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ARTIKEL/329: Frieden in Kolumbien nach 50 Jahren Krieg? (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 1 - März/April 2016
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Frieden in Kolumbien nach 50 Jahren Krieg?
"Solange die Ungleichheit bleibt, wird es weiterhin Probleme mit den Menschenrechten geben."

Von Jochen Schüller


Fast zum Greifen nahe erscheint ein Ende des Tötens und der Gewalt: Ein halbes Jahrhundert bewaffneter Konflikt zwischen Guerilla-Gruppen und Staat in Kolumbien hat Abertausende Opfer gefordert. Seit November 2012 verhandelt Lateinamerikas älteste Guerilla, die "Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens" (Farc), mit der Regierung von Präsident Juan Manuel Santos. Doch welcher Frieden wird bei den Dialogen in Havanna zwischen der Farc-Guerilla und der kolumbianischen Regierung unter der Schirmherrschaft von Kuba und Norwegen und mit Unterstützung von Chile und Venezuela ausgehandelt?


Eine Mehrheit der Bevölkerung ist kriegsmüde und befürwortet die Verhandlungen in Havanna. Auch Weite Teile der sozialen Bewegungen unterstützen die Bemühungen, wollen jedoch mehr: Sie bezeichnen den "Krieg" als sozialen, politischen und bewaffneten Konflikt, also als einen gesellschaftlichen Konflikt, der soziale und politische Ursachen hat und von der Guerilla (und dem Staat) bewaffnet ausgetragen wird. Die Niederlegung der Waffen allein ist demnach nicht zugleich das Ende des Konflikts. Kolumbiens Gesellschaft ist tief gespalten: Weiterhin hält ein kleiner Teil der Gesellschaft einen Großteil der wirtschaftlichen und politischen Macht, die Mehrheit ist von der Teilhabe ausgeschlossen. Daher handelt es sich auch um einen Aushandlungsprozess, der nicht nur in Havanna stattfindet.

Zwar gilt Kolumbien für viele wegen des stetigen" Wirtschaftswachstums als Musterknabe. Doch an der Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Land hat sich wenig verändert. Kolumbien zählt zu den 10 ungerechtesten Ländern der Welt. Nach Angaben der Weltbank haben die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung satte 58 Prozent des gesamten Einkommens. Bei der Landverteilung ist die Differenz noch eklatanter: Ein Prozent aller LandeignerInnen besitzen 52 Prozent aller landwirtschaftlich nutzbaren Flächen, während 78 Prozent nur über rund 11 Prozent verfügen.

Dabei ist Kolumbien gar nicht arm insbesondere die vielen Bodenschätze und das viele fruchtbare Land ziehen nationale und internationale Investoren an. Und auch hier wird der Jahrhunderte alte Kampf um Besitz und Reichtum weiter geführt: Bergbau-Multis gegen traditionelle Bergbau-Familienbetriebe und Agrar-Multis gegen Kleinbauernfamilien. Wer hier die Auseinandersetzung für sich entscheiden wird, ist absehbar. Die meisten Fälle werden mit Gewalt geregelt - auch das hat eine lange Tradition in Kolumbien.

Das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien ist weiterhin atemberaubend. So werden - trotz Friedensverhandlungen - weiterhin jährlich 250.000 Menschen gewaltsam vertrieben. Sechs Millionen Menschen sind dadurch seit den 1980er Jahren zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden. Dabei fielen zwischen sieben und zehn Millionen Hektar Land, eine Fläche größer als Belgien, in die Hände von Paramilitärs, Großgrundbesitzern und Agrarkonzernen.

Meist sind es Kleinbauernfamilien, die von ihrem Land vertrieben werden und in die nächste Stadt flüchten. Sie bilden einen Teil der unzähligen Armen, die in prekären Jobs und im informellen Sektor (Straßenhandel u.ä.) ums Überleben kämpfen. Straßenkinder und Kinderprostitution sind weithin erschreckende Realität - für TouristInnen oft unsichtbar, da die Kinder von der Polizei aus den Stadtzentren vertrieben und manchmal von Paramilitärs einfach umgebracht werden.

