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AKTION/864: Reaktionen und Erfolge, Oktober/November 2011


amnesty journal 10/11/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Reaktionen und Erfolge - Oktober/November 2011

- USA, Grossbritannien, Russland, Haiti, Malawi, Israel - Ausgewählte Ereignisse vom 21. Juli bis 15. September 2011
- Deutschland - Name oder Nummer
- Libyen - Libyscher Regierungskritiker entlassen
- Mexiko - Teilerfolg gegen die Straflosigkeit
- Malaysia - Aktivisten aus der Haft entlassen
- Armenien/EU - Ein Recht auf Verweigerung
- Indien - Gericht stoppt Expansion einer Aluminium-Raffinerie
- China - Mao Hengfeng freigelassen
- Guatemala - Ex-Soldaten zu 6.060 Jahren Haft verurteilt


Ausgewählte Ereignisse vom 21. Juli bis 15. September 2011.

USA
Jordan Brown ist angeklagt, im Alter von elf Jahren die Verlobte seines Vaters und deren ungeborenes Kind getötet zu haben. Der heute 13-Jährige hätte vor einem ganz normalen Gericht für Erwachsene verurteilt werden sollen. Ende August wurde das Verfahren schließlich einem Jugendgericht übergeben. Amnesty hatte sich dafür eingesetzt, weil dem Jungen sonst eine lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung gedroht hätte. Laut UNO-Kinderrechtskonvention ist dies verboten, doch die USA sind neben Somalia das einzige Land weltweit, das die Konvention noch nicht ratifiziert hat.

GROSSBRITANNIEN
"Heimlichtuerisch, unehrlich und mit großen Fehlern." So haben Amnesty International und andere Organisationen die Pläne der britischen Regierung zur Aufklärung von Foltervorwürfen kommentiert. Britische Einheiten stehen im Verdacht, bei Antiterrormaßnahmen nach dem 11. September 2001 an Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen zu sein. "Wir brauchen eine Untersuchung, die so transparent und effizient wie möglich ist und nicht diesen halbgeheimen Prozess, dem es an Reichweite und Willen fehlt", sagte Nicola Duckworth, Direktorin für das Europa-Programm bei Amnesty.

RUSSLAND
In Zusammenhang mit dem Mord an der Menschenrechtlerin Anna Politkowskaja im Jahr 2006 ist Ende August ein ehemaliger russischer Polizist verhaftet worden. Dmitri Pawljutschenko steht unter dem Verdacht, Drahtzieher des Mordes zu sein. Amnesty International hofft, dass damit die Aufklärung des Verbrechens in greifbare Nähe rückt. Anna Politkowskaja hatte sich mehr als ein Jahrzehnt lang unermüdlich und vehement gegen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und im Nordkaukasus engagiert.

HAITI
Im Juli wurden rund 500 Familien aus einem provisorischen Lager im Zentrum der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince vertrieben. "Die Behörden in Haiti haben diese Familien seit dem Erdbeben bereits drei Mal auf die Straße gesetzt", sagte Javier Zuñiga, Experte bei Amnesty. "Sie haben dabei versagt, die Rechte der Menschen auf Obdach und einen angemessenen Lebensstandard zu schützen." Berichten zufolge bezahlten die Behörden jeder Familie 250 US-Dollar, klärten jedoch nicht in adäquater Weise über die Räumung auf und boten keine alternativen Wohnmöglichkeiten an.

MALAWI
Mindestens acht Tote und 44 Verletzte sind das Resultat gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen regierungskritischen Demonstranten und Sicherheitskräften in der malawischen Stadt Mzuzu. "Wenn es einen glaubwürdigen Verdacht gibt, dass willkürlich auf die Demonstranten geschossen wurde, dann müssen die Verantwortlichen in einem fairen Verfahren zur Rechenschaft gezogen werden", sagte Erwin van der Borght, Leiter des Afrika-Programms bei Amnesty. Die Proteste richteten sich unter anderem gegen steigende Lebenshaltungskosten und die Rationierung der Benzin- und Stromversorgung.

