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BERICHT/998: Weltsozialforum in Belém 2009 (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt und Entwicklung - Rundbrief 1/2009

Weltsozialforum in Belém 2009
Im Wilden Westen der Globalisierung

Von Jürgen Reichel


Über 100.000 Menschen kamen Ende Januar zum 8. Weltsozialforum und machen das amazonische Belém zu einem Ort basisdemokratischer Vielfalt. In hunderten selbst organisierten Workshops und Seminaren kamen die TeilnehmerInnen im Angesicht der gewaltigen Zivilisationskrise zu der Schlussfolgerung: "Es gibt kein Weiter-So."


Keine Krise des Weltsozialforums...,

Die "Krise des Weltsozialforums" war ausgerufen worden. Mag sein, dass diejenigen sich in der Krise ben, die sich ein anderes Weltsozialforum wünschen: eines, das ein Kommuniqué verabschiedet, eine intellektuell brillante Präsidentin oder einen eloquenten Pressesprecher vorweisen kann und, am besten, ein überzeugendes 10-Punkte-Programm zur Behebung der weltweiten Krisen vorlegt. So oder ähnlich wünschen sich manche das Weltsozialforum: an der Spitze einer weltweiten Bewegung. An Versuchen hat es nicht gefehlt, die bisherigen Foren - 2001 bis 2003 und 2005 in Porto Alegre, 2004 in Mumbai, 2006 die dezentralen Foren in Karachi, Bamako und Caracas und 2007 in Nairobi - zu Fackelträgern einer neuen Internationale zu machen. Wer genauer hinsah, konnte dabei immer einige europäische NRO-Strategen und die eine oder andere lateinamerikanische Regierung am Werk sehen.


... sondern ein Treffen der Vielfalt von Bewegungen und Organisationen

Die Weltsozialforen haben allen diesen Versuchen widerstanden, und das hat das 8. Weltsozialforum im amazonischen Belém zu einem Ort basisdemokratischer Vielfalt gemacht. Noch nie war das Bild so bunt: Über 3000 Indigene hatten sich aus allen Ländern des Amazonasbeckens auf den Weg gemacht und stellten ihre Strategien zum Schutz ihrer Kulturen vor. Sie trafen auf Umweltschützer, die Flussumleitungen oder Staudammbauten zu verhindern wissen. "Die Welt der Arbeit" diskutierten Zehntausende von GewerkschaftsvertreterInnen. Kleinbauern und FlussfischerInnen traten mit Nachdruck für ihre angepasste und nachhaltige Nutzung der Böden und Gewässer ein. Menschenrechtsorganisationen forderten ein Ende der Straflosigkeit für Polizeikräfte, die jedes Jahr das Leben von tausenden von SlumbewohnerInnen auf dem Gewissen haben. Katholische und evangelische Gemeinden berichteten über ihre Kämpfe für menschenwürdiges Leben und forderten in Anlehnung an das Neue Testament PolitikerInnen, die wirkliche "Hirten" für das Volk sind.

Über 100.000 Menschen kamen nach Belém - aus allen Ecken des Amazonasbeckens und des restlichen Südamerikas, weniger als sonst aus Nordamerika und Westeuropa, nur eine Handvoll aus Asien, Afrika oder dem östlichen Europa. Zu 2400 Workshops, Seminaren, Kundgebungen fanden sie auf dem Gelände der beiden gastgebenden Universitäten, der Landwirtschaftsuniversität und der des Staates Pará zusammen - allesamt selbst organisiert. Die Vorstellung, die Organisatoren des Forums müssten "wichtige" zentrale Veranstaltungen planen, ist längst aufgegeben worden: Die Besucher und Besucherinnen des Forums stimmen mit ihrer Präsenz dafür ab, was "wichtig" ist. Und das sind in den seltensten Fällen die Podien europäischer Nichtregierungsorganisationen.


