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NAHOST/113: Irak - Die Wärter wechseln, die Folter bleibt


Pressemitteilung vom 13. September 2010

Irak - Die Wärter wechseln, die Folter bleibt

Amnesty schätzt: 30.000 Häftlinge in irakischen Gefängnissen ohne Gerichtsverfahren und Kontakt zur Aussenwelt
Willkür, Brutalität und Straflosigkeit sind Alltag

BERLIN/LONDON, 13.09.2010 - Für zehntausende Häftlinge im Irak gehören Folter und Misshandlung zum Gefängnisalltag. "In irakischen Gefängnissen herrschen Willkür und Brutalität", sagt Carsten Jürgensen, Irak-Experte Zentrale von Amnesty International in London. "Das droht auch den etwa 10.000 Häftlingen, die die US-Einheiten jetzt an die Iraker übergeben haben." In dem heute veröffentlichten Bericht "New Order, Same Abuses: Unlawful detentions and torture in Iraq" schätzt Amnesty, dass in irakischen Gefängnissen insgesamt etwa 30.000 Menschen ohne Anklage, ohne Zugang zu einem Anwalt, ohne Kontakt zur Familie und immer in Gefahr, gefoltert zu werden, einsitzen.

Amnesty dokumentiert anhand der Aussagen von Häftlingen sowie ehemaliger Insassen die Foltermethoden in den irakischen Gefängnissen: Häftlinge werden mit Stromkabeln geschlagen, stundenlang an den Gliedmaßen aufgehängt, mit Stromstößen und Bohrmaschinen traktiert. Immer wieder sterben Häftlinge an den Folgen von Folter und Misshandlung. "Die irakischen Sicherheitskräfte sind für systematische Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Trotz Beweise wurde in den vergangenen Jahren aber kaum ein Folterer zur Rechenschaft gezogen", so Jürgensen.

Der neue Amnesty-Bericht belegt, dass Folter im Irak oft mit willkürlicher Festnahme aufgrund von Falschinformationen und jahrelanger Haft in geheimen Gefängnissen einhergeht. Nicht selten setzen die Sicherheitskräfte auf Schläge und Misshandlungen, um "Geständnisse" zu erzwingen, die später vor Gericht als Beweise zugelassen werden. Hunderte Gefangene wurden bereits aufgrund erfolterter Geständnisse zum Tode verurteilt und auch hingerichtet. Amnesty International fordert effektive Maßnahmen zum Schutz der Gefangenen im Irak. "Die irakische Regierung muss beweisen, dass sie den politischen Willen hat, die Menschenrechte aller Iraker zu achten", so Amnesty-Experte Jürgensen.


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Zusammenfassung einiger Fälle aus dem Bericht "New Order, Same Abuses:
Unlawful detentions and torture in Iraq" (59 Seiten, in Englisch)

"NEW ORDER, SAME ABUSES: UNLAWFUL DETENTIONS AND TORTURE IN IRAQ" - FALLSTUDIEN ZUM BERICHT


Qusay 'Abdel-Razaq Zabib, 35,
wurde am 17. Juli 2008 von den US-Truppen in der Nähe von Tikrit wegen des Verdachts der Zusammenarbeit mit bewaffneten Gruppierungen festgenommen. Man brachte ihn in ein von den US-Truppen kontrolliertes Gefängnis, und dann in ein weiteres. Er wurde jedoch nie angeklagt oder vor Gericht gestellt. Am 3. März 2010, drei Tage bevor die irakische Regierung die Kontrolle über das Gefängnis übernahm, empfahlen die US-Behörden seine Freilassung. Er befindet sich jedoch noch immer im Camp Taji in Bagdad in Haft. Sein Anwalt darf ihn nach wie vor nicht besuchen.