Traurige Rekorde

Das Andenland ist für GewerkschafterInnen immer noch das gefährlichste Land der Welt, kein anderer Staat weist so viele ermordete VertreterInnen der ArbeiterInnen-Bewegung auf wie Kolumbien. Paramilitärs sind für Tausende Massaker verantwortlich, für Morde, Folter, Vergewaltigungen und Vertreibungen.

Zwar werden auch die Guerillas für etliche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wie die Rekrutierung von Jugendlichen, der Einsatz von Landminen, selektive Morde und Vertreibungen - insbesondere der Farc (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia; deutsch: Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens). Menschenrechtsorganisationen schreiben jedoch den Paramilitärs gut 70 bis 80 Prozent aller Menschenrechtsverletzungen zu. Diese richten sich meist eher gegen kritische und oppositionelle Kräfte der Zivilgesellschaft und nicht etwa gegen die bewaffnete Guerilla.

Weil die Paramilitärs in der Regel nicht eigenständig agieren, sondern meist in Komplizenschaft mit den staatlichen Sicherheitsbehörden, sprechen Menschenrechtsorganisationen in Kolumbien oft von der "mano oscuro", der dunklen Hand der Regierenden. Etliche Beispiele, oft auch vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgericht verhandelt und bestätigt, belegen die guten Verbindungen der illegalen rechten Paramilitärs mit dem Staat und seinen Sicherheitsorganen. Seit ihrer vermeintlichen "Demobilisierung" im Jahr 2005 treten sie nicht mehr vereint als Dachverband auf. Der hat sich aufgelöst und über 30.000 vermeintliche Kämpfer haben ihre Waffen niedergelegt. Doch in Wirklichkeit sind große Teile ihrer militärischen Strukturen erhalten geblieben und agieren heute unter anderen Namen weiter: Aguilas Negras, Rastrojos, Urabeños ... Weiterhin morden sie und terrorisieren die Zivilbevölkerung in vielen Teilen des Landes. Kürzlich meldete die christliche Menschenrechtsorganisation Justicia y Paz die Präsenz von rund 1000 Paramilitärs im Nordwesten Kolumbien. Sie seien nach eigenen Angaben in die Region zurückgekehrt, um "das Land ihres Chefs wieder in Besitz" zu nehmen. Um jegliche Opposition im Keim zu ersticken, haben sie gleich fünf Menschen umgebracht.

Die Paramilitärs erwirtschaften 70 Prozent ihrer Einkünfte mit dem Drogenhandel. Zum anderen sind ihre Auftraggeber und Unterstützer oft Großgrundbesitzer, Viehzüchter und andere Teile der Wirtschaft. Prominentestes Beispiel ist Chiquita Brands: Der Bananen-Multi wurde in den USA verurteilt, weil er die illegalen Paramilitärs finanziert hat. Das stellte ein Gericht in Florida im Jahr 2005 fest und verurteilte den Multi zu einer Geldstrafe. Das Unternehmen weist die Vorwürfe zwar zurück, es hätte die terroristische Organisation unterstützt, und behauptet, es sei zu den Zahlungen gezwungen worden. Hochrangige Paramilitärs bestätigen jedoch die Anschuldigungen, beschreiben aber auch, dass nicht nur Chiquita, sondern alle Bananen-Konzerne den Paramilitärs Geld gezahlt hätten.

Insgesamt geht es im kolumbianischen Konflikt überwiegend um wirtschaftliche Interessen. Und so wird sein - hoffentlich baldiges - Ende durchaus auch von ökonomischem Kalkül bestimmt.

Bergbau: Das neue Entwicklungsmodell

Die kolumbianische Armee konnte die Farc- und ELN-Guerillas (Ejército de Liberación Nacional; deutsch: Nationale Befreiungsarmee) trotz milliardenschwerer Militärhilfe der USA zwar schwächen, aber nicht endgültig besiegen.

Die Guerillas sind auch heute noch in vielen Regionen präsent und aktiv, die für die Bergbau- und Öl-Industrie von elementarem Interesse sind. Dieser Sektor gilt aber dem neuen Präsidenten als "Lokomotive" für die gesamte Wirtschaftsentwicklung, und die internationalen Konzerne stehen Schlange, um die Bodenschätze Kolumbiens auszubeuten. Die Konzessionen dafür werden großflächig und freizügig vergeben. Doch die Präsenz der Farc- und der kleineren ELN-Guerilla behindern und verhindern weiterhin den ungestörten Abbau der Rohstoffe in etlichen Regionen.

