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MELDUNG/074: Internationaler Tag der Muttersprache - Hunderte Sprachen vom Aussterben bedroht


Presseerklärung vom 20. Februar 2014

Internationaler Tag der Muttersprache der UNESCO (21.2.)

Hunderte Sprachen vom Aussterben bedroht
Positive Entwicklung bei Sprachen indigener Völker in Mittelamerika



Anlässlich des Internationalen Tages der Muttersprache macht die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) darauf aufmerksam, dass mehr als 600 Sprachen und Dialekte vom Aussterben bedroht sind. Weitere 1.800 von weltweit mehr als 6.000 Sprachen sind akut gefährdet. "Die Gründe für ihre Bedrohung sind so vielfältig wie die Sprachen", erklärte die GfbV-Referentin Sarah Reinke. Wachsende Mobilität, der Einfluss von Medien und die Vermischung von Sprachen haben oft zur Folge, dass kleinere Sprachen verdrängt werden. "In anderen Staaten, wie Russland und China, werden viele kleinere Sprachen gezielt verdrängt, um die kulturelle und politische Entwurzelung von ethnischen Minderheiten und ihre Assimilation voranzutreiben." In Südamerika indes sind viele indigene Völker und ihre Sprachen akut bedroht, weil mit Großprojekten - wie dem Bau von Staudämmen oder die Betreibung von Bergbauminen - der Lebensraum dieser ethnischen Gemeinschaften systematisch zerstört wird.

Auch in Deutschland sind Sprachen akut gefährdet. So wird das Saterfriesische im Saterland im niedersächsischen Landkreis Cloppenburg nur noch von höchstens 2.000 der 13.000 Bewohner der vier Dörfer Ramsloh, Sedelsberg, Strücklingen und Scharrel aktiv gesprochen. Saterländer fordern Saterfriesisch als Unterrichtssprache an den Schulen der Region. Unterrichtspläne wurden erstellt, doch die einheimische Sprache tut sich ohne gezielte Förderung schwer, mit Englisch-Kursen in der Schule zu konkurrieren.

In Nordfriesland, auf den vorgelagerten Inseln und auf Helgoland sprechen noch rund 10.000 Menschen Nordfriesisch. In Schleswig-Holstein ist die Sprache durch die "Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen" geschützt. Um den Gebrauch des Friesischen zu fördern, beschloss das Land 2004 das "Gesetz zur Förderung des Friesischen im öffentlichen Raum". Trotz dieser Maßnahmen steht es schlecht um die Zukunftsperspektiven des Nordfriesischen. "Die Sprache hat eine unmittelbare Verbindung zu der Kultur aus der man kommt. Deshalb ist es so wichtig, auch kleine Sprachen wie Nordfriesisch zu fördern. Denn der Verlust der Muttersprache ist sogleich auch der Verlust der Kultur", erklärte Heinrich Schultz, GfbV-Vorstandsmitglied und ehemaliger Vizepräsident der FUEV (Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen).

Ganz andere Probleme haben ethnische Minderheiten beim Schutz ihrer Sprachen im Vielvölkerstaat Russland. 131 der 170 Sprachen, die in der Russischen Föderation gesprochen werden, sind heute gefährdet. So leiden die in der Republik Mari El lebenden Mari unter einem massiven Russifizierungsdruck, obwohl die Mari noch immer 42 Prozent der 700.000 Bewohner der an der Wolga gelegenen Republik stellen. Ihre Sprachen, Westmarisch und Ostmarisch, sind sehr gefährdet. Ihre Kultur und Sprache wird von den russischen Behörden unterdrückt: Es fehlt an Schulbüchern und Lehrern. Hinzu kommt, dass sich viele junge Mari angesichts dieses massiven russischen Drucks ihrer Sprache schämen.

Nicht besser geht es den 11.000 indigenen Schoren im südsibirischen Kusbass, deren Muttersprache sehr gefährdet ist. Russland nimmt den möglichen Untergang ihrer Sprache nicht nur in Kauf, sondern betreibt systematisch die Assimilation der Minderheit.

Die im Kaukasus lebenden Tscherkessen werfen den russischen Behörden vor, ihre Sprache zugunsten des Russischen zu verdrängen. In den Schulen kommen Tscherkessisch-Kurse häufig nicht zustande, da die Mindestzahl von zehn Schülern nicht erreicht wird. Im Fernsehen werden nur einmal pro Tag für eine halbe Stunde Nachrichten in Tscherkessisch ausgestrahlt.

Russland hat die "Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen" bis heute nicht ratifiziert. Die Behörden setzen gezielt auf den Vorrang des Russischen und propagieren dies auch in allen Schulen und Bildungseinrichtungen. So wird an weiterführenden Schulen und Universitäten nur in Russisch unterrichtet. Viele Angehörige von Völkern, die Minderheitensprachen sprechen, wenden sich enttäuscht von ihrer traditionellen Sprache ab, weil sie ohne gute Russischkenntnisse kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Auch den Uiguren im Nordwesten Chinas wird von den chinesischen Behörden deutlich gemacht, dass sie nur eine berufliche Perspektive haben, wenn sie Chinesisch lernen. China brüstet sich international damit, bilinguale Spracherziehung in der Autonomen Region Xinjiang zu fördern, in der trotz des staatlich geförderten Zuzugs von Millionen Han-Chinesen noch immer 42 Prozent der Bevölkerung einheimische Uiguren sind. Doch diese Spracherziehung ist eine Mogelpackung. China hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten systematisch die chinesische Sprache in allen Bildungseinrichtungen als Hauptsprache eingeführt und das bis dato dominierende Uigurisch zunehmend verdrängt. Systematisch will die chinesische Regierung so die Sinisierung des Landes zum Nachteil nicht-chinesischer Minderheiten vorantreiben. Uigurische Sprachenrechtler, die sich für die Erhaltung ihrer traditionellen Sprache einsetzen, werden unter Druck gesetzt und verhaftet.

"Neben dieser Bedrohung vieler Sprachen gibt es aber auch positive Entwicklungen", erklärte Reinke. So sind Sprachen indigener Völker in Mexikos und Guatemalas Medien gefragter denn je zuvor. Regionale Fernsehsender strahlen in Maya-Sprachen aus und selbst die bei Fernsehzuschauern so beliebten "Telenovelas" werden in indigenen Sprachen produziert. 2009 hat die mexikanische Regierung 364 indigene Sprachen neben dem Spanischen als offizielle Sprachen anerkannt. Mit Erfolg wurde der Internetbrowser Firefox in Mexiko inzwischen in 30 indigene Sprachen übersetzt, unter ihnen Maya-Yucateco, Nahuatel, Zapotekisch und Wixarika. Dieses Projekt wurde mittlerweile auch um indigene Sprachen aus Ecuador, Guatemala und El Salvador ausgeweitet. Mit dieser modernen Kommunikationsform werden vor allem auch junge Menschen angesprochen, ihre traditionelle Sprache wieder aufleben zu lassen.

Das "Guatemaltekische Institut für Bildung via Radio" hat 1979 eine Radioschule gegründet, in der die Mayasprachen Q'eqchi' und Kaqchikel erlernt werden können. Die Radioschule startete mit nur 214 Schülern, inzwischen sind 42.000 Schüler und Studenten bei ihr eingeschrieben. In Mexiko fördert die staatliche "Nationale Kommission für die Entwicklung indigener Völker" indigene Radiosender, die zwölf Stunden am Tag zweisprachige Programme in Spanisch und einer der 31 indigenen Sprachen ausstrahlen.

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Quelle:
Presseerklärung Göttingen/Berlin, den 20. Februar 2014
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2014