Die Zivilisationskrise manifestiert sich nirgends besser als im "Wilden Westen der Globalisierung" - dem Amazonas

Das Ergebnis der Vielfalt: Wir befinden uns in einer Zivilisationskrise - gewaltiger und tiefgründiger als diejenigen, die zu den ersten Weltsozialforen aufgerufen hatten, sich vorgestellt hatten. Ging es nach 2000 zunächst um scheinbar übermächtige internationale Organisationen - Welthandelsorganisation, Weltbank und Internationaler Währungsfonds - und deren Aushebelung von Interessen der Entwicklungsländer, sind diese ehemaligen Giganten auf die Größe von Scheinriesen, die wir in Michael Endes "Jim Knopf" kennen gelernt haben, geschrumpft: Je näher man ihnen kommt, als desto furchtsamer erweisen sie sich. Die Saat der Globalisierung ist aber aufgegangen: Die Kultur der hemmungslosen Bereicherung ist Leitvorstellung der Wirtschaft geworden - mit allen Folgen in der ersten, zweiten oder "Dritten" Welt: Rohstoffe werden vollends geplündert, nachhaltige und selbstgenügsame Lebensformen zerstört, Gewinne und Einkommen maximiert, alles, was nicht niet- und nagelfest ist, zur Ware deklariert. Deshalb war es richtig, das Weltsozialforum 2009 nach Belém zu vergeben: Es traf sich im "Wilden Westen" der Globalisierung. Fast hemmungslos werden Rohstofferschließungen vorangetrieben, Straßen kreuz und quer angelegt, Staudämme geplant, großflächige Landwirtschaft mit cash crops - Soja, Baumwolle für den Export - erschlossen. Menschen und Natur bleiben auf der Strecke. Hunderte von Menschen sind in den letzten Jahren allein im Großraum Belém von der Polizei bei Landkonflikten erschossen worden, erzählt uns die Menschenrechtsbeauftragte der Stadt Belém, die lutherische Pfarrerin Cibele Kuss. Kaum jemals gelingt es, einen Fall zur Verhandlung zu bringen, auch wenn die Schuldigen namentlich bekannt sind, in keinem einzigen Fall hat es in den letzten Jahren eine Verurteilung gegeben. Wenn sich auch Menschen einschüchtern und kontrollieren lassen - die Natur zeigt den Menschen ihre Grenzen. Auch im Amazonasgebiet sind die Klimaveränderungen spürbar - die Regenzeiten verschieben sich, fallen in großen Regionen ganz aus; letztes Jahr wüteten deshalb Waldbrände unbekannten Ausmaßes im Amazonasbecken. Der Müll wird zu einem Problem, obwohl die Region noch immer dünn besiedelt ist: Der Strom schwemmt Berge von Abfall an; in den Mangroven der Inseln im Mündungsgebiet bleibt er hängen und trifft auf den Müll, der aus dem Atlantischen Ozean angeschwemmt wird.


Politiker reden sich die Welt schön...

"Unsere Ressourcen sind unerschöpflich" behauptet der brasilianische Präsident Da Silva hingegen. Ein krasser und tragischer Fall von Globalisierungsinfektion. Brasilien will zur "Weltspitze" aufschließen - in den Kreis einer erweiterten G8 aufgenommen werden, einen Platz im UN-Sicherheitsrat erhalten. Lula hat schnell begriffen, wie das geht: Ausbeutung der Rohstoffe, forcierter Export, Entwicklung der Landwirtschaft mithilfe von Gentechnologie. Was für ein tragisches Missverständnis: Er sieht sich als einer der geistigen Väter des Weltsozialforums, sucht den Schulterschluss mit dem Internationalen Rat des Forums, lädt seine Kollegen Lugo (Paraguay), Correa (Ecuador), Morales (Brasilien) und Chávez (Venezuela) nach Belém ein, setzt sich dafür ein, dass die Infrastruktur der Stadt Belém so verbessert wird, dass sie das Forum beherbergen kann, lädt für 2010 ein weiteres Mal nach Brasilien ein - und wird dessen nicht gewahr, dass er die Seiten gewechselt hat. "Wie gedenken Sie, Herr Präsident," fragt eine afrikanische Kollegin im Internationalen Rat des WSF ihn anlässlich eines langen und offenen Meinungsaustausches, "die Solidarität der Entwicklungsländer aufrecht zu erhalten?" Lula führt aus, dass er das mit seiner Art der Entwicklungshilfe zu tun gedenkt: Beratung der Wirtschaft und ganz besonders der Landwirtschaft, um die afrikanischen Länder nach dem Beispiel Brasiliens voranzubringen: Agroindustrie, ganz besonders mithilfe gentechnologisch veränderter Sorten.


