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PREIS/003: Medinetz Dresden erhält den Demokratiepreis (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 19 vom 24. November 2009

Medinetz Dresden erhält den Demokratiepreis
Humanitäre Hilfe - ehrenamtlich, anonym und kostenlos

Von Dagmar Möbius


"Ein Leben in der Illegalität ist wie ein Leben zwischen den Zeilen, ein Leben ohne Perspektive, ein Leben ohne Sicherheiten, ein Leben ohne gesehen zu werden, ein Leben ohne Unterstützung, ein Leben ohne zu spüren, dass das Leben lebenswert ist." Ein Künstlerplakat von Sebastian Leifeld bringt auf den Punkt, worüber sich viele Menschen hierzulande noch nie Gedanken gemacht haben. Es ist Teil der Kampagne "Kein Mensch ist illegal" und war einer der Gründe, warum sich der Verein Medinetz Dresden um den Sächsischen Förderpreis für Demokratie 2009 beworben hatte. Mit Erfolg.

Am 9. November 2009 wurde Medinetz Dresden e.V. mit dem mit 15.000 Euro dotierten Preis ausgezeichnet. Als eine von drei sächsischen Initiativen. "Damit haben wir nicht gerechnet", geben Anna Eichelberg und Puneh Arazm vom 15-köpfigen Medinetz-Team zu. "Schon, als wir aus 55 Bewerbungen unter die zehn Nominierten kamen, hat uns das sehr gefreut." Die beiden Medizinstudentinnen engagieren sich seit anderthalb bzw. drei Jahren dafür, dass illegal in Deutschland lebende Menschen bei Bedarf Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung erhalten. Es ist ein Thema, das auf Politikerthemen-Rankings nicht ganz oben rangiert, das Unsicherheiten und Ängste schürt oder für unerheblich gehalten wird. Schätzungsweise eine Million Menschen halten sich in Deutschland ohne offiziellen Aufenthaltsstatus, das heißt ohne Papiere, auf. Immer in Sorge, entdeckt und abgeschoben zu werden. "Diese Menschen fallen durchs Raster", fasst Puneh Arazm zusammen. Dabei gehöre es doch zum Demokratie-Grundverständnis, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Religion, seiner Ethnologie, seinem Geschlecht oder seinem Aufenthaltsstatus das Recht auf medizinische Behandlung habe, wenn er krank wird.

Ein Zustand, den die zukünftige Ärztin ebenso wenig hinnehmen möchte wie ihre Medinetz-Mitstreiter. Die 2006 gegründete Gruppe ging aus einer IPPNW-Studenteninitiative hervor und agiert auch heute noch unter deren Dach. IPPNW steht für "International Physicians for the Prevention of Nuclear War", richtet sich einerseits gegen atomare Aufrüstung und Atomkrieg und sieht sich andererseits als "Ärzte in sozialer Verantwortung". Die seit 2008 als Verein bestehende Dresdner Gruppe konzentriert sich auf die Medinetz-Arbeit. Die Studierenden vom ersten bis zum zwölften Semester der Medizinischen Fakultät der TU Dresden werden von Ärzten, Psychologen, Hebammen, Dolmetschern und Rechtsanwälten unterstützt. Ihre Hauptaufgabe ist es, zwischen Patienten und Ärzten zu vermitteln. "Das kann jeder, auch ein Laie, wir leisten keine medizinische Versorgung", sagt Anne Eichelberg, Medizinstudentin im 9. Semester. Deshalb würde sich das Team über die Mitarbeit von Studierenden anderer Fachrichtungen freuen. "Das ermöglicht andere Blickwinkel."

Gesundheitliche Probleme werden aus Angst oft lange aufgeschoben, bevor Betroffene über ein Bereitschaftshandy Kontakt zu Medinetz aufnehmen. Dass es diese Möglichkeit gibt, erfahren sie über Mund-zu-Mund-Propaganda, von Kooperationspartnern wie dem Ausländerrat oder sozialen Vereinen und Beratungsstellen. Sollte der diensthabende Student gerade in der Vorlesung sitzen, ruft er schnellstmöglich zurück. "Dann klären wir, wie akut das Anliegen ist, ob jemand in unsere wöchentliche Sprechstunde kommen möchte, ob eine Begleitung gewünscht oder ein Dolmetscher nötig ist." Persönliche Daten werden zu keinem Zeitpunkt aufgenommen. Das ist die Grundbedingung, damit Flüchtlinge und Migranten ohne Aufenthaltsstatus überhaupt Hilfe in Anspruch nehmen. Gründe, "illegal" leben zu müssen, gibt es viele: illegal Eingereiste, Prostituierte, Menschen mit Duldungsstatus, deren Asylantrag abgelehnt wurde. "Manchmal ist es auch simpel, zum Beispiel bei ausländischen Studenten, deren Krankenversicherung nicht ausreichend gedeckt oder abgelaufen ist", erklärt Puneh Arazm. Sprachbarrieren gibt es bei Medinetz übrigens kaum. Die meisten Hilfesuchenden sprechen deutsch. Englisch, spanisch, persisch wie Puneh oder ungarisch wie Anne sprechen die Medinetz-Helfer selbst. Im Notfall können sie auf kostenlose Dolmetscherhilfe zurückgreifen.

