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FRAGEN/049: Aminatou Haidar - "Meine Geschichte ist kein Einzelfall. Sie ist die Geschichte meines Volkes"


Amnesty International - 6. Dezember 2019

Aminatou Haidar: "Meine Geschichte ist kein Einzelfall. Sie ist die Geschichte meines Volkes"

Interview mit der sahrauischen Menschenrechtsverteidigerin Aminatou Haidar von Parastu Sherafatian


1975 wurde die Westsahara von Marokko annektiert. Die Behörden gehen rigoros gegen Gruppen und Personen vor, die mit friedlichen Mitteln die Selbstbestimmung ihrer Heimat fordern. Eine von ihnen ist Aminatou Haidar. Die 53-Jährige wurde wegen ihres Engagements mehrmals inhaftiert und gefoltert. Amnesty setzte sich für sie ein. Am Donnerstag wurde die Menschenrechtsverteidigerin in Stockholm mit dem "Alternativen Nobelpreis" ausgezeichnet.

Wie ist die Situation in der Westsahara zurzeit?

Marokko betreibt nach wie vor eine Politik der Unterdrückung, um alle kritischen Stimmen, die sich gegen die Annexion und für die Autonomie der Westsahara einsetzen, zum Schweigen zu bringen. Schon der Beginn der Besetzung ging einher mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie das Bombardieren von Dörfern, das brutale Vorgehen gegen Demonstrierende und das Verschleppen von Kleinkindern und deren Mütter. Noch heute leben viele Sahrauis in Flüchtlingslagern an der Grenze zu Algerien unter unmenschlichen Bedingungen.

Wie kam es dann dazu, dass Sie aktiv wurden, etwas gegen diese Menschenrechtsverletzungen zu unternehmen?

Ich war 14 Jahre alt, als ich begann, die Situation in meiner Heimat zu verstehen. Als ich 20 Jahre alt war, nahm ich an einer großen Demonstration teil. Dabei wurde ich von marokkanischen Sicherheitskräften verhaftet und anschließend vier Jahre ohne Anklage oder Gerichtsbeschluss an einem geheimen Ort festgehalten. 1991 wurde ich freigelassen, nach Jahren voller psychischer und physischer Folter und ohne Kontakt zu meiner Familie. In den darauffolgenden Jahren wurde ich immer wieder bedroht. Meine Geschichte ist kein Einzelfall. Sie ist die Geschichte meines Volkes. Damit sich daran etwas ändert, schloss ich mich nach meiner Freilassung mit anderen zusammen, um auf friedliche Art Widerstand zu leisten und über das Leid aller Sahrauis zu berichten, damit die internationale Aufmerksamkeit auf den ungelösten Westsahara-Konflikt lenkt wird.

Was fordern die Sahrauis?

Dieser lang andauernde Konflikt hat uns viel Leid zugefügt. Unser Volk verdient es, für all diese Jahre der Unterdrückung, der Folter und der Schikane entschädigt zu werden. Wir Sahrauis möchten lediglich, dass auch hier bei uns das internationale Recht gilt, und wir unsere Zukunft auf demokratischem und friedlichem Weg bestimmen können. Eine Zukunft, in der unterschiedliche Gruppen von Menschen friedlich zusammen leben und Frauenrechte und andere Menschenrechte respektiert werden.

Welche Bedeutung hat die Kooperation mit Organisationen wie Amnesty für Sie?

Ich arbeite bereits seit vielen Jahren mit Amnesty zusammen. Die Organisation hat schon immer sehr ausführlich und akkurat über die Menschenrechtsverletzungen in Westsahara berichtet. Diese Arbeit bedeutet uns sehr viel. Amnesty-Ermittlungsteams haben mehrmals das annektierte Gebiet besucht, bis die marokkanischen Behörden 2013 Amnesty dann leider den Zugang verwehrten. Als Menschenrechtsverteidigerin, die wie viele andere im Gefängnis war, werde ich nie vergessen, wie Amnesty den Rest der Welt auf die Situation in der Westsahara aufmerksam gemacht hat. Ich habe Tausende von Postkarten, Briefen und Solidaritätsbekundungen von Menschen aus der ganzen Welt erhalten, die Amnesty unterstützen - darunter auch Solidaritätsbekundungen an meine Kinder, als ich das zweite Mal im Gefängnis war. Auch der Einsatz von Amnesty auf politischer Ebene ist für uns wichtig. Dank glaubwürdiger NGOs wie Amnesty können Menschenrechtsverletzungen, für die Staaten wie Marokko verantwortlich sind, angeprangert werden. Denn durch die Berichte erfährt die Welt, was wirklich passiert.

Eines ihrer großen Anliegen ist es, junge Menschen zu motivieren, gewaltfrei zu protestieren. Was sagen Sie den jungen Sahrauis, die unzufrieden mit der Situation vor Ort sind, und die an der Methode des friedlichen Protests zweifeln?

Ich sehe meine Rolle als Menschenrechtsverteidigerin darin, den jungen Sahrauis den Weg zu weisen und ihnen den Wert und die Bedeutung von friedlichem Protest nahe zu bringen. Viele junge Leute heute sind frustriert und glauben nur noch selten an die Wirksamkeit friedlichen Widerstands. Doch unsere Art des Widerstandes wirkt. Unsere Aufgabe ist es, sie davon zu überzeugen, die Geduld zu bewahren, und unseren friedlichen Kampf fortzusetzen - und ihnen zeigen, dass wir nicht allein sind, dass es viele Menschen gibt, die uns unterstützen. Deshalb nutze ich auch gerne öffentliche Anlässe, wie zum Beispiel Preisverleihungen, um die jungen Leute daran zu erinnern, dass dies die Früchte unsere friedlichen Arbeit sind und auch eine Auszeichnung unseres Widerstandes. Solch internationale Aufmerksamkeit stärkt die Moral der jungen Sahrauis.

Sie waren selbst noch jung, als sie begannen, sich friedlich für die Menschenrechte einzusetzen. Was für einen Unterschied sehen Sie zwischen der Zeit ihres Protests und der heutigen Zeit?

Zu meiner Zeit verlief unsere Arbeit versteckt und diskret. Unser Gebiet war fast komplett isoliert von der Außenwelt. Kaum jemand wusste, was in Westsahara geschah. Dank unseres Einsatzes konnten unsere schmerzhaften Erfahrungen die Grenzen unseres Gebietes verlassen. Wir haben den jungen Menschen, die heute aktiv sind, also den Weg geöffnet, um nun mit internationaler Unterstützung und mit dem Wissen, dass wir nicht alleine sind, Widerstand leisten zu können. Das Internet ermöglicht es ihnen darüber hinaus, sich schneller auszutauschen. Heute weigern sich schon Achtjährige, die marokkanische Hymne mitzusingen, denn sie sagen, dass sie Sahrauis sind. Solche Fortschritte machen mich stolz auf die Arbeit derjenigen, die sich wie ich für den Schutz der Menschenrechte einsetzen - aber der Kampf geht weiter. Wichtig ist, dass er gewaltfrei geführt wird. Denn alle friedlichen Stimmen tragen zur Sicherung der Menschenrechte bei. Wir müssen alle im Leben das Ziel verfolgen, die Menschenrechte und die Werte der Menschlichkeit zu schützen.

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Quelle:
Artikel vom 6. Dezember 2019
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/marokko-aminatou-haidar-meine-geschichte-ist-kein-einzelfall
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Dezember 2019

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