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BERICHT/243: EU-Handelspolitik - ein "fairer Deal" für unsere Wirtschaft (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 2/2011
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

EU-Handelspolitik: ein "fairer Deal" für unsere Wirtschaft

von Armin Paasch


Mit ihrer Handelsstrategie "Trade Growth and World Affairs" vom November 2010 hat die Europäische Union (EU) ihren aggressiven Deregulierungskurs nochmals verschärft. "Mein Ziel ist sicherzustellen, dass die europäische Wirtschaft einen fairen Deal erhält und unsere Rechte geachtet werden, so dass wir alle von den Vorteilen des Handels profitieren können", erklärte EU-Handelkommissar Karel De Gucht bei der Präsentation der Strategie.


Der Forderungskatalog der Kommission hat es in sich: Über bilaterale Freihandelsabkommen sollen selbst ärmste Entwicklungsländer gedrängt werden, für 80 bis 98 Prozent der europäischen Exporte ihre Zölle stufenweise abzuschaffen. Im Bereich Dienstleistungen will die EU laut Strategie "durch alle verfügbaren Mittel größere Offenheit für unsere Anbieter" erreichen. Für europäische Investoren will die Kommission mehr Schutz und eine leichtere Marktöffnung künftig auch in Handelsabkommen festschreiben. Für eine Öffnung der öffentlichen Beschaffung für europäische Unternehmen will sie "im Ausland Druck machen, und (...) insbesondere diskriminierende Praktiken bekämpfen."

Zu den Prioritäten der EU gehört ferner die Sicherung eines "nachhaltigen und unverzerrten Angebots von Rohstoffen und Energie", wozu sie Handelsregeln "bis zum Maximum" ausnutzen und weiterentwickeln will. Für geistige Eigentumsrechte europäischer Konzerne schließlich will sie in Freihandelsabkommen möglichst ein "identisches Schutzniveau" aushandeln wie innerhalb der EU, wobei freilich der Entwicklungsstand der betroffenen Länder in Betracht gezogen werde.

Alles in allem geht es also um deutlich mehr Rechte für europäische Unternehmen, insbesondere über den Hebel bilateraler Freihandelsabkommen. Doch was bedeutet das für das Menschenrecht auf Nahrung in den Ländern des Südens? Eine entsprechende Folgenabschätzung für Indien erarbeitet MISEREOR derzeit gemeinsam mit der Heinrich BÖll-Stiftung, der tschechischen Nichtregierungsorganisation Glopolis und mehreren indischen Partnern.

Im Bereich Agrarhandel drängt die Kommission gegenüber Indien besonders auf einen Zollabbau für Milch- und Fleischprodukte, Wein, Spirituosen und Fisch. Viele Expertinnen warnen jedoch vor sehr negativen Folgen für indische Kleinbauern und -bäuerinnen, wenn diese der übermächtigen Konkurrenz europäischer Agrarexporte ausgesetzt werden. Dies gilt umso mehr, da die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU europäische Unternehmen der Agrarindustrie über verschiedenste Instrumente immer noch in die Lage versetzt, landwirtschaftliche Produkte zu Preisen weit unterhalb der Erzeugungskosten zu exportieren.


Milch- und Geflügelbauern gefährdet

Bedroht wären insbesondere die rund 13,4 Millionen Milchbauern und -bäuerinnen und 3,5 Millionen Menschen, die von der Geflügelhaltung leben. Aufgrund von Verpflichtungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) hatte Indien bereits 1999-2000 vorübergehend den Milchmarkt für Importe vollständig geöffnet. Daraufhin kam es zu starken Importsteigerungen aus der EU, einem massiven Verfall der Erzeugerpreise und zu Protesten der Milchbauern und -bäuerinnen. Die indische Regierung erreichte daraufhin in Nachverhandlungen mit der WTO, dass wieder Zölle für Milchprodukte eingeführt werden durften. Sollten die Zölle durch das neue Freihandelsabkommen gegenüber der EU abermals und endgültig verboten werden, sind die Einkommen und das Recht auf Nahrung von Millionen Milchbäuerinnen und -bauern in Gefahr.


