Schattenblick → INFOPOOL → BÜRGER/GESELLSCHAFT → BEDROHTE VÖLKER


EUROPA/600: 20. Jahrestag des Abkommens von Dayton


Presseerklärung vom 20. November 2015

20. Jahrestags des Friedensabkommens von Dayton (21.11.)

Ungerechter Frieden - geteiltes Land:
Europa trägt Mitschuld an der Misere von Bosnien und Herzegowina
Marshall-Plan für demokratischen Neubeginn gefordert


Zwanzig Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton (21.11.1995) zieht die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) eine traurige Bilanz für den jungen Staat Bosnien und Herzegowina. "Dayton hat zwar den Bosnien-Krieg beendet, die Vertreibung von rund einer Million Menschen jedoch zementiert, die Teilung des Landes festgeschrieben und so die Kriegsverbrechen der serbischen Truppen belohnt. Das ist das niederschmetternde Ergebnis dieses vom westlichen Europa und den USA initiierten ungerechten Friedens, der Bosnien und Herzegowina nicht zur Ruhe kommen lässt", sagte der Präsident der GfbV International, Tilman Zülch, am Freitag in Göttingen. "Bevor die Führung des serbisch regierten Teils des Landes, der Republika Srpska, ihre Drohungen wahrmacht, einen Volksentscheid für die Abspaltung durchzuführen, und so einen neuen Konflikt provoziert, muss in Bosnien eine neue Verfassung durchgesetzt werden, die die ethnische Teilung des Landes aufhebt. Außerdem muss ein Marshall-Plan für den wirtschaftlichen Wiederaufbau erarbeitet werden, um der Bevölkerung endlich Zukunftsperspektiven zu geben."

*

Es folgen die Stellungnahme und Forderungen, die neben der GfbV-Sektion Bosnien und Herzegowina 60 bosnische Organisationen aller ethnischen und religiösen Gemeinschaften zum Jahrestag von Dayton erheben:

Dayton - Ungerechter Frieden

Während der Aggression Serbien und Montenegros gegen die Republik Bosnien-Herzegowina (1992-1995) hat das serbische Regime durch Völkermord- und Kriegsverbrechen den bereits international anerkannten und souveränen Staat Bosnien-Herzegowina zerstört und nach den Massenvertreibungen auf der Hälfte seines Territoriums die so genannte Republika Srpska errichtet. Von den mindestens 150.000 ermordeten bosnischen Opfern waren mehr als 90 Prozent bosnische Muslime/Bosniaken.

Das Regime von Slobodan Milosevic war zusammen mit Einheiten der bosnischen Serben unter Kommando von Mladic und Karadzic verantwortlich für die Errichtung von über Hundert Internierungs- und Konzentrationslagern, in denen etwa 200.000 bosnische Zivilisten inhaftiert waren und in denen über 30.000 Häftlinge brutal getötet wurden. Bis zu 30.000 bosnische Frauen wurden systematisch vergewaltigt, unter anderem in den Zwangsbordellen und Vergewaltigungslagern von Visegrad und Foca, die von den Karadzic-Einheiten eingerichtet wurden. Sie wurden kontinuierlich von Milizionären, Soldaten und Wächtern missbraucht. Etwa 2,2 Millionen bosnischer Kinder, Frauen und Männer wurden als Vertriebene und Flüchtlinge Opfer "ethnischer Säuberungen" und mussten ihre Heimat verlassen. Erst das Massaker in Srebrenica, das im Juli 1995 serbische Truppen an der Zivilbevölkerung der kleinen ostbosnischen Stadt begingen, bewegte die Weltöffentlichkeit und forderte Handlungen. Das Massaker in Srebrenica gilt als schlimmster Massenmord auf europäischem Boden seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Mindestens 8.372 bisher namentlich bekannte unbewaffnete bosniakische Knaben und Männer wurden - unter den Augen der in dieser UN-Schutzzone stationierten niederländischen Blauhelme - kaltblütig getötet. Die überlebenden Frauen, Mütter, Schwestern und Töchter der Opfer suchen noch immer nach den Gebeinen vieler ihrer Angehörigen.

