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AFRIKA/162: Völkermord in Biafra erschütterte Weltöffentlichkeit


Presseerklärung vom 5. Juli 2007

Völkermord in Biafra erschütterte Weltöffentlichkeit:

Kriegsausbruch vor 40 Jahren (06.07.1967)


"Niemals wieder", "Never Again" hieß es nach den Massenvernichtungen des Nationalsozialismus. Dasselbe erhofften sich die Menschen nach den furchtbaren Verbrechen des Stalinismus. Und doch setzt sich die Kette der Genozide und Massenmorde seither kontinuierlich fort. Während der Völkermord in Darfur täglich weitergeht, ohne dass die internationale Gemeinschaft wirklich interveniert, erinnert Tilman Zülch für die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) an die Vernichtung von zwei Millionen Ibos in Biafra, die am 06. Juli 2007, heute vor 40 Jahren, begann und appelliert gleichzeitig an Medien und Öffentlichkeit, den Schrecken von Biafra zum Anlass zu nehmen, gegenwärtigem Völkermord endlich wirksam entgegen zu treten.

"Jeder Ibo, Mann, Frau und Kind, glaubt heute, dass er einen letzten Kampf um seine Heimat und seine Würde kämpft. Was das in der Praxis bedeutet, ist, dass sich die Zentralregierung der Wahl gegenüber sieht, entweder das gesamte Ibovolk auszurotten oder einen Staat zu regieren, in dessen Leib ein Herz unversöhnlichen Hasses schlüge. Siegen wird keiner."
(Nigerias bedeutendster Schriftsteller und Dichter Wole Soyinka 1969)


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Bilder vom qualvollen Sterben in Biafra erschütterten vor 40 Jahren die Weltöffentlichkeit. Daran erinnert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) anlässlich des 40.Jahrestages des Kriegsausbruchs zwischen Nigeria und seiner abtrünnigen Provinz mit dieser Dokumentation.

Am 06. Juli 1967 fiel der erste Schuss aus einer Waffe der nigerianischen Armee, die gegen die christlichen Ibo im Osten der ehemaligen Kolonie Großbritanniens mobil gemacht hatte. Von den Regierungen in London und Moskau mit umfangreichen Rüstungslieferungen und internationaler politischer Lobbyarbeit unterstützt, führte die nigerianische Zentralregierung unter General Yakubo Gowon im Laufe der folgenden Monate einen gnadenlosen Vernichtungsfeldzug gegen die Bevölkerung und Armee der Republik Biafra (Ostnigeria). 1966, nach dem Mord an 30.000 Ostnigerianern, im traditionell islamisch regierten Nordnigeria und nach der Flucht von zwei Millionen Ostnigerianern aus dem Norden, meist Angehörigen des Ibovolkes, hatte Biafra die Unabhängigkeit erklärt. Nigerianische Truppen besetzten die Küstenregion und die Grenzgebiete zu Kamerun und schlossen etwa 10 Millionen Menschen in einem Kessel ein, dessen Verteidiger sich zwei Jahre halten konnten. Hunger wurde als Mittel der Kriegsführung eingesetzt, und vor den Augen der entsetzten Europäer erreichte die Zahl der an Hunger sterbenden Kinder und alten Menschen im Sommer 1968 bis zu 10.000 am Tag. Diesen Völkermord mussten bis zum 10. Januar 1970 etwa zwei Millionen Menschen mit dem Leben bezahlen. Andere Schätzungen gehen von "nur" einer Million Opfern aus.

Bis dahin hatte kein Konflikt in der Dritten Welt, auch nicht der Vietnamkrieg, eine derartige Erschütterung und Betroffenheit in der deutschen Bevölkerung, aber auch in zahlreichen anderen vor allem europäischen Ländern, ausgelöst. Europäische und amerikanische Kirchen organisierten eine Luftbrücke mit Lebensmitteln und Medikamenten in den Kessel von Biafra. Die Flugzeuge landeten auf einer ehemaligen Landstrasse. Wesentliche Träger der Luftbrücke waren die deutschen Hilfswerke Diakonisches Werk und Caritas, deren Hilfsaktion Millionen Menschen das Leben rettete.


Versagen und Solidarität

Während die Regierungen der westlichen Welt, sieht man von kleineren Waffenlieferungen Frankreichs an die hoffnungslos unterlegene Armee Biafras ab, dem Völkermord in Biafra tatenlos zusahen, bildete sich eine "humanitäre Internationale", die gegen die Waffenlieferungen aufbegehrte, nach unabhängigen internationalen Beobachtern rief und die Öffnung Biafras für Hilfslieferungen sowie die Beendigung der Belagerung forderte. Zu dieser Bewegung gehörten unter vielen Anderen der heutige französische Außenminister Bernhard Kouchner, der spätere Bestsellerautor Frederick Forsyth, der britische Publizist Auberon Waugh, Sohn des Dichters Evelyn Waugh, der Kreis um Jean Paul Sartre und den Nobelpreisträger Alfred Kastler, Thomas Hammerberg aus Schweden, der katholische Bischof Heinrich Tenhumberg, Jean Ziegler oder der Vertriebenenpolitiker Herbert Czaja.

Die Hilfsaktionen der christlichen Kirchen und die Solidaritätserklärungen der Intellektuellen wurden ergänzt durch die Entstehung von Komitees und Initiativen in vielen westlichen Ländern. In Hamburg riefen die Studenten Klaus Guerke und Tilman Zülch das "Komitee Aktion Biafra-Hilfe" ins Leben, das sich schnell über die Bundesrepublik ausdehnte und die Arbeit von bis zu hundert Gruppen koordinierte. Als die beiden Studenten sich an den sozialistischen Hochschulbund SDS um Hilfe wandten, erklärte dieser Biafra zu einem zu vernachlässigendem Nebenwiderspruch mit dem Hinweis auf die sozialistischen Schirmherren Nigerias in London und Moskau. Unterstützung erhielt das Komitee von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Heinrich Alberts, Günther Grass, den Bischöfen Heinrich Tenhumberg und Kurt Scharf, dem Akademiedirektor Joachim Ziegenrücker, der Schriftstellerin Luise Rinser, dem Maler Oskar Kokoschka.

In einem letzten Appell des "Komitees Aktion Biafra-Hilfe" vom 11. Januar 1970 am Tag nach dem Zusammenbruch Biafras hieß es: "Es sollte für jeden Deutschen, dem es mit der Überwindung der Vergangenheit ernst ist, unerträglich sein, dass sich in Biafra unter Mitwirkung eines engen Verbündeten das wiederholt, was sich seinerzeit in Deutschland ereignete: Die Vernichtung eines Volkes. Das Stillschweigen über diese Politik unseres britischen Verbündeten bedeutet Mitschuld."

Dieser Appell wurde unter anderem unterzeichnet von Ilse Aichinger, Stephan Andres, Ernst Bloch, Heinrich Böll, Paul Celan, Günther Eich, Jürgen Habermas, Rudolf Hagelstange. Erich Kästner, Siegfried Lenz, Peter Merseburger, Alexander Mitscherlich, Martin Niemöller, Robert Neumann, Marcel Reich-Ranicki, Klaus Wagenbach, Carl Zuckmayr und Gerhard Zwerenz. Zülch und Guerke publizierten 1968 die erste Dokumentation über den Genozid

("Biafra: Todesurteil für ein Volk"), dem der Historiker Golo Mann ein Vorwort voranstellte. Darin hieß es unter anderem: "Wer nur von "Revolution" träumt macht sich nicht viel aus "humanitärer Hilfe". Ein Krieg, in dem englische "Imperialisten" und russische "Kommunisten" am gleichen Tau des Verbrechens ziehen, in dem eine ehemalige Kolonie um die angebliche Einheit ihres Staates kämpft, gegen einen Stamm, der nicht einmal "sozialistisch" ist, das interessiert nicht, darüber steht bei Lenin nichts drin. Aber Situationen gibt es, da nützt keine Theorie, da schadet alle Theorie; da soll man alles verbogene Kunstdenken zum Teufel schicken."

Im Sinne dieser Zeilen machte die Gesellschaft für bedrohte Völker, Nachfolgeorganisation des "Komitees Aktion Biafra-Hilfe" und inzwischen eine internationale Menschenrechtsorganisation, das Motto "Auf keinem Auge blind" zu ihrer Leitlinie.


Der Genozid

Als einzelne deutsche Journalisten (Werner Holzer, Klaus Natorp und Klaus Stephan) sowie eine von Großbritannien eingesetzte, aus britischen, kanadischen, polnischen und schwedischen Militärs bestehende Militärmission den Genozid in Frage stellten, veröffentlichte das "Komitee Aktion Biafra-Hilfe" eine Liste von 171 Persönlichkeiten, Journalisten, Politikern, Rotkreuzhelfern, Kirchenmännern und Wissenschaftlern aus drei Kontinenten, darunter einem der beiden Gründer des Komitees Biafra Hilfe, die Augenzeugen des Völkermordes geworden waren.Keine internationale Institution hat die Todesopfer dieses Genozids gezählt. Weit über eine Million Zivilisten, vor allem Kinder, werden durch Aushungerung und Hunger bedingte Krankheiten umgekommen sein, mehrere hunderttausend Zivilisten bei Massakern, bei Massen- und Einzelhinrichtungen, in der Regel begangen von Angehörigen der nigerianischen Armee. Tausende fielen Bombenangriffen der nigerianischen Luftwaffe mit britischen und sowjetischen Maschinen zum Opfer. So hatten sich im Frühjahr 1968 laut der britischen Tageszeitung Observer zum Beispiel von 48 Bombenangriffen 47 gegen zivile Ziele gerichtet.