Supermärkte gegen KleinhändlerInnen

Im Bereich Dienstleistungen verlangt die EU-Kommission unter anderem, dass Indien die Beteiligung europäischer Unternehmen an Einzelhandelsgeschäften möglichst uneingeschränkt erlaubt. Bislang sind ausländische Beteiligungen in Indien nur im Großhandel und bei Einmarken-Geschäften wie zum Beispiel Adidas gestattet. Die Marktbeschränkungen sind durchaus begründet. Denn mit über 33 Millionen Beschäftigten ist der Einzelhandel gleich hinter der Landwirtschaft der zweitwichtigste Sektor. Dazu gehören vor allem die MitarbeiterInnen der rund 12 Millionen Kleinläden sowie schätzungsweise drei bis vier Millionen StraßenhändlerInnen, in der Mehrzahl Frauen.

Vor allem diese Kleinhändlerinnen und kleinen Ladenbesitzer protestieren gegen eine Öffnung des Sektors, weil sie um ihre Arbeitsplätze und Lebensgrundlagen fürchten. Untermauert werden ihre Befürchtungen unter anderem durch eine Studie des Centre for Policy Alternatives. Die AutorInnen schätzen, dass rund 8 der 12 Millionen Kleinläden von der Schließung bedroht wären, sollten Supermarktketten 20 Prozent des indischen Marktes übernehmen. Eine Bedrohung wäre das auch für Kleinbäuerinnen und -bauern, welche über die traditionellen Großhandelsmärkte (Mandis) indirekt die kleinen Läden und StraßenhändlerInnen mit Lebensmitteln beliefern. Aufgrund der hohen Produkt- und Effizienzstandards ist es sehr unwahrscheinlich, dass diese Kleinbäuerinnen und -bauern Zugang zu den Lieferketten europäischer Supermärkte finden würden.


Schallende Ohrfeige aus Genf

Bedenken gibt es auch in Bezug auf viele andere Bereiche dieses Abkommens sowie auf andere Freihandelsabkommen, welche die EU derzeit mit vielen Ländern in Afrika, der Karibik und des Pazifik, in Mittel- und Südamerika sowie in Südostasien anstrebt. Rückenwind erhielten die KritikerInnen im Mai 2011 durch den UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Dieser hatte mit Blick auf die deutsche und europäische Agrar- und Handelspolitik seine tiefe Besorgnis über die Auswirkungen auf das Recht auf Nahrung zum Ausdruck gebracht und einen umfassenden Menschenrechtsansatz in diesem Politikbereich angemahnt.


Die Regierungen sind am Zug

Als eine Maßnahme nennt der Ausschuss menschenrechtliche Folgeabschätzungen. Wie solche Folgeabschätzungen aussehen und umgesetzt werden könnten, hat UN-Sonderberichterstatter Olivier De Schutter vor kurzem in entsprechenden Leitprinzipien erörtert, die vorher in einem gemeinsamen ExpertInnenseminar mit MISEREOR, FIAN und anderen erarbeitet wurden. Dann sind die Regierungen am Zug. Sollen Menschenrechte in der Handelspolitik bloß als rhetorisches Beiwerk dienen? Oder sind die EU und die Bundesregierung bereit, ihre eigene Handelspolitik einem glaubwürdigen Menschenrechts-Check zu unterwerfen. Dies wäre nur konsequent. Hat das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in seiner neuen Menschenrechtsstrategie im Mai für die Entwicklungspolitik einen solchen "Menschenrechts-TÜV" doch bereits angekündigt.


Der Autor ist Referent für Welthandel und Ernährung beim katholischen Hilfswerk MISEREOR. Bis 2009 war er als Handelsreferent für FIAN Deutschland tätig.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 2/2011, August 2011, S. 4-5
Herausgeber: FIAN-Deutschland e.V., Briedeler Straße 13, 50969 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2011