Unter Druck der Öffentlichkeit wurde unter Führung der US-Regierung in Zusammenarbeit mit westeuropäischen Regierungen das Dayton-Friedensabkommen im November 1995 im US-Staat Ohio, Dayton, geschlossen. Das Friedensabkommen beendete zwar den Krieg, löste die zahlreichen Probleme vor Ort jedoch nicht. Zwanzig Jahre nach dem Abkommen ist Bosnien und Herzegowina ein nicht funktionierender, geteilter und teurer Staat. Die Staatsverfassung, die Teil des Friedensvertrages ist (ihr Annex IV), sieht eine unglaubliche Bürokratisierung der Institutionen im Staat vor: Neben drei Mitgliedern im Präsidium hat der Staat auch 14 Parlamente, 14 Regierungen, über 180 Minister, drei Schulsysteme, zwei Rentenfonds usw.). Die wahre Macht liegt bei den Entitäten, die monoethnisch organisiert sind, insbesondere die Entität Republika Srpska, die nach der Tötung und Vertreibung der Bosniaken und Kroaten entstanden ist und einen direkten Kriegsgewinn für die serbische Seite darstellt.

Das Land Bosnien und Herzegowina kann keine Fortschritte auf dem EU- und NATO-Beitrittsweg machen, da der Großteil der für den Beitritt notwendigen Reformen von der Entität Republika Srpska blockiert wird.

Die USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und Deutschland haben ihren Segen für die Teilung Bosnien und Herzegowinas gegeben und den Entitäten den Großteil der Befugnisse überlassen. Die übergroße Mehrheit der Verbrecher und Täter, insbesondere in der Republika Srpska, wurde nicht verhaftet und wird von ihnen weiterhin kontrolliert und angeführt. So konnten über eine Million vertriebener Bosniaken und Kroaten nicht mehr in ihre Häuser und Wohnungen in Orten der heutigen Republika Srpska zurückkehren und mussten aus Europa wieder in die USA, Kanada oder nach Australien emigrieren, von wo sie sicherlich nie wieder zurückkehren werden. Die etwa 5 Prozent in die Republika Srpska zurückgekehrten Bosniaken und Kroaten erleben täglich Angriffe, Einschüchterung wie auch Diskriminierung durch öffentliche Institutionen.

Der vom Westen 1995 initiierte ungerechte Frieden hat dem Land keine Zukunftsperspektiven gegeben. Bosnien steht am Rande eines neuen Konfliktes wegen den ständigen Drohungen der aktuellen Führung der Republika Srpska mit einem Volksentscheid für die Abspaltung der Republika Srpska.

Wegen seiner Mitverantwortung für die begangenen Verbrechen wie auch für den ungerechten Friedensvertrag fordern wir nun vom Westen, die begangenen Fehler wiedergutzumachen und dem Lande dabei zu helfen, eine neue Verfassung zu verabschieden, die ethnische Teilung aufzuheben und einen Plan des wirtschaftlichen Wiederaufbaus zu entwerfen. Wir erwarten hierbei eine Führungsrolle der USA, denen Länder Westeuropas folgen sollten. Es ist an der Zeit, nach 20 Jahren, die Fehler aus der Vergangenheit endlich zu beheben und den Bürgern des Landes Bosnien und Herzegowina, die schon genug Leid erfahren haben, wirksam zu helfen.


In diesem Zusammenhang fordern wir:
1) Verfassungsänderungen - Wiedervereinigung des Landes

Der Annex IV des Dayton-Friedensvertrages, der als Staatsverfassung dient, muss verändert werden, damit BiH ein funktioneller und selbständiger Staat wird und der Krisenherd Europas endlich beseitigt wird. Wir fordern eine neue Staatseinrichtung ohne Entitäten und Kantone; statt ihnen sollen wirtschaftlich-geographische Regionen etabliert werden. Regierungen der USA und der führenden EU-Mitgliedsstaaten sollten so schnell wie möglich einen Reformprozess des Staates Bosnien und Herzegowina in die Wege leiten.