... deshalb muss das Weltsozialforum unabhängig bleiben

Ein Glück, dass das WSF keine Koalition mit politischen Größen und Strömungen irgendwelcher Art eingegangen ist, ein Segen, dass die Akteure der Zivilgesellschaft sich ständig neu ihre Meinung darüber bilden müssen, was jetzt gefordert ist. Wer sich nicht nur mit seiner Gruppierung und deren speziellen Anliegen beim diesem Weltsozialforum aufgehalten hat, wer also den "open space" WSF genutzt hat, um zuzuhören und Eindrücke zu sammeln, der musste 2009 in Belém zur Schlussfolgerung kommen: Wir haben es mit einer gewaltigen Zivilisationskrise zu tun. Es gibt kein "Weiter so." Die Finanzkrise, die Wirtschaftskrise, Nahrungsmittelverknappungen, Klimaveränderungen, der Rückgang der Artenvielfalt, das Ende des Ölzeitalters - all das hängt zusammen, ist Konsequenz einer verfehlten Wirtschafts- und Lebensweise, die aber momentan die einzig durchgängig prägende auf dem ganzen Planeten ist und deren Attraktion in den noch weniger "entwickelten" Ländern gestiegen ist. Ganz anders zu denken, sich die Welt radikal anders als nach dem Muster europäischer "entwickelter" Gesellschafen vorzustellen - das war bei diesem WSF gefragt.

Die Schluß-Assambleias (-Versammlungen) des letzten Tages haben die Richtung gewiesen: tausende versammelten sich jeweils zu von den Teilnehmenden selbst vorgeschlagenen Querschnittsthemen, 25 an de Zahl: Indigene Völker, Wasser, Klimagerechtigkeit oder Finanzkrise. "Wir müssen auf eine Gesellschaft hinarbeiten, die sozialen Bedürfnissen Rechnung trägt", fordert die Erklärung der sozialen Bewegungen, "und die Rechte der Natur achtet sowie die demokratische Teilhabe im Zusammenhang mit voller politischer Freiheit unterstützt. Wir müssen dafür sorgen, dass alle internationalen Verträge über unsere unteilbaren bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen, individuellen und kollektiven Rechte umgesetzt werden." Ein "Leben, das im Einklang" mit sich selbst, den anderen und der Umwelt steht" ist die Leitvorstellung derer, die in Belém entschlossen - und voller Lebensfreude - daran festgehalten haben: "Eine andere Welt ist möglich."

Der Autor leitet das Referat Entwicklungspolitischer Dialog beim Evangelischen Entwicklungsdienst e.V. (EED) in Bonn. Seit 2002 ist er Mitglied des Internationalen Rates des WSF.

Die Erklärungen der Schlussversammlungen des Weltsozialforums vom 1.2.2009 finden sich in den Originalsprachen unter http://www.eed.de / Bilanz des Weltsozialforums / Dokumente der Schlussveranstaltungen

Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
Noch nie war das Bild so bunt: Über 3000 Indigene hatten sich aus allen Ländern des Amazonasbeckens auf den Weg gemacht und stellten ihre Strategien zum Schutz ihrer Kulturen vor. (Foto: r/iurifernandes)


Das Forum Umwelt & Entwicklung wurde 1992 nach der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung gegründet und koordiniert die Aktivitäten der deutschen NRO in internationalen Politikprozessen zu nachhaltiger Entwicklung. Rechtsträger ist der Deutsche Naturschutzring, Dachverband der deutschen Natur- und Umweltschutzverbände (DNR) e.V. Diese Publikation wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) offiziell gefördert. Der Inhalt gibt nicht unbedingt die Meinung des BMZ wieder.


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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 1/2009
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
Koblenzer Str. 65 53173 Bonn
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2009