ISRAEL
Im vergangenen Jahr haben israelische Behörden die Bewohner des Beduinen-Dorfs al-'Araqib insgesamt 28 Mal vertrieben und ihre Behausungen zerstört. Für die Räumungen hat die Regierung nun eine Forderung in Höhe von 500.000 US-Dollar geltend gemacht. "Die Behörden können nicht ernsthaft erwarten, dass die Beduinen selbst für die wiederholte Zerstörung ihrer Wohnungen und ihrer Lebensgrundlage aufkommen", sagte Philip Luther, stellvertretender Leiter der Abteilung Nahost und Nordafrika bei Amnesty. Nach Ansicht der Beduinen liegt das Dorf auf dem Land ihrer Vorfahren, nach Ansicht der israelischen Regierung handelt es sich um die illegale Besetzung eines "nicht erfassten" Gebiets.


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Name oder Nummer

Deutschland - Die Berliner Polizei beweist Bürgernähe: Seit Juli tragen über 13.000 Beamte im Dienst ein Namens- oder Nummernschild zur Kennzeichnung. In Brandenburg soll die Kennzeichnungspflicht 2013 eingeführt werden. "Amnesty International begrüßt die Umsetzung der Kennzeichnungspflicht in Berlin und den Landtagsbeschluss zur Einführung in Brandenburg", sagte Joachim Rahmann, Referent für das Thema "Polizei und Menschenrechte" bei Amnesty in Deutschland.

Dass sich Berliner Polizisten zwischen Namen und Nummer entscheiden können, ist das Ergebnis eines Kompromissvorschlags der Einigungsstelle des Landes Berlin. Polizeigewerkschaften hatten die Kennzeichnungspflicht mit der Begründung abgelehnt, sie würde die Sicherheit der Beamten gefährden. "Erfahrungen anderer europäischer Länder sowie des SEK in Berlin liefern keine Grundlage dafür, eine erhöhte Gefährdung für Polizeibeamte zu vermuten", sagte Rahmann. Der Einsatz von Nummernschildern garantiere eine effektive Ermittlung, beachte aber auch die Sicherheitsbedürfnisse der Beamten. Die Bundesregierung hat eine generelle Kennzeichnungspflicht für die Bundespolizei ausgeschlossen. In einer Antwort auf eine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen heißt es, die Kennzeichnung sei "sachlich nicht erforderlich", da Bundespolizisten bereits identifiziert werden könnten. Nach Ansicht von Amnesty ist diese Begründung nicht stichhaltig: "Anders als die Bundesregierung behauptet, sind Fälle dokumentiert, in denen Vorwürfe wegen mangelnder Kennzeichnung nicht aufgeklärt werden konnten", so Rahmann.

Die deutsche Amnesty-Sektion hatte im vergangenen Jahr mit der Kampagne "Mehr Verantwortung bei der Polizei" auf die mangelnde Aufklärung mutmaßlicher Misshandlungen durch die Polizei aufmerksam gemacht. In Baden-Württemberg, Bremen und Rheinland-Pfalz ist die Kennzeichnungspflicht bei "Großlagen", beispielsweise Demonstrationen, inzwischen in den Koalitionsverträgen verankert.


Libyscher Regierungskritiker entlassen

Libyen - "Ich habe keine Worte, um mich für die Hilfe von Amnesty International zu bedanken", sagte Jamal al-Hajji zwei Amnesty-Vertretern in Tripolis. Jamal al-Hajji ist ein langjähriger Kritiker von Muammar al-Gaddafi und dessen Politik. Nach einer fast sieben Monate dauernden Haft wurde er Ende August freigelassen.

Weil der Regierungskritiker angeblich einen Autounfall verursacht haben soll, wurde er am 1. Februar von Sicherheitskräften in Zivil festgenommen. Zuvor hatte Jamal al-Hajji auf ausländischen Internetseiten zu regierungskritischen Demonstrationen aufgerufen.

Seine Haft verbrachte er unter menschenunwürdigen Bedingungen. "Es ist unglaublich, zu welchen Mitteln Staatsoberhäupter greifen, um an der Macht zu bleiben", so al-Hajji. "Alle Menschen, die grundlegende Freiheiten und Menschenrechte fordern, müssen wir deshalb unterstützen."


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Teilerfolg gegen die Straflosigkeit

von Ralf Rebmann

Vor neun Jahren wurden Inés Fernández Ortega und Valentina Rosendo Cantú von Angehörigen des mexikanischen Militärs vergewaltigt. Bis heute kämpfen sie dafür, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Vor Gericht haben die beiden Frauen nun einen Teilerfolg erstritten.

