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GRUNDSÄTZLICHES/296: Neue Instrumente im Kampf gegen die Unterdrückung (ai journal)


amnesty journal 06/07/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Neue Instrumente im Kampf gegen die Unterdrückung
Ein Auszug aus dem Vorwort des Amnesty Reports 2011.

Von Salil Shetty, internationaler Generalsekretär von Amnesty International


2010 wird möglicherweise als ein Jahr der Zeitenwende in die Geschichte der Menschenrechte eingehen: Menschenrechtsverteidiger und Journalisten bedienten sich zunehmend neuer Technologien, um die Mächtigen mit der Wahrheit zu konfrontieren und auf diese Weise auf eine stärkere Einhaltung der Menschenrechte zu dringen. Es war auch das Jahr, in dem einige repressive Regierungen damit rechnen mussten, dass ihre Tage gezählt sind.

Informationen zu besitzen, verleiht Macht, und für Menschen, die sich gegen den Missbrauch der Macht durch Staaten und andere Institutionen wehren, sind dies bewegte Zeiten. Der Kampf zwischen denen, die Menschenrechtsverstöße begehen, und den mutigen und einfallsreichen Menschen, die diese Verstöße an die Öffentlichkeit bringen, währt schon lange. Amnesty International hat seit ihrer Gründung vor einem halben Jahrhundert schon ähnlich bedeutsame Verschiebungen in diesem Machtgefüge beobachtet und mitgestaltet. (...)

Seit nunmehr 50 Jahren bedient sich Amnesty International der jeweils modernsten technischen Innovationen, um den Machtlosen und Entrechteten eine Stimme zu geben. Von Fernschreiber, Fotokopierer und Faxgerät über Radio, Fernsehen und Satellitenkommunikation bis hin zu Telefon, E-Mail und Internet nutzen wir alle Möglichkeiten, um möglichst viele Menschen zu mobilisieren. Diese Instrumente haben den Kampf für die Menschenrechte vorangebracht, trotz ausgeklügelter Versuche von Regierungen, den Informationsfluss zu stoppen und die Kommunikation zu zensieren.

Die Online-Plattform Wikileaks, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Dokumente aus einer Vielzahl von Quellen ins Internet zu stellen, begann 2010 damit, die ersten von Hunderttausenden geheimer Dokumente zu veröffentlichen, die ihr Bradley Manning, ein IT-Spezialist der US-Armee, zugespielt haben soll. Dem 22-Jährigen, der sich derzeit in Untersuchungshaft befindet, droht eine Haftstrafe von möglicherweise mehr als 50 Jahren, sollte er wegen Spionage und anderer Straftaten schuldig gesprochen werden.

Wikileaks hat für Whistleblower, die auf Missstände hinweisen wollen, einen weltweit zugänglichen "Abladeplatz" für ihre Dokumente geschaffen. Die Verbreitung und Veröffentlichung geheimer und vertraulicher Regierungsdokumente demonstrierte die Macht dieser Plattform. Dass Wikileaks auch einen Beitrag für die Sache der Menschenrechte leistet, hat Amnesty International bereits 2009 anerkannt, als die Plattform Informationen zu Menschenrechtsverletzungen in Kenia ins Internet stellte.

Doch es waren die ganz klassischen Zeitungsjournalisten und politischen Analysten, die sich durch das Dickicht der Rohdaten kämpften, sie auswerteten und darin Beweise für Straftaten und Menschenrechtsverletzungen fanden. Zur Verbreitung dieser Informationen standen politisch engagierten Menschen neue Kommunikationsmittel wie Mobiltelefone und die Internetseiten sozialer Netzwerke zur Verfügung, mit deren Hilfe Menschen mobilisiert werden konnten, um öffentlichen Druck auszuüben.

