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STANDPUNKT/104: Pamphlet - Vierzig Jahre (Ellen Rohlfs)




Vierzig Jahre


"Let my people go!"(1) bat Mose den Pharaoh -
natürlich in der damals in Ägypten üblichen Sprache.
Die zehn Plagen brachten den Pharao schließlich dazu,
Das Volk des Mose aus der Sklaverei zu entlassen.
Der Auszug war dramatisch:

Das Meer teilte sich und ließ die Israeliten
Fast trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen
das verfolgende Heer des Pharao aber
Ertrank mit Reiter, Ross und Wagen
In den zurückflutenden Wogen.

Vierzig Jahre wanderten die Israeliten
Durch die Wüste.
Sie waren durstig - kein Problem
Mose schlug mit dem Stab an die Felsen
Und das Wasser sprudelte.
Sie waren hungrig - kein Problem
Gott ließ Wachteln und Manna vom Himmel fallen.

Vierzig Jahre Wanderschaft - das Volk murrte.
Kein Wunder - es war eine harte Zeit.
Schließlich nach 40 Jahren - kam es im Gelobten Lande an -
"ein Land darin Milch und Honig fließt" (2)
Und in dem noch sieben andere Völker lebten.
Kein Problem. Sie wurden fast alle vernichtet. (3)

Die Nachfahren dieser Restvölker, die sich mischten
Mit Kanaanitern, Arabern, Philistern und Hebräern,
mit Kreuzfahrern, Mamelucken, Osmanen und Armeniern
- Juden, Christen und Muslime -
Und sich heute Palästinenser nennen
- also seit Tausenden von Jahren im Lande leben, (4)
hatten ihre eigene Multi-Kultur.

Und wenn sie hungrig waren? Mish muskule! (5)
Im Jordantal wuchs alles üppig.
Das Vieh hatte meistens saftige Weiden,
An Berghängen auf Terrassenfeldern wuchsen Olivenbäume
In der Ebene Getreide, Zuckerrohr und Riesenmelonen
Zitrusbäume und Dattelpalmen.
Waren sie durstig? Mish muskule!:
Der noch nicht abgeleitete Jordan, die gebohrten Brunnen,
Vom Winterregen gefüllte Zisternen - es war selten zu viel
Es reichte sogar noch für Pilger aus aller Welt.

Dieses Volk wandert nun seit 40 Jahren
durch seine "Wüsten" in aller Welt, in Flüchtlingslagern,
im eigenen Land vor Grenzübergängen,
Terminals, Checkpoints und nun vor der Apartheid-Mauer
Es fragt, wie lange noch?
Sind 40, gar 60 Jahre nicht längst genug?

Von Tag zu Tag wird das Volk
um mehr Dunums (6) seines Landes beraubt
Fruchtbäume wurden zu zig Tausenden
Und vor 60 Jahren über 500 Dörfer zerstört -
Die Zerstörung aber geht weiter.

Das Wasser: ein immer größeres Problem -
Der größte Teil wird in israelische Städte und Siedlungen geleitet,
So trocknen Quellen und Brunnen aus,
werden gar zerstört oder versiegelt -
Das Restwasser schwer kontaminiert oder gar vergiftet (7).
Das eigene Wasser muss teuer zurückgekauft werden.
Egal wo und wie die Menschen leben
Ob in Höhlen, Zelten, Blechhütten oder Häusern -
Mehr als 18 000 wurden zerstört - es wird ethnisch gesäubert
Im Negev und in Galiläa, im Jordantal, im Gazastreifen und Jerusalem?

Wenn sie Glück haben, dürfen sie Sklavenarbeit leisten
Wie einst die Hebräer in Ägypten.
Sonst werden sie schikaniert, gedemütigt,
Verhaftet, gefoltert, verletzt und getötet.
Warum? Aus Sicherheitsgründen.
Denn Sicherheit ist nur für das eine Volk.

Alles wird ihnen genommen
die Zeit, die Straßen und das Geld
die Kinder, die Freiheit, das Leben und was sonst dazu gehört.
Die Welt sieht zu - als sei's ne Komödie.
Es ist aber in realiter eine erschütternde Tragödie.

Die Menschen üben unglaubliche Geduld - SUMUD
Und manche murren nicht nur - wen wundert's?
- sie leisten auch Widerstand, zuweilen brutal - doch meist gewaltfrei -
Und werden dafür zehn- oder gar hundertfach bestraft.
Die "ethnic cleanser" (8) denken und wünschen:
"Let this people go! Let this people starve! (9)
Wann verschwinden sie denn endlich von alleine?"

Wo bleibt der Mose oder Nelson Mandela,
der das geschundene Volk in die Freiheit führt?

Nach 40, ja, 60 Jahren Leid, Verzweiflung, Zorn und Verbitterung
klingt es inzwischen von allen Enden der Erde:
"40 Jahre Besatzung, Unterdrückung und Vertreibung sind vollauf genug!
Lasst endlich das Volk in seinem eigenen Lande leben!

Let this people stay! Let this people live!" (10)


Ellen Rohlfs, 2007



1) einem bekannten Spiritual nachempfunden
2) 2. Mos. 3,8
3) Josua 12/ 5. Mos. 7
4) Jericho war schon um 8000 v. Chr. eine Stadt
5) arab.: Kein Problem!
6) Dunum, arabisches Flächenmaß
7) von Siedlern südlich Hebron
8) diejenigen die die ethnische Säuberung und den Transfer befürworten
9) Lasst dieses Volk gehen! Lasst es verhungern!
10) Lasst dieses Volk bleiben! Lasst dieses Volk leben!


*


Quelle:
Copyright by Ellen Rohlfs
mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2009