2) Bedingungsloser EU- und NATO-Beitritt

Die Reformen, die jetzt Bosnien und Herzegowina auferlegt werden, sind zwar wichtig und müssen umgesetzt werden, nur sollte man deren Umsetzung auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, wenn Bosnien und Herzegowina schon Beitrittskandidat oder schon EU-Mitglied geworden ist. Zu diesem Zeitpunkt ist es, insbesondere wegen der durch die Dayton-Verfassung etablierten Staatseinrichtung und Struktur, bei der Entitäten jede Entscheidung und Reform auf Staatsebene blockieren können, einfach nicht möglich, die von der EU geforderten staatsstärkenden Reformen durchzuziehen. Der Großteil der notwendigen Reformen kann bereits durch die Verfassungsänderungen umgesetzt werden.

3) Marshall-Plan für Bosnien und Herzegowina

Die Bevölkerung Bosnien und Herzegowinas gehört zu den ärmsten in ganz Europa. Das BNE in Bosnien und Herzegowina ist eins der niedrigsten in ganz Europa. Bei einer Arbeitslosenquote von etwa 40 % (und sogar 60 % unter jungen Leuten unter 35) und dem Ausbleiben großer Investitionen driftet das Land immer mehr einem Bankrott entgegen. Deshalb fordern wir von den USA und der EU einen "Marshall-Plan" für Bosnien und Herzegowina, der gezielt die Wirtschaft des Landes ankurbeln wird, damit die überlebenden Opfer der Verbrechen nun endlich ein menschenwürdiges Leben führen können. Insbesondere sollte durch den Marshall-Plan die Rückkehr der Vertriebenen unterstützt werden: Wiederaufbau ihrer Häuser, Schaffung von Arbeitsplätzen, Entwicklung der Infrastruktur etc.


Der Vorstand der Gesellschaft für bedrohte Völker - Bosnien und Herzegowina

Dr. Eli Tauber, Beauftragter für Kultur und Religion der Jüdischen Gemeinde - BiH

Prof. Dr. Fra Mile Babic, Professor an der Franziskaner-Theologischen Fakultät in Sarajevo

Miro Lazovic, stellvertretender Präsident des Stadtrates Sarajevo

Prof. Dr. Berberovic Ljubomir, Akademiker, Mitbegründer des Serbischen Bürgerrates - BiH

Emir Zlatar, Vertreter der Stiftung "Gerechtigkeit für BiH", Generalsekretär des Kongressrates der Bosniakischen Intellektuellen

Prof.Dr. Nedžad Mulabegović, Präsident des Kongressrates der Bosniakischen Intellektuellen

Amina Rizvanbegovic-Džuvic, Direktorin des "Bosniakischen Instituts" in Sarajevo

Jasmin Meškovic, Präsident des Verbandes der Lagerhäftlinge - BiH

Hatidža Mehmedovic, Koordinatorin der GfbV-BiH in Srebrenica, Präsidentin der "Srebrenica-Mütter" in Srebrenica

Bajro Beganovic, Präsident des Roma-Vereins "Unsere Zukunft" in Sarajevo

Liste der unterzeichnenden Organisationen in Bosnien und Herzegowina:

