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BERICHT/246: Zur öffentlichen Reaktion auf die Empfehlungen des UN-Sozialausschusses (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 3/2011
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Lieber schlechte Presse als gar keine Presse?
Zur öffentlichen Reaktion auf die Empfehlungen des UN-Sozialausschusses

von Ingo Stamm


Wie bereits in der letzten FoodFirst-Ausgabe berichtet, hat der UN-Sozialausschuss in Genf teilweise heftige Kritik an der deutschen Sozialpolitik geäußert. Grundlage für die Bewertung war der fünfte Staatenberichts Deutschlands. Auch FIAN Deutschland hat sich im Rahmen der WSK-Allianz an dem Staatenberichtsverfahren beteiligt und war in Genf vor Ort. Mit etwas Verspätung wurden die Empfehlungen des Ausschusses auch von der deutschen Presse aufgenommen - mitunter in zynischer Art und Weise.


Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) reagierte auf die so genannten abschließenden Bemerkungen des Sozialausschusses zerknirscht. Hatte man die Veröffentlichung der Empfehlungen Ende Mai noch unkommentiert gelassen, sah man sich angesichts der plötzlichen Medienpräsenz Anfang Juli doch noch zu einem kurzen Statement gezwungen. Laut einer Pressesprecherin des BMAS konnte man die Kritik nicht nachvollziehen. Die umfangreichen Stellungnahmen der Ministerien seien nicht angemessen gewürdigt worden und viele Zahlen wissenschaftlich nicht belegt. Die Regierung fühlte sich offenbar ungerecht behandelt und die Reaktion ließ den Schluss zu, dass man den Ausschuss und das gesamte Verfahren abwerten und so von den unbestreitbaren Problemen ablenken wollte. Leider sprangen dann auch zahlreiche Journalisten auf diesen Zug auf.

Doch um welche Kritikpunkte ging es überhaupt? Kinderarmut, Berechnung und Höhe des Existenzminimums, die Zwangsverpflichtung von Arbeitslosen, jede zumutbare Arbeit anzunehmen, die Behandlung von Flüchtlingen sowie die Situation in deutschen Pflegeheimen - dies sind einige Bereiche, über die sich der Ausschuss besorgt gezeigt hat. Unverständlich, nicht belegt oder überzogen? Wohl kaum! Diese Kritik kann für die Bundesregierung nicht überraschend gewesen sein. Seit Jahren werden diese Missstände von zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt und haben mit Recht Eingang in öffentliche Debatten gefunden. Dass sich die Regierungsvertreter sicherlich einen milderen Ausgang des Verfahrens und ein kleineres Presseecho gewünscht hätten, steht auf einem anderen Blatt.

Eine Aussage wurde besonders oft zitiert und kommentiert: Jedes vierte Kind in Deutschland geht ohne Frühstück in die Schule und ist somit der Gefahr der Mangelernährung ausgesetzt. Spöttisch wurde in einigen Presseartikeln gefragt, wo diese hungernden Kinder denn zu finden seien in Deutschland. Da solle man doch lieber nach Afrika schauen. Sicher lässt sich über die Aussage diskutieren - nicht jedes in Armut lebende Kind ist automatisch Hunger ausgesetzt. Dennoch war der Umgang mit diesem Thema nicht angemessen. Der Mangel an Schulspeisungen ist ein bekanntes Problem. Dies zeigt sich aktuell bei der Ausgestaltung des Bildungspakets. Kinder und Jugendliche können mittlerweile zwar Zuschüsse für ein Schulessen beantragen - viele Schulen halten ein solches Angebot aber gar nicht vor. Davon abgesehen hätte die Staatendelegation im Dialog mit dem Sozialausschuss die Gelegenheit gehabt, über dieses Thema zu diskutieren oder bestimmte Zahlen zu widerlegen. Die NRO-Berichte waren auch der Bundesregierung lange vor der Sitzung in Genf zugänglich. Diese Chance wurde offenbar verpasst. Ein Dialog mit der Zivilgesellschaft wurde zu keinem Zeitpunkt des Verfahrens von seiten der Ministerien angestrebt. Auf solche Details gingen die Presseberichte nicht ein. Der Großteil sprach fälschlicherweise von einem UN-Bericht und vernachlässigte die Frage nach dem Zustandekommen der Empfehlungen komplett - von der Bewertung der Problembereiche mal abgesehen.

Bleibt zu hoffen, dass die Empfehlungen trotz der ersten Reaktion doch noch entsprechend gewürdigt und zügig umgesetzt werden. Eine offizielle Stellungnahme der Bundesregierung steht noch aus, wie auch eine Unterrichtung des Parlaments. Es ist nun Aufgabe der Zivilgesellschaft Druck auszuüben und die menschenrechtliche Dimension sozialpolitischer Themen zu unterstreichen. FIAN ist dabei eine wichtige Stimme. Die Bundesregierung kann sich ihrer Pflicht nicht durch Stillschweigen entziehen.


Ingo Stamm war Teil der Koordinierungsgruppe der WSK-Allianz und ist Mitglied des AK Recht auf Nahrung in Deutschland.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 3/2011, November 2011, S. 7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2012