Ein eindrückliches und zugleich tragisches Beispiel dafür, welche Wirkung eine individuelle Handlung erzielen kann, wenn sie durch die neuen Instrumente der virtuellen Welt verstärkt wird, ist die Geschichte des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi. Er verbrannte sich im Dezember 2010 in der tunesischen Stadt Sidi Bouzid vor dem Rathaus, weil er die Schikanen durch die Polizei, die Erniedrigung, die wirtschaftliche Not und das Ohnmachtsgefühl, das er mit vielen jungen Menschen in Tunesien teilte, nicht mehr ertrug.

Die Nachricht von seiner verzweifelten Auflehnung verbreitete sich über Mobiltelefone und das Internet schnell in ganz Tunesien und bahnte der seit langem schwelenden Unzufriedenheit mit dem repressiven Staatsapparat neue Wege. Mohamed Bouazizi starb an seinen Verbrennungen, doch seine Wut lebte in Form von Straßenprotesten im ganzen Land weiter. Viele engagierte Bürgerinnen und Bürger Tunesiens, Gewerkschafter, Oppositionelle und viele junge Menschen, die sich zum Teil über soziale Netzwerke im Internet verständigten, gingen auf die Straße und demonstrierten ihr Mitgefühl für das Schicksal von Mohamed Bouazizi. Gemeinsam forderten erfahrene und junge Protestierende unter Einsatz der neuen Instrumente ein repressives System heraus.

Die tunesische Regierung versuchte, eine totale Mediensperre zu verhängen und blockierte den Zugang zum Internet, doch dank der neuen Technologien verbreiteten sich die Nachrichten dennoch in der gesamten Welt. Die Menschen auf der Straße machten deutlich, dass sich ihr Zorn sowohl gegen die brutale Unterdrückung richtete, unter der all diejenigen litten, die sich gegen das autoritäre System aufzulehnen wagten, als auch gegen die wirtschaftliche Misere des Landes, die zum Teil auf die Korruption der Regierung zurückzuführen war.

Im Januar 2011, knapp einen Monat nach der Verzweiflungstat von Mohamed Bouazizi, stürzte die Regierung von Präsident Zine El 'Abidine Ben 'Ali. Er verließ das Land und suchte Zuflucht im saudi-arabischen Jiddah. Die Menschen in Tunesien feierten das Ende einer über zwanzig Jahre währenden undemokratischen Herrschaft und stellten die Weichen für den Aufbau eines partizipatorischen und rechtsstaatlichen Regierungssystems mit freien Wahlen.

Der Sturz von Ben 'Ali hatte spürbare Auswirkungen auf die Region und die gesamte Welt. Für Regierungen, die darauf gründen, abweichende Meinungen durch Folter und Repression zu unterdrücken, und die Reichtum angehäuft haben, der auf Korruption und Ausbeutung beruht, drohte es ungemütlich zu werden. Auch die herrschenden Eliten in den betreffenden Ländern und die ausländischen Regierungen, die diese illegitimen Regime stützten, während sie gleichzeitig Demokratie und Menschenrechte predigten, wurden zusehends nervös.

Der Umbruch in Tunesien löste in Windeseile Unruhen in anderen Ländern aus. Auch in Jordanien, Algerien, im Jemen und in Ägypten gingen Menschen auf die Straße. In Ägypten griffen die Proteste auf das ganze Land über. (...)

Politiker, die bürgerliche und politische Rechte höher bewerten als wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (oder umgekehrt), konnten angesichts der Proteste erkennen, dass dies ein falscher Gegensatz ist. Das zeigte die Vehemenz, mit der die Menschen ihre Frustration über den Mangel an politischer wie ökonomischer Teilhabe zum Ausdruck brachten. Weder das eine, noch das andere zu haben, ist eine Erfahrung, die sie mit Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen auf der ganzen Welt teilten.


Amnesty International Report 2011. Zur weltweiten Lage der Menschenrechte. S. Fischer Verlag 2011, 559 Seiten, 14,95 Euro


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Quelle:
amnesty journal, Juni/Juli 2011, S. 36-37
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2011