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NAHOST/160: Türkei - Polizist wegen Tod eines Demonstranten während der Gezi-Park-Proteste verurteilt


Amnesty International - Meldung vom 8. September 2014

Türkei - Polizist wegen Tod eines Demonstranten während der Gezi-Park-Proteste verurteilt



08. September 2014 - Am 3. September ist der türkische Polizeibeamte Ahmet Pahbaz nach einem von Verzögerungen und Unregelmäßigkeiten geprägten Prozess von einem Gericht in Ankara der Tötung des Gezi-Park-Demonstranten Ethem Sarisülük schuldig gesprochen worden. Es ist das erste Urteil nach vier Tötungen von Demonstranten durch gewalttätige Polizeitruppen während der Proteste im Istanbuler Gezi-Park, die die Türkei im vergangenen Sommer erschüttert hatten. Für zwei der anderen drei Tötungen dauern die Prozesse noch an, während bezüglich der dritten weitere Ermittlungen durchgeführt werden müssen.

Der Bereitschaftspolizist, der Ethem Sarisülük erschossen hatte, wurde von einem Spezialgericht für schwere Straftaten der vorsätzlichen Tötung für schuldig befunden. Das Strafmaß wurde von einer lebenslangen Haftstrafe auf sieben Jahren und neun Monaten Freiheitsentzug herabgesetzt. Der Anwalt der Familie Sarisülük kritisierte das milde Urteil und kündigte an, Rechtsmittel einzulegen.

Ethem Sarisülük war am 1. Juni 2013 während einer Demonstration zur Unterstützung der Gezi-Park-Proteste in den Kopf geschossen worden. Er erlag seinen Verletzungen am 14. Juni 2013.

Das Urteil kam trotz einer Reihe von Fehlern im Zuge der Ermittlungen und während des Prozesses zustande. So veranlasste die Staatsanwaltschaft erst nach einer Woche eine Untersuchung des Tatorts und nach zwei weiteren Wochen die Befragung des für den Schusswaffeneinsatz verantwortlichen Polizeibeamten - obwohl dessen Identität bekannt war. Nach Einleitung des strafrechtlichen Verfahrens versuchte das Gericht, den Prozess mit der Behauptung aufzuhalten, es liege von offizieller Seite keine Genehmigung vor, einen Beamten wegen einer Tat, die er während seines Dienstes verübt habe, vor Gericht zu stellen. Nachdem die Anwälte der Familie Sarisülük dem Gericht Befangenheit vorwarfen, machte es den rechtswidrigen Versuch, das Verfahren einzustellen.

Die ursprüngliche Anklage wegen "Tötung infolge von Überschreitung der Grenzen rechtmäßiger Verteidigung" wurde im Laufe des Prozesses nur deshalb auf "mögliche vorsätzliche Tötung nach ungerechtfertigter Provokation" angehoben, weil eindeutige Beweismittel, wie etwa eine Videoaufnahme vorlagen, auf dem der Vorfall aus mehreren Perspektiven festgehalten worden war und die die Anwälte der Familie des Opfers bei Gericht präsentierten. In seinem Urteil machte das Gericht dennoch geltend, dass der Polizeibeamte Ahmet Pahbaz von den Demonstranten, die Steine geworfen hätten, heftig provoziert worden sei.


Zu viele exzessiv gewalttätige Polizisten bleiben straflos

Die Mehrzahl der Anzeigen gegen Polizisten, die während der Demonstrationen exzessive Gewalt eingesetzt haben, ist bislang nicht zur Verhandlung gekommen. Mehr als ein Jahr nach den Demonstrationen in der Türkei sind die strafrechtlichen Ermittlungen entweder als ergebnislos eingestellt worden oder stagnieren, weil die Täter nicht identifiziert werden können.

Dass Beamte straflos bleiben, die durch willkürlichen und missbräuchlichen Einsatz von Gewalt international gültige Menschenrechtsstandards verletzen, ist ein Armutszeugnis für die türkischen Behörden, denen es nicht gelungen ist, den Missbrauch von Polizeigewalt während der Gezi-Park-Demonstrationen einzugestehen und daraus zu lernen.

Der Sarisülük-Prozess ist einer von drei Prozessen gegen Polizeibeamte, die im vergangenen Jahr Demonstranten im Zuge der Gezi-Park Proteste getötet haben sollen. Es besteht außerdem das Risiko, dass Ordnungskräfte, die während der Proteste schwere Menschenrechtsverletzungen begangen haben, welche drei weitere Todesfälle und unzählige Verletzte nach sich zogen, straflos bleiben.

Die Verurteilung eines einzelnen Polizisten reicht nicht aus, um der Verantwortung nachzukommen, alle Fälle von Polizeigewalt während der Gezi-Park-Demonstrationen aufzuklären. Es ist die Pflicht der türkischen Behörden, die mehreren hundert Anzeigen, die noch unerledigt sind, zügig und unparteiisch zu bearbeiten.

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Quelle:
ai-Mitteilung vom 8. September 2014
URL: http://www.amnesty.de/2014/9/8/tuerkei-polizist-wegen-tod-eines-demonstranten-waehrend-der-gezi-park-proteste-verurteilt?destination=node%2F2817
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2014