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ASIEN/217: Afghanistan und Pakistan - Gespräch mit Conrad Schetter (ai journal)


amnesty journal 01/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Einige NGOs sitzen schon auf gepackten Koffern"

Ein Gespräch mit Conrad Schetter vom Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn über den schwierigen Weg zu einer demokratischen Gesellschaft in Afghanistan und Pakistan.


FRAGE: Einer aktuellen Umfrage zufolge glaubt die afghanische Bevölkerung von Jahr zu Jahr weniger an eine Verbesserung ihrer Situation. Ist der "Krieg gegen den Terror" verloren?

CONRAD SCHETTER: In der Tat ist das Vertrauen der Menschen in den Wiederaufbau in den letzten zwei Jahren drastisch gesunken. Viele Afghanen glauben, dass es die Taliban immer geben wird, während die internationalen Organisationen sowie die ISAF nur kurzfristig vor Ort sind. Einige NGOs sitzen schon auf gepackten Koffern: Wenn die Gewalt nicht abnimmt, werden sie das Land verlassen.

FRAGE: Dabei war die internationale Akzeptanz für einen Wiederaufbau Afghanistans sehr hoch.

CONRAD SCHETTER: Der Wiederaufbau des Landes fand international Unterstützung - das war aber auch schon alles. Im Gegensatz zum Irak existierten in Afghanistan keine staatlichen Strukturen. Der Staat ist für viele kaum sichtbar. Die internationale Gemeinschaft musste daher staatliche Aufgaben wie das Polizeiwesen und öffentliche Dienstleistungen übernehmen. Dadurch entstand eine komplizierte parallele Struktur. Und leider schwächen die internationalen Institutionen den Staat, den sie aufbauen sollen. Das fängt schon beim Personal an. So verdient ein ehemaliger Minister als Chauffeur bei einer internationalen Organisation zehnmal mehr als in seinem früheren Amt - keine Frage also, wo er lieber arbeitet. Hinzu kommt ein gravierender Anti-Amerikanismus in der Bevölkerung, der auf pauschalen Bildern und großen Verschwörungstheorien basiert.

FRAGE: Können zivilgesellschaftliche Kräfte diese Entwicklung positiv beeinflussen?

CONRAD SCHETTER: In der Gesellschaft gibt es nur wenige gut ausgebildete Personen, es gibt also kaum nennenswerte zivilgesellschaftliche Kräfte. Sowohl im Staat als auch in der Zivilgesellschaft fehlen die Kapazitäten, den Wiederaufbau voranzutreiben.

Hinzu kommt, dass die Bevölkerung ihre eigenen Traditionen nicht von heute auf morgen durch internationale Standards ersetzt haben möchte. Gerade in der ländlichen Bevölkerung stoßen die so genannten westlichen Werte auf großen Widerstand. Der Bevölkerung wurde nicht hinreichend vermittelt, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Viele Afghanen befürchten, bei dem Wiederaufbau zu den Verlierern zu gehören. Diese Sorge ist vor allem in den besonders traditionellen Regionen im Süden und Osten stark ausgeprägt.

FRAGE: Auch in Teilen Pakistans hat man den Eindruck, dass der Staat die Kontrolle verliert.

CONRAD SCHETTER: Die Entwicklung in Afghanistan und in Teilen Pakistans könnte man als komplettes Versagen zweier Staaten deuten. Insbesondere in dem Grenzgebiet zwischen beiden Ländern existiert weder ein staatliches Gewaltmonopol, noch ein einheitliches Rechts- und Wertesystem. In dieser Region hat sich ein anti-staatliches Territorium entwickelt, in dem lokale Eliten dominieren. Dieses "Talibanistan" entstand vor allem dort, wo die Bevölkerung niemals von staatlichen Wohltaten profitiert hat. Die dortige Bevölkerung fühlt sich den internationalen Normen nicht verpflichtet, wie zum Beispiel bei wirtschaftlichen Aktivitäten wie dem Drogenanbau oder bei der Geschlechterfrage. Stattdessen greifen die Menschen auf ihre lokalen Traditionen zurück. Die Einflussnahme von außen - sei es durch militärische Interventionen oder durch staatliche Entwicklungsprogramme - wird als Angriff auf den eigenen Lebensstil wahrgenommen.

FRAGE: Ist der Konflikt zwischen traditionellen und staatlichen Strukturen überhaupt aufzulösen?

CONRAD SCHETTER: Die meisten Menschen glauben, dass in diesen Ländern immer nur Chaos und Anarchie herrschen. Dabei gibt es selbst in Kriegszeiten immer gewisse Strukturen, die wesentlich stabiler sind als wir annehmen. Weil sie den Menschen Halt geben, genießen sie auch eine hohe Akzeptanz. Wenn man diese Strukturen nicht ernst nimmt, ignoriert man die Identität der Bevölkerung.

FRAGE: Wieso existiert dieser Konflikt auch im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, wo es keine internationale Intervention gibt?

CONRAD SCHETTER: Seit 2001 ist die pakistanische Armee mit 80.000 bis 100.000 Mann in der Grenzregion vertreten. Auch hier findet also eine Einflussnahme von außen statt. In den Stammesgebieten wird der Eindruck erweckt, dass die pakistanische Regierung nur als verlängerter Arm der USA agiert. Es wird versucht, die traditionellen Strukturen gegen eine externe Einflussnahme zu verteidigen. Diese Ablehnung von externem Einfluss gab es auch schon im 19. Jahrhundert, etwa gegen die Briten. Heute vermischt sich das Stammesdenken mit religiös-fundamentalistischem Denken.

