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GRUNDSÄTZLICHES/335: Verharmlosen und verdrängen (ai journal)


amnesty journal 10/11/2016 - Das Magazin für die Menschenrechte

Verharmlosen und verdrängen

Von Alexander Bosch


Auch fünf Jahre nach der NSU-Selbstenttarnung ist institutioneller Rassismus in Deutschland ein Problem, wie ein aktueller Amnesty-Bericht belegt.


Als sich am 4. November 2011 nach einem fehlgeschlagenen Banküberfall Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im thüringischen Eisenach vermutlich selbst das Leben nahmen, wurde das ganze Ausmaß einer der schlimmsten Mordserien der deutschen Nachkriegsgeschichte sichtbar.

Zwischen 2000 und 2007 ermordete der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in sechs Bundesländern zehn Menschen. Die türkeistämmigen Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kiliç, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat sowie den Griechen Theodoros Boulgarides und die Polizistin Michèle Kiesewetter. Sie wurden aus dem Leben gerissen, weil sie nach der rassistischen Auffassung der Mitglieder und Unterstützer des NSU nicht zu und auch nicht nach Deutschland gehören.

Die Selbstenttarnung des NSU schockierte die Öffentlichkeit in Deutschland. Auf einer Trauerfeier im Februar 2012 in Berlin hielt Bundeskanzlerin Angela Merkel eine bewegende Rede, in der sie den Hinterbliebenen der Opfer "volle Aufklärung" versprach. Sie sagte, die Opfer seien eine Mahnung, dass für Rassismus in Deutschland kein Platz sei und dass die Bundesregierung alles unternehmen werde, damit sich solche Ereignisse nie mehr wiederholen können.

Auf Bundes- und Landesebene wurden zahlreiche parlamentarische Untersuchungsausschüsse eingerichtet, die sich mit der Aufarbeitung des NSU-Desasters beschäftigen. Auch wurden angesichts der Empfehlungen des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages einige Reformen durch die deutschen Behörden eingeleitet.

Trotz dieser Maßnahmen äußerte der Menschenrechtskommissar des Europarates 2015 in seinem Bericht zu Deutschland Bedenken, "dass diese Maßnahmen sich nur am Rande mit den Ursprüngen der NSU-Affäre befassen, weil die strukturelle Voreingenommenheit bei den deutschen Polizeibehörden, die dazu führte, dass die rassistische Dimension der Verbrechen nicht gesehen und anerkannt wurde, außer Acht gelassen wurde".

Da das Grundgesetz sowie zahlreiche Menschenrechtsnormen, wie etwa die Europäische Menschenrechtskonvention, die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichten, sicherzustellen, dass Menschen vor rassistischer Diskriminierung geschützt werden, ist der NSU-Komplex auch ein Thema für Amnesty International. Deshalb hat Amnesty fünf Jahre nach der NSU-Selbstenttarnung untersucht, wie die Ermittlungsarbeit der deutschen Sicherheitsbehörden bei rassistisch motivierten Straftaten verläuft und ob die Bundesregierung ihrer menschenrechtlichen Verpflichtung, Menschen vor Rassismus zu schützen, nachkommt.

In dem im Juni 2016 veröffentlichten Amnesty-Bericht "Leben in Unsicherheit - Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt" wird auf mehr als 80 Seiten dokumentiert, dass die deutschen Sicherheitsbehörden, insbesondere die deutsche Polizei, dieser menschenrechtlichen Verpflichtung nicht gerecht werden. So äußerten von den 48 zivilgesellschaftlichen Organisationen, mit denen Amnesty während der Recherche sprach, fast alle ernsthafte Bedenken angesichts der Einstufung und Untersuchung rassistisch motivierter Straftaten durch die Polizei.

Auch in mehreren von Amnesty International dokumentierten Fällen zeigten die deutschen Sicherheitsbehörden Mängel bei der Untersuchung rassistisch motivierter Straftaten. Einige öffentlich bekannt gewordene Fälle zeigen, dass noch immer die gleichen Fehler wie während des NSU-Versagens gemacht werden, wie beispielsweise bei den Ermittlungen der im vergangenen Jahr entführten und ermordeten Kinder Elias aus Potsdam und Mohamed aus Berlin.

So berichtete Anfang Februar das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel", dass die Berliner Polizei im Fall Mohamed vorrangig gegen die Flüchtlingsfamilie ermittelt und die Suchmaßnahmen nach dem Jungen vernachlässigt habe. Dem Bericht zufolge vermuteten die Ermittler nach dem Bekanntwerden von Mohameds Verschwinden zunächst Familienstreitigkeiten und hielten es sogar für möglich, dass die Entführung des Jungen nur vorgetäuscht wurde, um die bevorstehende Abschiebung der Familie zu verhindern. Auch im NSU-Komplex wurden die möglichen Täter im familiären sowie kulturellen Umfeld der Ermordeten gesucht.

Viele Menschenrechtsgremien wie die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) oder der UNO-Ausschuss gegen Rassismus (CERD) werten das wiederholte Versagen der deutschen Behörden, bei Straftaten das rassistische Motiv zu erkennen und zu untersuchen, als Indiz für die Existenz von institutionellem Rassismus innerhalb der deutschen Sicherheitsbehörden. Auch Amnesty kommt in dem Bericht zu dem Schluss, dass die Art der Ermittlungen im Zusammenhang mit rassistisch motivierten Straftaten für die Existenz von institutionellem Rassismus in Deutschland sprechen.

Fragt man die Bundesregierung und die deutsche Polizei, gibt es in Deutschland keinen institutionellen Rassismus. Das Problem wird mit der Begründung negiert, es gebe keine offizielle Definition des Begriffs "institutioneller Rassismus". Zudem verschanzen sich Regierung und Behörden hinter der Behauptung, mit dem Begriff würden alle Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden als Rassisten diffamiert. Doch das ist falsch. Der Begriff bezeichnet das kollektive Versagen einer Institution, Menschen aufgrund angenommener oder tatsächlicher Kriterien wie "Hautfarbe", kulturellem Hintergrund oder ethnischer Herkunft angemessen und professionell zu behandeln.

Ein prägnantes Beispiel für institutionellen Rassismus ist eine Fallanalyse des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg zu den Tathintergründen der Morde des NSU vor dessen Selbstenttarnung. Darin wurde ein möglicher rassistischer Hintergrund der Morde ausgeschlossen, weil die Tatsache, dass die meisten Mordopfer "türkischer Herkunft" waren, eine mögliche "türkische Herkunft" der Täter nicht ausschließe. Da die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt sei, sei abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltens weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems zu verorten sei.

Auch vor dem Hintergrund, dass Rassismus in Deutschland leider nach wie vor oft verharmlost wird, werden allenfalls massive Formen rassistischer Vorkommnisse, wie körperliche Übergriffe, die mit offen rassistischen Beleidigungen einhergehen, als rassistisch motiviert verstanden. Deshalb muss man auch im fünften Jahr nach der Selbstenttarnung des NSU feststellen, dass es beim Kampf gegen rassistische Gewalt immer noch massive Defizite gibt. Aufgabe einer Menschenrechtsorganisation wie Amnesty ist es, darauf hinzuweisen.


Der Autor ist Fachreferent für Polizei, Rassismus und "Hate-Crimes" der deutschen Amnesty-Sektion.

Weitere Informationen zur aktuellen Amnesty-Kampagne unter:
www.amnesty.de/gegen-rassismus

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2016, S. 24-25
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30, E-Mail: info@amnesty.de
Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion amnesty journal,
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Internet: www.amnesty.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2016

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