Dabei wurden Krankenhäuser in neun Städten zerstört, zehn Colleges und Schulen, sowie 16 Wohnviertel von Städten. Britische Augenzeugen berichteten von zahlreichen Gefangenenerschießungen und von Massakern an Nichtkombattanten. In der Dokumentation "Soll Biafra überleben?" (Lettner Verlag, Berlin 1969 Hg. Zülch/Guerke) finden sich 35 Berichte von Augenzeugen und internationalen Journalisten, die aus dem Biafrakessel berichteten.

In Nigeria hat es bis heute weder eine Anerkennung des Genozidverbrechens, noch eine echte Vergangenheitsbewältigung gegeben. Große Teile der biafranischen Eliten sind im Ausland, vor allem in den Vereinigten Staaten, ansässig geworden. Die ehemaligen Schauplätze des Biafrakrieges in Mittel- und Ostnigeria, weitgehend von der ethnischen Gruppe der Ibo bewohnt, gehören heute zu den ökonomisch und infrastrukturell am stärksten unterentwickelten Regionen Nigerias. 1967 jedoch besuchten bereits 1.250.000 Schüler, Grundschulen und 65.000 Oberschulen, so dass Biafra über ebenso viele Schüler verfügte wie die drei Mal so große Bevölkerung Nigerias. Dazu kamen 33 Höhere Handelsschulen mit 5000 Schülern, die Universität von Nsukka mit 3000 Studenten, 500 biafranische Ärzte, 700 Rechtsanwälte und 600 Ingenieure. Die föderale Regierung praktiziert diese Politik seit dem Kriegsende 1970, beschreibt die Zeitung Vanguard in Lagos am 01. Juli 2007 und ruft dazu auf, den seit 2005 inhaftierten Rechtsanwalt und Vorsitzenden der Bewegung MASSOB, Ralph Uwazurike, endlich freizulassen. MASSOB setzt sich für die Rechte der Ibo-Bevölkerung Ostnigerias ein.

"Er kommt so schnell, der fliegende Tod aus Sowjetwäldern dunkler Technologie ein Mann, der über die Strasse geht, einem Freund guten Tag zu sagen kommt viel zu spät, sein in Stücke gerissener Freund hat nun andere Sorgen als ein freundliches Händeschütteln am Mittag."
(Chinua Achebe, biafranischer/nigerianischer Dichter zu den tausenden, die Opfer von nigerianischen Bombern aus sowjetischer oder britischer Produktion wurden, 1968)

"Ich zweifle daran, ob wir berechtigt sind, feierlich jener Toten zu gedenken, die Opfer des Völkermords geworden sind, wenn es uns nachweislich nicht gelingt, Völkern, die in unserer Gegenwart sterben, über jene Grenze hinaus beizustehen, die unserem karitativen Impuls durch innen- und außenpolitische Rücksichten gesetzt werden. Was werden wir sagen, wenn, was wir jetzt schon ahnen, in einigen Jahren nachgewiesen und natürlich gleichzeitig dementiert wird, dass in Biafra in unserer Gegenwart ein Völkersterben stattgefunden hat, dass keine Gipfelkonferenz einberufen wurde, es zu verhindern? Wenige Tage nach der Beendigung des Bürgerkrieges dort habe ich ein Bild von brutaler Obszönität gesehen, einen wieder in Gang gesetzten Bohrturm, der triumphierend seine Kolben in den Schoss der Erde stieß. Dieses Bild sagte, es ist alles wieder normal; das bedeutet, die alten Herrschaftsverhältnisse sind wieder hergestellt, der alte Rahmen wieder festgefügt, das Tabu der Innenpolitik ist gewahrt worden, keine Einmischung in die Außenpolitik ist erfolgt, die gewöhnlich der Hebel der Wirtschaftspolitik ist. Als Zeitgenosse und verstrickt mit dem Wirtschaftssystem, in dem ich lebe, nehme ich an der Herrschaft dieses Bohrturms teil. Wer hätte sich in Hitlers Vernichtungspolitik eingemischt, wäre sie Innenpolitik geblieben? Manche Politiker und Diplomaten finden es ungehörig, wenn ein Deutscher, in dessen Zeitgenossenschaft Auschwitz fiel, sich in die Politik anderer Länder einzumischen wagt. Soll Auschwitz auf diese Weise zur Bremse für Brüderlichkeit oder sollte es nicht zum Anlass für sie werden?"
(Auszug aus der Rede Heinrich Bölls zur Woche der Brüderlichkeit am 08.03.1970 nach einem Gespräch mit Ines und T. Zülch.)


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Quelle:
Presseerklärung Göttingen vom 5. Juli 2007
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2007