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MELDUNG/105: Bosnien - Merkel soll sich für Wiedervereinigung und EU-Beitritt einsetzen


Gesellschaft für bedrohte Völker e. V. - Presseerklärung vom 8. Juli 2015

OFFENER BRIEF
An Bundeskanzlerin Angela Merkel
anlässlich Ihres Besuchs in Sarajevo (9.7.)

Bitte setzen Sie Ihren Einfluss, Ihr Ansehen und Ihre ganze Kraft für die Wiedervereinigung und den EU-Beitritt Bosnien-Herzegowinas ein!


Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

unsere Menschenrechtsorganisation, die Gesellschaft für bedrohte Völker International, begrüßt ausdrücklich Ihren Besuch in Sarajevo und Ihr Interesse für das geschundene Bosnien und Herzegowina.

Zwei Jahrzehnte nach dem Schrecken von Genozid, Massenvergewaltigung und Massenvertreibung bitten wir Sie, verehrte Frau Bundeskanzlerin, sich für dieses geteilte und noch immer darniederliegende Land einzusetzen.

Die Situation Bosnien-Herzegowinas ist zweifellos unerträglicher als die jedes anderen europäischen Landes. UNO und NATO und somit auch die westlichen Großmächte haben die Zerstörung von Bosnien-Herzegowina und der Vernichtung von bis zu 150 000 seiner Einwohner nahezu tatenlos hingenommen. Sie haben nach dem Vorbild der früheren südafrikanischen Apartheid das Land in zwei Teile geteilt und den einstigen Aggressoren, deren Führung sich inzwischen vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal (ICTY) in Den Haag verantworten muss, die Hälfte Bosniens überantwortet. Statt die Rückkehr der Vertriebenen zu ermöglichen und durchzusetzen wurden nahezu ethnisch reine Gebiete geschaffen.

Ausgerechnet die gerade wiedervereinigte Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete, neben den Großmächten Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA, jenes Teilungsabkommen von Dayton ( 1995 ), das die Vertreibung von über 1,2 Millionen Bosniern, überwiegend Muslime, sanktionierte.

Nachdem die Bundesrepublik etwa 350.000 bosnische Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen hatte, zwang sie nach Kriegsende mehr als 200.000 dieser unglücklichen Menschen, denen die Heimat aufgrund der Grenzziehung nun verschlossen war, zur Auswanderung nach Australien, Kanada und in die USA. Sehr viele von ihnen, die unter anderem im heißtrockenen West-Australien, im Mormonenstaat Utah oder am Mississippi angesiedelt wurden, leiden bis heute unter den Folgen dieser Zwangsvertreibung. Das war eine der schlimmsten Seiten deutscher Flüchtlingspolitik, eines Landes, dessen Einwohner zu mehr als einem Drittel Flüchtlinge, Vertriebene und Spätaussiedler oder deren Nachkommen sind.

Wir appellieren an Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, die Sie - wie Bundespräsident Joachim Gauck - die deutsche Teilung erleiden mussten, sich für eine schnelle Wiedervereinigung des gequälten Bosniens einzusetzen. In unserer bosnischen Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker, sind alle ethnischen Gemeinschaften und Konfessionen vertreten.

Wir bitten Sie auch, sich energisch für das gepeinigte Srebrenica einzusetzen.

Srebrenica und die überlebenden Opfer eines der furchtbarsten in Europa begangenen Verbrechen dürfen nicht weiter damit bestraft werden, Teil der den Tätern überlassenen Nordhälfte Bosniens zu bleiben, deren Polizei und Armee für die Tötung ihrer Liebsten verantwortlich sind. Erst wenn Srebrenica nach dem Vorbild des Distriktes Brcko zum Distrikt unter Verwaltung der Zentralregierung von Bosnien und Herzegowina gestellt wird, können alle überlebenden Genozidopfer an diesen Ort wieder zurückkehren und dort die Erinnerungen an ihre Angehörigen pflegen.

Der Staat Bosnien und Herzegowina mit seiner komplizierten Struktur - zwei Entitäten, 183 Ministerien, 14 Regierungen, 14 Parlamente, zehn Kantone, drei Schul-, Renten- und Krankenversicherungssysteme - ist absolut funktionsunfähig. Die Dayton-Verfassung hat eine auf ethnisch-rassischen Prinzipien beruhende Apartheid geschaffen, die für den größten Teil der Bevölkerung unerträglich ist. Dazu kommen Vetternwirtschaft und Korruption und 20 Jahre nach Kriegsende weiter zunehmende Verarmung.

Schließlich bitten wir Sie, verehrte Frau Bundeskanzlerin, den Beitritt eines wiedervereinigten Bosniens in die Europäische Union zu unterstützen genauso wie die Anstrengungen von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, zurückzukehren, und die Suche nach 7886 noch Vermissten.

Mit freundlichen Grüßen

Tilman Zülch, Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker International, Ehrenbürger von Sarajevo, Träger des Preises Sloboda (Freiheit) des Antikriegszentrums Sarajevo und des Silberordens des Präsidiums der Republik BiH, Ehrenplakette des Verbandes der Lagerhäftlinge des autonomen Bezirks Brcko

Fadila Memisevic, Direktorin der Gesellschaft für bedrohte Völker - Bosnien und Herzegowina

mit den Vorstandsmitgliedern der bosnischen Sektion:

Eli Tauber, Vertreter der Jüdischen Gemeinde in Bosnien und Herzegowina, Holocaust-Forscher

Ljubomir Berberovic, Vertreter des Serbischen Bürgerrates - Bosnien und Herzegowina

Miro Lazovic, Vertreter des Serbischen Bürgerrates, stellvertretender Präsident des Stadtrates Sarajevo, Mitglied im Kriegspräsidium von Bosnien und Herzegowina 1992 - 1995

Mile Babic, Vertreter des Kroatischen Volksrates Bosnien und Herzegowina, Franziskaner und Professor an der Theologischen Fakultät in Sarajevo

Emir Zlatar, Generalsekretär des Kongressrates der bosniakischen Intellektuellen in Sarajevo

Amina Rizvanbegovic-Dzuvic, Direktorin des Bosniakischen Instituts

Jasmin Meskovic, Präsident des Verbandes der ehemaligen Häftlinge in Konzentrationslagern, Sarajevo

Hatidza Mehmedovic, Präsidentin der "Srebrenica-Mütter" in Srebrenica

Bajro Beganovic, Präsident des Romavereins "Unsere Zukunft", Sarajevo


P.S.:
Uns allen sollte zu denken geben, dass führende, international renommierte jüdische Persönlichkeiten ihre Solidarität mit den vor allem muslimischen Opfern Bosniens öffentlich bekannten und den Völkermord geißelten und von denen viele auch unsere Menschenrechtsarbeit unterstützten. Wir fügen eine Zusammenfassung des Genozids bei.

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Quelle:
Presseerklärung Göttingen/Sarajevo/Srebrenica, den 8.7.2015
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
Telefon: 0551/499 06-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2015

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