Ramze Shihab Ahmed, 68,
lebt in Großbritannien. Im November 2009 reiste er in den Irak, um seinen Sohn zu suchen, der inhaftiert worden war. Am 7. Dezember 2009 wurde Ramze Shihab im Haus eines Verwandten von irakischen Sicherheitskräften ebenfalls festgenommen. Seine Familie wusste nicht, wo er sich befand, bis sie im März 2010 einen Anruf von ihm erhielt, in dem er ihr mitteilte, dass man ihn im al-Muthanna-Gefängnis festhielt. Er bat seine Familie, die britischen Behörden zu verständigen. Als ihn Mitarbeiter des britischen Konsulats nach seiner Verlegung in das al-Rusafa-Gefängnis besuchten, berichtete er ihnen, dass er ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten und in dieser Zeit gefoltert und misshandelt worden war. Ramze Shihab gab an, dass er nach der Folter gezwungen wurde, eine Erklärung zu unterschreiben, die ihn mit terroristischen Handlungen in Zusammenhang brachte. Seine Familie hat einen Anwalt beauftragt, ihn zu vertreten, doch dieser durfte Ramze Shihab bislang nicht besuchen. Nasrallah Mohammad Ibrahim, 41, Vater von sechs Kindern wurde am 5. Januar 2008 an seinem Arbeitsplatz von US-Soldaten festgenommen, die aber keinen von einer Justizbehörde ausgestellten Haftbefehl vorlegten. Anfangs hielt man ihn ungefähr eine Woche lang in der US-Militärbasis al-Siniya fest, dann verlegte man ihn in das Camp Bucca, weit weg von seiner Heimatstadt al-Siniya. Seine Familie konnte es sich 18 Monate lang nicht leisten, ihn dort zu besuchen. Nach zwei Jahren im Camp Bucca brachte man ihn in das Camp Taji, dort wurde er noch Anfang Juli 2010 ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgehalten.

"Wir besuchten ihn dort nur dreimal, denn wir konnten uns die Reise nicht leisten. Unserer Mutter geht es nicht gut und die Inhaftierung von Nasrallah hilft natürlich auch nicht", berichtete die Schwester von Nasrallah Mohammad Ibrahim Amnesty International. "Wir wissen, dass Nasrallah nichts Falsches getan hat. Jemand muss ihn denunziert haben, um Geld von den US-Streitkräften zu erhalten", so die Schwester.


Karim (richtiger Name ist Amnesty International bekannt), 55,
ehemaliger Mitarbeiter der Universität in Mosul, verheiratet und fünf Kinder, beschreibt die Haft, nachdem er am 30. September 2009 von irakischen Sicherheitskräften der Operation Nineweh (einer Antiterroreinheit der Polizei) festgenommen wurde.

"Sie stülpten uns Plastiktüten über den Kopf. Man verabreichte uns Elektroschocks an verschiedenen Körperteilen, besonders im Intimbereich. Wir wurden außerdem an den Füßen aufgehangen, dafür benutzten sie sehr hohe Metallbetten. Sie steckten unsere Füße durch die Drahtkonstruktion, die den Rost des Bettes bilden. So ließen sie uns stundenlang hängen. Die schrecklichste Methode ist aber das Überstülpen von Plastiktüten bis fast zum Ersticken. Schon nach 5 bis 10 Sekunden kriegst du keine Luft mehr. Dann bist du gezwungen zu sagen, dass du gestehst und unterschreibst alles, was sie wollen", sagte Karim.


Hiwa 'Abdel-Rahman Rassoul, 32,
verheiratet und Vater von drei Kindern aus Soran im Gouvernement Erbil wird seit Juli 2005 ohne Anklage oder Gerichtsverfahren von den Behörden der Autonomen Region Kurdistan im Irak (ARK) festgehalten. Das ehemalige Mitglied der Islamischen Bewegung im kurdischen Irak (IMIK) reiste 2001 in den Iran. Bei seiner Rückkehr in die Autonome Region Kurdistan im Irak drei Monate später soll er der Sicherheitspolizei der ARK festgenommen worden sein. Seine Familie wurde über die Festnahme nicht informiert. 15 Monate lang wusste sie nichts über seinen Verbleib. Dann erfuhr sie, dass er im Abu-Ghraib-Gefängnis in Bagdad festgehalten wurde - die Sicherheitspolizei hatte ihn an die US-Behörden übergeben. Im Mai 2005 wurde er ohne Anklage aus Abu Ghraib freigelassen, doch bereits am 8. Juli 2005 nahm ihn die irakische Polizei in Mosul erneut fest und ließ ihn ein zweites Mal "verschwinden", diesmal für drei Monate. Seine Familie erhielt über das Rote Kreuz einen Brief von ihm, in dem er schrieb, dass er im Asayish-Gefängnis in Erbil inhaftiert sei. Dort wird er immer noch festgehalten - ohne Anklage oder Gerichtsverfahren.


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AMNESTY INTERNATIONAL ist eine von Regierungen, politischen Parteien, Ideologien, Wirtschaftsinteressen und Religionen unabhängige Menschenrechtsorganisation. Amnesty kämpft seit 1961 mit Aktionen, Appellbriefen und Dokumentationen für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt. Die Organisation hat weltweit 2,2 Millionen Unterstützer. 1977 erhielt Amnesty den Friedensnobelpreis.


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Quelle:
ai-Pressemitteilung vom 13. September 2010
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2010