400 Mediziner der Region hatte die Menschenrechtsinitiative vor drei Jahren angeschrieben. Aktuell leisten etwa 20 Partnerärzte humanitäre, kostenlose Hilfe für das Medinetz Dresden. Entgegen oft geäußerten Befürchtungen ist das nicht strafbar. Fast alle Fachrichtungen sind vertreten. Bedarf besteht allerdings zum Beispiel an Hautärzten, Orthopäden, Augenärzten und Radiologen. Für Fälle, in denen Leistungen wie Laboruntersuchungen, Operationen oder Entbindungen finanziert werden müssen, ist Medinetz Dresden auf Spenden angewiesen oder sammelte Geld über selbst organisierte Kleinkunstbenefizabende. Der Kontakt zu Kliniken war bis vor Kurzem durch die gesetzlich fixierte Datenübermittlungspflicht erschwert. Weil diese den Grundsatz der Anonymität aushebelte, wich man auf die Zusammenarbeit mit kirchlichen Krankenhäusern aus. "Wir müssen abwarten, wie sich die seit 18. September gültige Gesetzänderung künftig praktisch auswirkt", sagt Anne Eichelberg.

Etwa 25 Menschen betreute Medinetz Dresden in diesem Jahr bereits. Pro Jahr werden es mehr.

Ausgenutzt oder missbraucht fühlten sich die angehenden Mediziner noch nie. "Nein", widerspricht Puneh vehement der etwas provokanten Frage: "Wir sind der Strohhalm für die Menschen." Das wird deutlich, wenn angerufen wird, weil jemand wissen möchte, ob er beim Kauf einer Prepaid-Karte für sein Handy seinen Ausweis zeigen muss. Zwar kein medizinischer Notfall, aber eine psychologisch ernst zu nehmende Frage. Eine, die Angst bändigt und Grundvertrauen schafft. Das müsse man unbedingt haben, ist Puneh Arazm überzeugt: "In die Suppenküche stellt sich auch keiner, der nicht bedürftig ist."

Mit einem Teil des Preisgeldes möchte Medinetz Dresden nächstes Jahr die eingangs erwähnte Ausstellung "Kein Mensch ist illegal" aus Köln in die sächsische Landeshauptstadt holen. Ein ergänzendes Rahmenprogramm soll mehr Menschen dafür sensibilisieren, darüber nachzudenken, was alles ohne Ausweis unmöglich ist. Wo die Exposition zu besichtigen sein wird, steht noch nicht fest. Eine drei Monate im Dresdner Rathaus liegende Anfrage kam mit einer Absage zurück. Ausgerechnet einen Tag nach der Preisverleihung, wunderten sich die Geehrten. Gedanklicher Favorit ist momentan der Hauptbahnhof: ein stark frequentierter Ort, den viele Menschen passieren, die noch nie mit dem Thema konfrontiert waren.

Ein langfristiger Wunsch der Medinetz-Engagierten ist: "Dass wir uns überflüssig machen." Denn der Staat müsste nach ihrer Auffassung ihre bisher ehrenamtlichen Aufgaben erfüllen. Mit der Schaffung des anonymen Krankenscheins zum Beispiel. Das wird in Kürze kaum zu erwarten sein, vermuten Puneh Arazm und Anna Eichelberg. Die Anbindung an vorhandene Strukturen wäre aber ein wichtiges politisches Signal auf Länder- und Bundesebene. Ihre Würdigung mit dem Sächsischen Förderpreis für Demokratie sehen sie deshalb als ermutigenden Schritt in die richtige Richtung.

Kontakt Medinetz Dresden e.V.:
Mail: medinetzdresden@gmx.de
www.medinetz-dresden.de
www.demokratiepreis-sachsen.de


veröffentlicht im Schattenblick mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Dagmar Möbius, Freie Journalistin (DVPJ) - www.dagmar-moebius.de


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 20. Jg., Nr. 19 vom 24.11.2009, S. 6
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
Nöthnitzer Str. 43, 01187 Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2009