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BERICHT/878: Postkarten für Gaza (medico international)


medico international - Der Jerusalem-Blog von Tsafrir Cohen

Postkarten für Gaza

Israelische Künstler interagieren mit den Bildern
des Gazaer Photographen Shareef Sarhan

Von Tsafrir Cohen, 20. Februar 2009

Shareef Sarhan, Uploaded January 10th 2009


"Ist das Küchlein mit Mousse au Chocolat gefüllt oder ist das Nougat?", fragt die Frau, die neben mir in einem Tel Aviver Cafe ihren Mann. Er scheint sich nicht um Süßes zu kümmern liest die Fußballseiten weiter. Hurra, Hurra, schreit es aus den anderen Seiten der Boulevardzeitung, endlich zeigen wir es den Palästinensern. Etwas moderatere Stimmen sinnieren in kleineren Buchstaben, wir haben ihnen doch alles gegeben, wir haben uns doch zurückgezogen - was wollen sie noch? Warum bombardieren sie uns noch immer? Nur wenige Israelis sind sich im Klaren, dass der Rückzug aus Gaza keinesfalls das Ende der Besatzung in Gaza oder gar den Beginn einer glücklichen, selbstbestimmten Zukunft für die Palästinenser darstellt. Schlimmer noch, niemand scheint sich zu fragen, wie es den eingekesselten Menschen in Gaza geht, wie sie ihren Alltag bewältigen nach 18-monatiger Blockade und dreiwöchigen Dauerbombardements. Die Trennungspolitik zeitigt Wirkung. Gaza befindet sich auf einem anderen Planeten, die Menschen scheinen aus einem ganz anderen Material beschaffen zu sein.

Einige Meter weiter liegt das Büro von Zochrot. Etwa dreißig Menschen haben sich dort versammelt. Es geht nicht um Schokolade, auch nicht um Fußball. Norma Musih, die Kuratorin von Zochrot hat mich in den vergangenen Wochen immer wieder angerufen. Verstört durch die Nachrichten aus Gaza, suchte sie nach Wegen, das Leid in Gaza auch im wohlgeordneten Tel Aviv, in dem das gute Leben für keinen Moment innehielt aufgrund der Ereignisse wenige Kilometer südlicher, anschaulich zu machen. Norma ist für die Ausstellungen des medico-Partners Zochrot zuständig. Zochrot versucht, die Nakba, jene Katastrophe der Palästinenser 1948, als der Staat Israel gegründet wurde und sie vertrieben wurden oder geflüchtet waren, in den israelischen, hebräischen Diskurs einzuführen. Zochrots Strategie ist eine langsame Annäherung, ein langsamer Verständigungsprozess, in dessen Verlauf jüdische Israelis den Ort, in dem sie leben, besser verstehen sollen. Spontane Reaktionen auf den Krieg in Gaza war eigentlich im Programm von Zochrot nicht vorgesehen. Doch "angesichts der Tatsache, dass Zweidrittel der Bevölkerung von Gaza aufgrund der Nakba erst in diese Enklave gedrängt worden waren und dort bis heute Flüchtlingen geblieben sind, musste ich was tun", so Norma. "Diese Flüchtlinge lebten einst im Süden des Landes: Die israelischen Städte Ashdod, Ashqelon, Kiryat Malachi und andere Ortschaften unweit von Gaza wurden doch auf ihrem Land etabliert. Dort, wo die Qassam-Raketen heute fallen - da kamen sie her. Sie blieben Flüchtlinge all diese Jahre, und jetzt erleben sie erneut die Gewalt jenes Staats, der sie einst zu Flüchtlingen, zu einem 'humanitären Fall' machte."


Postkarten für Gaza

Im Internet fand Norma auch Bilder des Gazaer Photographen Shareef Sarhan. Die Photos, die er während der Angriffe auf Gaza schoss, stellte er in den wenigen Minuten, in denen es Strom gab, ins Netz. Norma sandte den Link zu den Photos an befreundete israelische Künstler und bat sie darum, auf die Bilder zu reagieren. Aus den Reaktionen der Künstler ist "Postkarten für Gaza" entstanden.

Bei der Ausstellungseröffnung in der winzigen Galerie von Zochrot, eigentlich das Wohnzimmer einer in ein Büro umgewandelten Wohnung, sagte Norma: "Einige der Künstler entschieden sich dafür, sich auf die Verwandlung von einem Photomotiv zu konzentrieren. Andere reagierten mit einem anderem, eigenen Motiv oder Text. Alle schauten sich Sarhans Photos an, dann die Rekationen der Künstler, dann wieder die Photos. Die Werke der Künstler beschäftigen sich mit dem Spannungsverhältnis aus Zuschauen, Sehen und Anteilnehmen. Sie bezeugen Hinschauen. Die Ergebnisse der Auseinandersetzung wurden in Postkartenformat gefertigt. Dieses verbreitete, alltägliche Objekt wurde ausgewählt, um der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass die Photographien und die Reaktionen der Künstler sich auch über die Grenzen der Ausstellungsräume verbreiten. Genauso wie der Zustand in Gaza wieder erfahrbar werden soll - auch in der Lebenswelt der Israelis.