1. Srebrenica-Mütter (Srebrenica) - 2. Frauen von Srebrenica (Tuzla) - 3. Bürgerforum Srebrenica (Srebrenica / Tuzla) - 4. Srebrenica 99 (Tuzla) - 5. Klub der Intellektuellen von Srebrenica (Srebrenica) - 6. Gesellschaft für Genozidprävention (Srebrenica) - 7. Studentenassoziation - Srebrenica (Srebrenica) - 8. Frauenunion "Bosfam" (Srebrenica / Tuzla) - 9. Verband der ehemaligen Lagerhäftlinge BiH (Sarajevo) - 10. Frauensektion beim Verband der ehemaligen Lagerhäftlinge - Kanton Sarajevo (Sarajevo) - 11. Frauen-Opfer des Krieges (Sarajevo) - 12. Rückkehr und Bleiberecht - Bijeljina - 13. Brücken - Verein der Familien der Vermissten (Bosanska Krupa) - 14. Verein der Familien von vermissten und getöteten Bosniaken im Brcko Distrikt (Brcko) - 15. Verband der Lagerhäftlinge - Brcko (Brcko) - 16. Verein der Familien der Gefangenen und Vermissten aus der Gemeinde Prozor (Prozor) - 17. Verein der Familien der Vermissten aus Hadzici (Hadzici) - 18. Verein der Familien der Gefangenen und Vermissten aus dem Herzegowina-Neretva-Kanton (Mostar) - 19. Verein der Familien der Vermissten aus Mostar (Mostar) - 20. Verein der Rückkehrer nach Zepa (Zepa) - 21. Verein der Familien der Opfer und Vermissten aus Kotor Varos/Travnik "Vrbanja" - 22. Verein der Familien der Gefangenen und Vermissten der Gemeinde Zvornik (Tuzla) - 23. Verein der Rückkehrer nach Kotorsko (Kotorsko - Doboj) 24. Union Roma (Sarajevo/Lukavac) - 25. Roma-Verein "Sa e Roma" (Tuzla) - 26. Romaverein - Zenica (Zenica) - 27. Romaverein - Zavidovici (Zavidovici) - 28. Romaverein "Unsere Zukunft" (Sarajevo) - 29. Frauen-Romaverein (Tuzla) - 30. Verband der Vereine der Familien von Vermissten aus dem Drina-Tal (Tuzla) - 31. Frauen des Drina-Tals (Bratunac) - 32. Frauen des Drina-Tals (Vlasenica) - 33. Frauen des Drina-Tals (Sarajevo) - 34. Verein der Rückkehrer nach Banja Luka "Vrbanja" (Banja Luka) - 35. Koalition für Rückkehr (Banja Luka) - 36. Verein der Familien von Vermissten "Visegrad 92" (Sarajevo) - 37. Verein "Kraft der Frau" (Tuzla) - 38. Kongressrat der bosniakischen Intellektuellen (Sarajevo) - 39. Serbischer Bürgerrat - Sarajevo - 40. Serbischer Bürgerrat - Tuzla - 41. Serbischer Bürgerrat - Zenica - 42. Serbischer Bürgerrat - Mostar - 43. Kroatischer Volksrat (Sarajevo) - 44. Stiftung "Gerechtigkeit für BiH"(Sarajevo) - 45. Demokratischer Rat der Bosniaken (Bijeljina) - 46. Bürgerverein "Terra" (Sarajevo) - 47. Frauenverein "Mak-Bosanka" (Sarajevo) - 48. Humanitäre Organisation "Merhamet" (Sarajevo) - 49. Verein der Eltern getöteter Kinder in der Besatzungszeit in Sarajevo (Sarajevo) - 50. Netzwerk der Frauenorganisationen in BiH - FOKUS-BiH (Sarajevo) - 51. Medica BiH (Zenica / Visoko) - 52. Union "Eho" (Ljubuški) - 53. "Frauen von BiH" (Mostar) - 54. Forum der Jugendlichen - Stolac (Stolac) - 55. Frauenverein "Vereinigte Frauen" - Banja Luka - 56. Frauenverein "Astra" (Bijeljina) - 57. Helsinki Komitee für Menschenrechte - Republika Srpska (Bijeljina) - 58. Verein "Zukunft der Frau" - Kalesija - 59. Verein der Rückkehrer nach Trebinje (Trebinje) - 60. Initiative der Jugendlichen für Menschenrechte (Sarajevo)

*

Quelle:
Presseerklärung Göttingen/Sarajevo, den 20.11.2015
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
Telefon: 0551/499 06-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. November 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang