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ASIEN/231: Kritik an China - Der Westen ist kein Vorbild (ai journal)


amnesty journal 05/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Der Westen ist kein Vorbild"

Ein Gespräch mit dem Sinologen und Schriftsteller Tilmann Spengler.


FRAGE: Die chinesischen Behörden zeigen sich bislang wenig beeindruckt von der heftigen internationalen Kritik wegen der Ereignisse in Tibet.

TILMANN SPENGLER: Natürlich werden die Proteste in Peking wahrgenommen. Nur haben wir im Westen nicht damit gerechnet, dass sie eher das Gegenteil von dem auslösen, was wir uns gewünscht haben. Statt ihre Haltung zu überdecken, reagiert die Führung trotzig. Das liegt unter anderem daran, dass sich die neue Mittelschicht fest hinter die Regierung gestellt hat. Die einzige ideologische Klammer, die das Land ja noch besitzt, ist der Nationalismus.

Da schwingt natürlich noch die Erfahrung von 150 Jahren leidvoller Kolonialgeschichte mit. Die Erinnerung, welche Rolle die westlichen Mächte damals spielten, ist Teil des chinesischen Selbstverständnisses. Das bekommen die Kinder bereits in der ersten Klasse an die Tafel geschrieben. So wird auch die heutige Kritik vor allem als Hochmut und Frechheit wahrgenommen - in dem Sinne, dass sich der Westen wieder in die inneren Angelegenheiten Chinas einmischen will.

FRAGE: Wirkt die Reaktion nur für den Westen so geschlossen?

TILMANN SPENGLER: Nein, in dieser Frage herrscht wohl überwiegend Einmütigkeit. Eine politische Opposition in einem gesellschaftlich bedeutenden Ausmaß ist zur Zeit nicht zu erkennen. Es sind Einzelkämpfer, die dort ihre abweichende Meinung artikulieren, und sie stoßen auf wenig Resonanz. Paradoxerweise zeigt sich die Bevölkerung entpolitisiert und zugleich nationalistisch. Aus dieser Mischung entsteht kein kritisches Potenzial.

FRAGE: Dennoch scheint die chinesische Gesellschaft alles andere als homogen zu sein: So gibt es zahlreiche Berichte über die zunehmenden sozialen Gegensätze.

TILMANN SPENGLER: Die Hoffnungen, dass sich aus einer ökonomischen Liberalisierung eine bürgerliche Öffentlichkeit entwickelt, haben sich nicht erfüllt. In der Tat hat sich in den vergangenen Jahren in China einiges verändert, was in Richtung Zivilgesellschaft gehen könnte. Heute gibt es zum Beispiel in manchen Bereichen mehr Rechtssicherheit, etwa einen besseren Schutz des geistigen Eigentums. Diese Reformen waren für die Wirtschaft wichtig, sie bedeuten jedoch noch lange keinen Aufbruch hin zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Emanzipation. Dass die Verbindung zwischen einem dynamischen Kapitalismus und einem autoritären Nationalstaat gut funktionieren kann, zeigt sich ja auch in anderen Ländern der Region, wie zum Beispiel Singapur.

FRAGE: Bei den Spielen kommen zahlreiche ausländische Journalisten und Politiker ins Land. Muss die Führung dann nicht mehr Rücksicht auf Kritik nehmen?

TILMANN SPENGLER: Die Führung will mit den Spielen nicht unbedingt dem Ausland, sondern vor allem der eigenen Bevölkerung ein schönes Bild präsentieren. Und die öffentliche Meinung im eigenen Land beherrscht sie nach wie vor. Zudem werden die Sicherheitskräfte zweifellos dafür sorgen, dass während der Spiele nichts außer Kontrolle gerät.

FRAGE: Das IOC ist der Meinung, die Spiele könnten zu Fortschritten in Menschenrechtsfragen beitragen.

TILMANN SPENGLER: Die Spiele sind ein gigantischer Zirkus, bei dem es auch um wirtschaftliche Belange geht. Dass allein der Sport und die Völkerverständigung dabei im Mittelpunkt stehen, glaubt so recht nicht mal das IOC. So ist es ein glücklicher Nebeneffekt, dass die internationale Öffentlichkeit wegen der Spiele mehr darüber erfährt, was in diesem großen, autoritär geführten Land geschieht: Was sind die Erfolge und die Kosten der Modernisierung? Wie geht man dort mit Minderheiten um, wie ist die Situation von Regierungskritikern oder Umweltschützern? Das ist natürlich sehr wichtig.

FRAGE: Den Umgang mit Minderheiten sieht man in Tibet.

TILMANN SPENGLER: Für China war Tibet immer selbstverständlich ein Teil des Landes - hier macht sich jenseits aller politischer Unterschiede das imperiale Erbe bemerkbar. Man muss zudem daran erinnern, dass selbst in der tibetischen Gesellschaft die chinesische Intervention in den frühen fünfziger Jahren nicht ausschließlich negativ gesehen, sondern auch als Chance zur Modernisierung begriffen wurde. Schließlich herrschte in Tibet damals ein mittelalterliches, feudalistisches Regime. Dass die Entwicklung dann eine solch schreckliche Wendung nahm, liegt auch an den besonderen Umständen. Kein Chinese ging gerne nach Tibet - die Kader wurden entweder aufgrund von Strafmaßnahmen dort hingeschickt oder mit sehr hohen Gehältern angelockt. Entsprechend, so klagen die Tibeter, haben sie sich aufgeführt.

FRAGE: Warum werden Tibeter so geringschätzig behandelt?

TILMANN SPENGLER: Tibeter gelten als nur bedingt fortschrittsfähig. Allein der Umstand, dass sie nicht von Geburt an fließendes Hochchinesisch sprechen, stellt einen Makel dar. Beharren sie auf ihren kulturellen Überzeugungen, können sie in der Regel keine weiterführende Schule oder Universitäten besuchen und damit kaum Qualifikationen erwerben, die für eine international ausgerichtete Wirtschaft wichtig sind. Das verschärft die sozialen Unterschiede zwischen der lokalen Bevölkerung und den zugezogenen Chinesen.

FRAGE: Welche Konsequenzen ergeben sich aus den jüngsten Ereignissen für den Menschenrechtsdialog mit China?

TILMANN SPENGLER: Man darf auf jeden Fall nicht so starr werden wie die Chinesen. Das wäre keine kluge Politik. Den Dialog sollte man auf jeden Fall weiterführen, aber auch keine falschen Erwartungen damit verbinden. Das ist kein Forum, um fundamentale Änderungen zu verlangen. Hier kann man nur pragmatisch handeln, indem man über konkrete Fälle spricht.

FRAGE: Glauben Sie, dass langfristig eine Veränderung in China erreicht werden kann?

TILMANN SPENGLER: Die Frage ist, ob der Westen als leuchtendes Vorbild taugt. China hat ja den Kampf um Rohstoffe oder die Ausbeutung des Arbeiters nicht erfunden. Das sind auch alles unsere Sünden, da halten wir die Patente. Und leider, so muss man hinzufügen, hat der Westen, allen voran die USA, in den vergangenen Jahren auch viel von seiner menschenrechtlichen Legitimation verloren.


Interview: Anton Landgraf

Tilmann Spengler reist seit mehreren Jahrzehnten nach China. In den achtziger Jahren hat er an der Akademie der Wissenschaften in Peking doziert.


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Quelle:
amnesty journal, Mai 2008, S. 18-19
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juni 2008