag aus: Pappenberger Manfred: Aspekte von Macht und Gehorsam oder die Erziehung zu Zivilcourage. In: Fehl, Werner/Kolling, Hubert (Hrsg.): Dem Grundgesetz verpflichtet. Wehrpflicht, Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst. Bad Staffelstein 2006, S. 229-236.

(15) Vgl. Der Spiegel, Nr. 11, vom 12. März 2001, S. 96-113.

(16) Ebd. S. 101f.

(17) Am Max-Planck-Institut wurde das Experiment mit der Kamera als Mittel zur Erkenntnis begleitet. Es entstand der Film "Abraham - Ein Versuch", Deutschland 1970.

(18) Dieses Phänomen wird durch eigene Erfahrungen bestätigt. So sind zahlreiche Zivildienstleistende der Auffassung, sie hätten aus eben diesen Gründen nicht wie die Mehrzahl im Film "Abraham" bis 450 Volt gedrückt.

(19) Milgram, Stanley: Das Milgram Experiment. Hamburg 1974, S. 23

(20) Die Veränderung folgender Parameter hatte folgende Ergebnisse:
1. Geht dem Versuchsleiter oder dem Versuch selbst die Wissenschaftlichkeit ab, oder wird die Autorität des Versuchsleiters verkleinert oder in Frage gestellt, nimmt das Maß an Gehorsam rapide ab. So wurde zum Beispiel eine Variante nicht an der berühmten Yale-Universität durchgeführt, sondern in einem Büro in Downtown Bridgeport. Hier sank der völlige Gehorsam auf 48 Prozent.
2. Ist die Autorität nicht persönlich anwesend, sondern gibt sie ihre Anweisungen telefonisch oder durch einen Studenten, sinkt die Gehorsamsbereitschaft auf 20 Prozent.
3. Die Variable, die das Maß an Gehorsam am deutlichsten reduzierte, war die Anwesenheit eines zweiten Wissenschaftlers, der dem Versuchsleiter Widerstand entgegensetzte. Hier sank der Anteil der bedingungslos gehorsamen Probanden auf 10 Prozent.
4. Je größer die persönliche Nähe, desto höher steigt die Verweigerungsquote. Mussten die Versuchspersonen gar die Hand des Opfers auf eine Schockplatte pressen, verminderte sich der Anteil der Gehorsamen auf 30 Prozent. Gab man dem Lehrer vor dem Experiment die Gelegenheit, mit dem Schüler einige Minuten zu sprechen, nahmen die verabreichten Schocks spürbar ab.
5. Hatte die Versuchsperson lediglich die Rolle der Befehlsübermittlung an einen Gehilfen, der dann den Schock verabreichen sollte, auszufüllen, ergab sich eine Gehorsamsleistung von fast 100 Prozent.

(21) vgl. Lenz, Hans-Joachim / Walter, Willi / Jungnitz, Ludger: Gewalt gegen Männer im Kontext von Krieg und von Wehr- und Zivildienst. In: Forschungsverband Gewalt gegen Männer (Hrsg.): Gewalt gegen Männer in Deutschland. Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern. Pilotstudie. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin 2004, Tabelle 34, S. 168f.

(22) Vgl. hierzu: Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht 2005, S. 10.

(23) Vgl. hierzu: Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main 1995

(24) Vgl. hierzu: Interview mit Philip Zimbardo anlässlich der Neuerscheinung seines Buches "The Lucifer Effect". In: Süddeutsche Zeitung vom 02.04.2007.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 18, II/2008, S. 19-24
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2008