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SÜDAMERIKA/033: Peru - Die Kleidung entscheidet (ai journal)


amnesty journal 5/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Die Kleidung entscheidet

Von Moritz Bringenberg und Ursula Lievenbrück


Peru hat die höchste Kindersterblichkeit in ganz Lateinamerika. Schuld daran ist ein Gesundheitssystem, das Frauen aus ärmeren Bevölkerungsschichten benachteiligt.


"Warum setzt du Kinder in die Welt, wo du so arm bist! Hör auf, mir auf die Nerven zu gehen!" Maria Luz hatte den Arzt gefragt, was ihrer kleinen Tochter fehlt, die sie erst wenige Tage vorher zur Welt gebracht hatte - zwei Monate vor dem regulären Geburtstermin. Als das Kind krank wurde, ging Maria Luz zum nächsten Gesundheitszentrum. Sieben Kilometer Fußmarsch, kurz nach der Geburt. Dort erklärte man ihr, dass das Baby im Krankenhaus behandelt werden müsse. Die Transportkosten: 17 Nuevos Soles, rund fünf US-Dollar. Viel Geld für Marias Familie, die von den Erträgen lebt, das ihr kleines Stückchen Land abwirft.

Im Krankenhaus bat die Frau vergeblich darum, bei ihrer Tochter bleiben zu können. Das einzige, was sie von den Ärzten über die Behandlung erfuhr, waren die Kosten für eine Injektion: umgerechnet 150 US-Dollar. Sie wartete tagelang verzweifelt auf eine Mitteilung über den Zustand ihres Kindes. Die Ärzte beachteten sie nicht. Zwölf Tage nach der Geburt wurde ihr mitgeteilt, dass ihre Tochter gestorben war. Woran, weiß Maria Luz bis heute nicht. Sie hat ihr Kind seit der Einlieferung ins Krankenhaus nicht mehr gesehen.

Der tragische Fall von Maria Luz ist nur einer von vielen, die Mitarbeiter von amnesty international im vergangenen Jahr auf einer Recherche-Reise durch Peru dokumentiert und anschließend in einem Bericht veröffentlicht haben. Sie gehört zu den 40 Prozent der peruanischen Bevölkerung, die Quechua sprechen. Die Angehörigen dieser indigenen Gruppe leben mehrheitlich in den Andenprovinzen unter miserablen materiellen Bedingungen, 18 Prozent sogar in extremer Armut.

Auf dem Land haben 40 Prozent der Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser, die Mütter- und Kindersterblichkeitsrate in Peru gehört zu den höchsten in ganz Lateinamerika. Das peruanische Gesundheitsministerium schätzt, dass ein Viertel der Peruaner im Krankheitsfall keinerlei medizinische Hilfe erhält. Doch der Staat investiert weiterhin nur 2,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ins Gesundheitswesen - selbst im ärmeren Bolivien ist der Anteil doppelt so hoch.

Zwar hat Peru im Jahr 2002 eine kostenlose Gesundheitsversicherung eingerichtet (Seguro integral de Salud), die jedem Bürger den Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung eröffnen soll.

Doch dieses System erreicht längst nicht alle, die es benötigen: Um die Leistungen in Anspruch nehmen zu können, muss man zunächst ein kompliziertes Formular ausfüllen, was angesichts der hohen Analphabetenrate eine nur schwer zu überwindende Barriere darstellt. Zudem können sich die Besucher in den Gesundheitszentren nur wenige Stunden am Tag einschreiben. Ist der Andrang zu groß, machen viele den weiten Weg umsonst.

Ein weiteres Problem sind die Ausweispapiere, die für eine Versicherungshilfe obligatorisch sind. Wer zum Bespiel keine Geburtsurkunde vorweisen kann, erhält auch keinen Ausweis. In ländlichen Regionen sind aber bis zu 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen nicht registriert, da die Gebühren für diese Papiere für die Eltern oft unerschwinglich sind. Wer sie nachträglich beantragt, muss zusätzlich eine Strafgebühr von umgerechnet 30 Dollar bezahlen.

Doch auch wer versichert ist, kommt oft nicht in den Genuss der kostenlosen Gesundheitsversorgung: Entgegen den gesetzlichen Bestimmungen erhebt das Personal in den Gesundheitszentren häufig Gebühren für medizinische Leistungen, die in der Versicherung angeblich nicht enthalten sind. Diskriminierendes Verhalten gegenüber den sozial Schwächeren ist an der Tagesordnung. "Wenn du nicht gut angezogen bist, lassen sie dich länger warten, und wer später kommt, aber bessere Kleidung hat, wird zuerst behandelt. Und wenn du dich beschwerst, behandeln sie dich noch schlechter", berichtete eine Patientin gegenüber der Delegation von amnesty international. Im Gesundheitswesen wächst die Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land. Die Gesundheitszentren in den ärmeren, ländlichen Regionen sind schlechter ausgestattet: Das medizinische Personal erhält dort weniger Lohn und ist daher oft schlechter qualifiziert als die Ärzte in den Städten.

In Peru besteht eine Verbindung zwischen Armut und Menschenrechtsverletzungen, das hat schon der Bericht der peruanischen "Kommission für Wahrheit und Versöhnung" über die Jahre des Bürgerkrieges in Peru von 1980 bis 2000 aufgezeigt. Besonders betroffen ist stets die quechua-sprachige Landbevölkerung, die sozial Schwächeren, weniger Gebildeten und Frauen.

Insbesondere die medizinische Betreuung von Schwangeren stellt in den ländlichen Regionen ein großes Problem dar. Während ihrer Recherche-Reise sammelte die Delegation von amnesty international Erfahrungsberichte von Frauen, die während ihrer Schwangerschaft die Gesundheitszentren aufgesucht hatten.

Die Resultate sind erschreckend: Viele Frauen schilderten ihre Ängste vor Misshandlungen durch das vorwiegend männliche Personal. Eine Verständigung ist wegen der fehlenden Sprachkenntnisse oft nicht möglich, und selbst wenn das Gesundheitspersonal Quechua versteht, erhalten die Schwangeren häufig keine Erklärungen über die gynäkologischen Behandlungsmethoden. Dass die Patientinnen dem medizinischen Personal nur wenig Vertrauen entgegenbringen, verwundert nicht: Noch Mitte der neunziger Jahre ließ der damalige peruanische Präsident Alberto Fujimori in ländlichen Regionen Zwangssterilisierungen an Frauen vornehmen.


Die Autoren sind Mitglieder der Peru-Koordinationsgruppe.

Weitere Informationen im ai-Bericht (Index: AMR 46/004/2006) unter www.amnesty.org. Eine Postkartenpetition zur Peru-Aktion ist in Vorbereitung. Weitere Informationen zur Beteiligung bei der Peru-Kogruppe: kogruppe@ai-peru.de


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Quelle:
amnesty journal, Mai 2007, S. 26
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Mai 2007