Das ist die Chance und das Gewicht der Farc, um zumindest mit ein paar Verhandlungserfolgen im Friedensprozess aus einer bewaffneten Konfrontation mit dem Staat herauszukommen, die auch von ihrer Seite nicht zu gewinnen ist. Sie wird dabei keine wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen durchsetzen können, jedoch einige Zugeständnisse für die ländliche Bevölkerung - ihre Hauptklientel - und insbesondere die eigene Reintegration in das zivile und politische Leben ohne allzu harte Strafen.

Es wird zwar keine Generalamnestie für die Farc geben. Jedoch werden all jene von der Übergangsjustiz (Transitional Justice) profitieren können, die zur Wahrheitsfindung und Aufklärung von Gewalt beitragen. Alternative Strafen soll es geben, Wiedergutmachung soll vor Strafe gehen.

Auch Straftaten und Verbrechen von Militär und anderen staatlichen Organen sollen von der Transitional Justice erfasst und sanktioniert werden. Im Moment werden jedoch Weichen gestellt, die eher den Schutz des Militärs gewährleisten. Die Regierung Santos will die "fueros militares" die Militärgerichte - stärken. Von Soldaten begangene Verbrechen sollen vor Militärgerichten verhandelt werden. Das Militär darf also über sich selbst Gericht halten, die zivile und unabhängige Justiz soll außen vor gehalten werden. Das fördert die ohnehin extrem hohe Straflosigkeit.

Zu den mannigfaltigen Verbrechen des Militärs zählt auch das gewaltsame Verschwindenlassen, wie wir es aus den Militärdiktaturen kennen. In den letzten Jahren warfen zudem die vielen extralegalen Hinrichtungen ein besonders düsteres Licht auf Kolumbiens Streitkräfte, die sogenannten "falsos positives": Zivilisten wurden ermordet, in Militär-Kleidung gesteckt und dann der Öffentlichkeit als "im Kampf getötete Guerilla-Kämpfer" präsentiert. Mit diesen angeblichen Erfolgen ("positives") in der Guerilla-Bekämpfung wollte die Armee sich positiv in der Öffentlichkeit darstellen. Mindestens 4475 dieser Morde sind bekannt, gegen 5137 Armee-Angehörige wird ermittelt, 925 sind bislang verurteilt, davon 862 überwiegend niedere Ränge zu Gefängnisstrafen. Diese große Zahl der Morde stehen in direktem Kontext eines Belohnungssystems innerhalb der Armee: Soldaten erhielten Geldprämien und Extraurlaub für jeden getöteten Guerillero. Die politische Verantwortung für dieses Prämiensystem - also auch für die extralegalen Hinrichtungen - hat letztlich der damalige Verteidigungsminister und heutige Präsident Juan Manuel Santos. Erst nach der internationalen Skandalisierung dieser Morde an Zivilisten wurde das Kopfgeld abgeschafft, das Belohnungssystem abgeschwächt. Ein verantwortlicher General musste den Hut nehmen.

Angriff auf den Friedensprozess von rechts

Doch der aktuelle Friedensprozess wird von rechts torpediert: Der ultrarechte Ex-Präsident Uribe und seine Gefolgschaft sowie Teile des Militärs sind gegen eine Dialoglösung. Sie fürchten um Privilegien und Macht. Für sie sind die Guerillas schlicht Terroristen, die mit aller Härte bekämpft und zerrieben werden müssen. Uribe steht eher für die alten Eliten, reaktionär und knöchern: Großgrundbesitzer und Viehzüchter, die ländlichen Oligarchen und die neureichen Paramilitärs, die es insbesondere durch die massiven Vertreibungen der Landbevölkerung und den Drogenhandel zu Landbesitz, Reichtum und Macht gebracht haben.