FRAGE: Was sich besonders auf die Stellung der Frau auswirkt.

CONRAD SCHETTER: Bei der Geschlechterfrage dreht sich alles um den Machterhalt. Es geht darum, die traditionellen patriarchalischen Strukturen aufrecht zu erhalten - und damit auch die Machtstrukturen von der Familie bis in die höchsten staatlichen Bereiche. In diesem Konflikt kommt es zu einem Zusammenspiel von religiösen und tribalen Werten. Beide gehen davon aus, dass Frauen nur den Status eines Objekts verdienen. Erst als diese Vorstellung durch Modernisierungsversuche in Frage gestellt wurde, wurde die Burka immer mehr zu Pflicht.

FRAGE: Wo sehen Sie Perspektiven für eine positive Veränderung?

CONRAD SCHETTER: In Pakistan findet man Vertreter einer emanzipatorischen Zivilgesellschaft in großen Städten, in Afghanistan beschränkt sie sich auf einzelne Personen. Als gesellschaftliche Bewegung tritt sie in beiden Ländern meistens nicht groß in Erscheinung. Es gibt aber einige Veränderungen in den letzten Jahren. In erster Linie sind dabei die Flüchtlinge und Arbeitsmigranten zu nennen, die seit vielen Jahren in den Golfstaaten oder in Europa leben und dort einige neue Werte vermittelt bekommen - etwa, dass ein einheitliches Rechtssystem oder staatliche Institutionen auch Vorteile bieten.

FRAGE: Wie beurteilen Sie die Chancen, ein demokratisches System aufzubauen?

CONRAD SCHETTER: Wer in Europa aufgewachsen ist, wurde sehr durch den Staat geprägt und hat seine Ordnungsmuster verinnerlicht. Das beginnt bereits damit, dass jedes Haus eine Nummer besitzt. So hat die Bundeswehr nach ihrer Ankunft in Kundus zunächst jeder Straße Namensschilder gegeben. Staatliche Institutionen sind eine sehr moderne Angelegenheit. In vielen Ländern glaubt die Bevölkerung hingegen, dass sie ohne diese Staatlichkeit viel besser dran ist. Auch in Tadschikistan, im Jemen oder in Somalia wird versucht, die eigene Autonomie und die eigenen Werte zu behalten und sich gegen staatliche Einflüsse zu verteidigen. Und besonders wenn man einen äußeren Feind hat, dem man alle negativen Entwicklungen anhängen kann, sind diese einfachen Werteordnungen attraktiv. Wenn der Feind weg ist und man selbst regieren muss, sieht es oftmals anders aus.

Ein demokratischer Prozess entwickelt sich über mehrere Generationen. Und auch eine zivilgesellschaftliche Struktur kann sich erst nach und nach bilden. Man kann aber nicht eigene staatliche Strukturen aufbauen und gleichzeitig den Wertekodex importieren - damit schwächt man gleichzeitig die staatlichen Akteure, die man fördern will. Hier ist die Gleichzeitigkeit das Problem. Man kann nicht die Zivilgesellschaft vor dem Staat aufbauen.

FRAGE: Wie können sich Menschenrechtsorganisationen wie ai verhalten?

CONRAD SCHETTER: ai kommt eine wichtige Kontrollfunktion zu: Durch ihre Kritik zeigt sich, wo sich eine demokratische Entwicklung gerade befindet. Aber es ist klar, für einen solchen Prozess braucht es viel Zeit.

Interview: Anton Landgraf


Dr. Conrad Schetter studierte Geographie und Geschichte. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn und beschäftigt sich insbesondere mit Afghanistan, Pakistan und mit Konfliktforschung. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Publikationen. Zuletzt erschien von ihm die "Kleine Geschichte Afghanistans".


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AFGHANISTAN: ISAF-BERICHT VON AI

Im November 2007 hat ai in einem Bericht darauf aufmerksam gemacht, dass die in Afghanistan stationierten ISAF-Truppen ("International Security Assistance Force") Gefahr laufen, zum Komplizen von Folter zu werden. Auch deutsche ISAF-Truppen sind den Vorwürfen ausgesetzt. Der Bericht analysiert die Praxis der ISAF, Festgenommene an afghanische Behörden - insbesondere den Geheimdienst - zu übergeben. Mehrere Personen seien nach der Übergabe gefoltert worden oder verschwunden. ai fordert die ISAF daher auf, Übergaben an den afghanischen Geheimdienst einzustellen. Die Bundesregierung hält sich mit Informationen zu den übergebenen Gefangenen zurück. Kritisch ist eine geplante bilaterale Vereinbarung, die sicherstellen soll, dass übergebene Gefangene nicht gefoltert werden. Diese entbindet Deutschland aber nicht von seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen. ai appelliert an die Bundesregierung, sich verstärkt bei der Gefängnis- und Geheimdienstreform in Afghanistan zu engagieren und dabei die Erfahrungen aus dem Aufbau der dortigen Polizei zu nutzen.

Lesen Sie den vollständigen Bericht unter:
www.amnesty.org
(AI Index: ASA 11/011/2007)


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Quelle:
amnesty journal, Januar 2008, S. 17-19
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2008