Sarhan konnte natürlich nicht zur Vernissage kommen, aber er war mit uns telephonisch verbunden. Er wollte uns trösten und meinte, er hab sich längst daran gewöhnt, seine eigenen Ausstellungen im Ausland oder in der Westbank nicht besuchen zu können.


PS: "Postkarten für Gaza" ist die zweite Reaktion von Zochrot zum Angriff auf Gaza. Über die erste habe schon an anderer Stelle wie folgt berichtet:

24 Stunden nach Beginn des Bombardements zirkulierte im israelischen Internet ein Aufruf an israelische Dichter, Schriftsteller, Künstler, Material gegen den Krieg zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Der Aufruf stammte von mehreren kritischen Medienpublikationen, darunter auch vom Zochrot-Magazin Sedek. Zwei Tage, nachdem der Aufruf die Runde machte, hatten die Initiatoren etwa 300 Texte beisammen. Am Neujahrsabend saßen die sechs Zeitschriftenredakteure zusammen, um die Texte zu begutachten. 36 Stunden ohne Pause wählten sie Arbeiten von 67 schreibenden und bildenden Künstlern aus. Danach wurden die Texte zu einer Druckerei gebracht. Keine israelische Druckerei war bereit, die Publikation zu drucken, also wurde der Band in einer arabisch-israelischen Dorfdruckerei produziert. Nach dieser Blitzaktion und nur 4 Tagen war das Buch fertig und konnte - gegen Spenden - verteilt werden.

"Ein Gedicht kann die Meinung eines Menschen nicht ändern. Eine Person, die für den Krieg ist, wird nach dem Lesen eines traurigen oder fröhlichen, hoffnungsvollen oder bitteren Gedichts nicht gegen den Krieg opponieren. Die Gedichte zu schreiben, sie zu sammeln, zu redigieren und in so kurzer Zeit zu drucken war ein spontaner Protestakt gegen die israelische Attacken auf Gaza und Israels Vernachlässigung der eigenen Bürger im Süden des Lands - um Gaza. Während ich dies sage, gilt jede Opposition gegen den Krieg als Verrat. Wir werden die Meinung von Menschen nicht ändern, aber die Tatsache, dass wir so schnell und so zahlreich agiert haben, zeigt, dass es so eine Position gibt, nicht in irgendeinem Wohnzimmer, sondern im öffentlichen Raum. Dies kann ein alternativer Standpunkt sein, eine alternative Option, für die, die eine solche suchen". Das schreibt Tomer Gardi, der Redakteur von Sedek in seinem Vorwort. "Gewalt ist sehr effektiv. Viele der Druckereien wollten das Buch drucken, hatten aber Angst vor eingeworfenen Fensterscheiben danach. Dennoch: Das Band ist raus und ist eine starke Stimme gegen den Krieg, die nur stärker werden kann."

Auf http://www.medico.de/themen/vernetztes-handeln/blogs/paradoxe-hoffnung/2009/02/20/26/ (unten)
finden Sie einen Link zu einer PDF mit allen Postkarten der Ausstellung. Sie können diese Postkarten auch ausdrucken: Auf genannten Link gehen. Postkarte aussuchen. Entsprechendes Papier einlegen. Druckfunktion auswählen, "Papierquelle anhand der PDF Seitengröße auswählen" auswählen. Drucken. Das ausgedruckte Blatt umdrehen und die Rückseite auf die andere Seite ausdrucken. Schon haben Sie eine Postkarte.


Weitere Informationen zu Zochrot:

* Blog-Beitrag: "Nakba" oder die Lücke
http://www.medico.de/themen/vernetztes-handeln/blogs/paradoxe-hoffnung/2008/03/31/12/

* Projektinfo Zochrot: Ohne Erinnerung keine Zukunft
http://www.medico.de/themen/krieg/nahost/dokumente/zochrot/93/

Die Verbreitung und Veröffentlichung dieses Beitrags ist erlaubt und erwünscht.


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Quelle:
medico international - Website
Der Jerusalem-Blog von Tsafrir Cohen - Beitrag vom 20. Februar 2009
http://www.medico.de/themen/vernetztes-handeln/blogs/paradoxe-hoffnung/2009/02/20/26/
mit freundlicher Genehmmigung des Autors und des Herausgebers
Herausgeber: medico international
Burgstraße 106, 60389 Frankfurt am Main
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2009