Wie einflussreich das Militär und die extreme Rechte sind, haben auch die Präsidentschaftswahlen im Sommer 2014 gezeigt: Präsident Juan Manuel Santos konnte erst im zweiten Wahlgang eine Mehrheit gegen den Mitbewerber der extremen Rechten, Oscar Zuluaga, erringen. Dabei haben sogar Teile der Linken zur Wahl des Konservativen Santos aufgerufen. Ein Wahlsieg der Ultrarechten hätte den Friedensprozess sofort beendet.

Viele offene Fragen ...

Eine momentan brennende Frage ist, wann und ob die kleinere ELN- Guerilla in den Friedensprozess einbezogen wird. Sie hat in den vergangenen Jahren immer wieder ihre Bereitschaft zum Dialog bekundet, wird jedoch nicht bedingungslos die Waffen niederlegen. Ihre Einflussgebiete liegen mehrheitlich in Regionen mit großen Rohstoffvorkommen wie Öl und Gold, und die ELN sieht sich als Interessensvertreterin der vielen kleinen Bergbauunternehmen - oft Familienbetriebe. Die Regierung hat jedoch viele Konzessionen an Bergbaumultis vergeben - miteinander schwer vereinbare Allianzen. Ein Einstieg in öffentliche Friedensverhandlungen wird laut ELN zurzeit von der Regierung verzögert.

Noch schwerwiegender ist die Frage, was mit den Paramilitärs passieren soll, die weiterhin im Land Oppositionelle, GewerkschafterInnen, Kleinbauernfamilien, Afros und Indigene ermorden und die Zivilbevölkerung terrorisieren. Ihre Strukturen haben sich verändert, ihr Einfluss und ihre Verbrechen sind jedoch nicht weniger geworden. Im Parlament sehen sie sich durch mehr als 30 Prozent vertreten und durchdringen weitere Strukturen von Staat und Gesellschaft. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission (IACHR) hat festgestellt, dass "die Gewalt, die aus dem Fehlen einer effektiven und vollständigen Auflösung der paramilitärischen Gruppen resultiert, sieh weiterhin dramatisch auf die Rechte der Bevölkerung Kolumbiens auswirkt."

Laut der Menschenrechtsorganisation "Somos Defensores" sind paramilitärische Gruppen auch für 72 Prozent der Angriffe gegen MenschenrechtsverteidigerInnen im Jahr 2014 verantwortlich.

Teil des Problems ist die mangelnde (Straf-)Verfolgung, also die Straflosigkeit. Sie beträgt nach Angaben verschiedener NGOs bei den meisten Verbrechen über 90 Prozent. Nach Angaben von "Somos Defensores" beträgt die Straflosigkeit sogar 95 Prozent bei den 219 Morden an MenschenrechtsverteidigerInnen (MRV) zwischen 2009 und 2013.

Eine Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit und der Gegenwart ist eine gigantische Herausforderung, wenn den vielen Opfern und ihren Angehörigen Gerechtigkeit widerfahren soll.

Ihr Anspruch auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sowie eine Garantie, dass sich die begangenen Verbrechen nicht wiederholen, sind legitim und bedürfen unserer Unterstützung. Diese Aufarbeitung und Neugestaltung der kolumbianischen Gesellschaft wird eine Mammutaufgabe für die kommenden Jahre nach einem formalen Friedensschluss.

Das grundlegende Hindernis für einen dauerhaften Frieden beschreibt der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCHR) in seinem Bericht 2015: "Solange die Ungleichheit nicht angegangen wird, wird Kolumbien Probleme mit den Menschenrechten haben."


Jochen Schüller ist freier Journalist in Hamburg und hat Kolumbien mehrfach besucht. Von 2003 bis 2013 war er Beauftragter von Brot für die Welt für Öffentlichkeitsarbeit zu Kolumbien und leitete ein Menschenrechtsprojekt. Er ist Mitglied der Kolumbiengruppe Hamburg.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Trotz Kriminalisierung viele Proteste, hier in Bogota
- Die Sicherheitskräfte sind selbst oft in Verbrechen verstrickt.
- Straßentheater in Medellin gegen Freihandel(sabkommen)
- "Sabotage der Farc"

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 1 - März/April 2016, S. 14 - 16
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2016

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