"Ich weiß, dass es ein langer Prozess ist, aber ich werde weiterkämpfen, bis ich Recht bekomme." Das sagte Valentina Rosendo Cantú Amnesty International im Januar 2009. Zweieinhalb Jahre später ist sie zusammen mit Inés Fernández Ortega diesem Ziel näher gekommen. Im August 2011 räumte die Generalstaatsanwaltschaft des Militärs ein, dass die Strafverfolgung von Menschenrechtsverletzungen durch Militärangehörige nicht in ihre Zuständigkeit fällt. Das Verfahren gegen die Täter wird somit vor einem Zivilgericht und nicht, wie sonst üblich, vor einem Militärgericht verhandelt.

"Für uns ist das ein bedeutender Schritt nach vorn, denn die mexikanische Bevölkerung hat sich kontinuierlich dafür stark gemacht, dass die Fälle an die zivile Justiz übergeben werden", sagte Vidulfo Rosales, der Anwalt der beiden Frauen im Menschenrechtszentrum Tlachinollan im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero. "Dennoch besteht weiterhin die Möglichkeit, dass die Verantwortlichen ungeschoren davonkommen. Die Generalstaatsanwaltschaft ist verpflichtet, unverzüglich ein Strafverfahren zu eröffnen und die Soldaten zu bestrafen, die Inés und Valentina bereits als Täter genannt haben", so Rosales. Beide Frauen gehören zur indigenen Gemeinschaft der Tlapaneca, die im Bundesstaat Guerrero lebt. Im Februar 2002 wurde Valentina Rosendo Cantú von Militärangehörigen zu einem Diebstahl befragt. Anschließend wurde sie vergewaltigt, weil sie nicht die gewünschten Informationen liefern konnte. Inés Fernández Ortega wurde im März 2002 aus ähnlichen Gründen vergewaltigt.

Das Einlenken der Generalstaatsanwaltschaft geht auf eine Entscheidung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2010 zurück. Darin hieß es, die Verfahren zu Menschenrechtsverletzungen durch das Militär müssten vor Zivilgerichten verhandelt werden. Die mangelnde Unabhängigkeit vieler Militärgerichte ist einer der Hauptgründe dafür, dass viele mutmaßliche Täter aus den Reihen des Militärs straffrei davonkommen oder Verfahren verschleppt werden.

Trotz der Entscheidung liegen eine Reihe von Vergewaltigungsfällen nach wie vor bei Militärgerichten. Übergriffe von Militärangehörigen auf die Zivilbevölkerung sind keine Seltenheit: 2010 hat die Nationale Menschenrechtskommission in Mexiko in mehr als 1.600 Fällen Beschwerden entgegengenommen. Bis heute ist Amnesty International nur ein Fall bekannt, bei dem ein Militärangehöriger wegen Menschenrechtsverletzungen verurteilt wurde.

Laut Javier Zuñiga, Experte bei Amnesty, könnte das Verfahren von Inés Fernández Ortega und Valentina Rosendo Cantú zu einem wichtigen Präzedenzfall werden. "Die Staatsanwaltschaft muss die Verantwortlichen rasch vor Gericht stellen", forderte Zuñiga. "Man darf nicht zulassen, dass die mexikanische Militärjustiz einmal mehr die Schuldigen deckt, wenn Angehörigen der Armee Menschenrechtsverletzungen an Zivilpersonen zur Last gelegt werden."


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EINSATZ MIT ERFOLG

Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den "Urgent Actions", den "Briefen gegen das Vergessen" und an Unterschriftenaktionen von Amnesty International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen diese Beispiele.


Aktivisten aus der Haft entlassen

Malaysia - Sechs Mitglieder der Sozialistischen Partei in Malaysia, darunter der Parlamentsabgeordnete Jeyakumar Devara, sind wieder frei. Die Aktivisten wurden über einen Monat lang auf Grundlage einer Notstandsverordnung in Haft gehalten. "Die Freilassung ist eine gute Nachricht, Malaysia sollte jedoch auch Tausende weitere Personen freilassen, die aufgrund dieses ungerechten Gesetzes inhaftiert sind", sagte Sam Zarifi, Direktor des Asien-Pazifik-Programms von Amnesty.

Derzeit befinden sich schätzungsweise 2.000 Personen ohne Anklage oder Verfahren in Haft. Verabschiedet wurde die Notstandsverordnung bei ethnischen Konflikten im Jahr 1969, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. "Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass malaysische Behörden dieses problematische und präventive Gesetz weiterhin anwenden", so Sam Zarifi.


Ein Recht auf Verweigerung

Armenien/EU - Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Rechte von Kriegsdienstverweigerern gestärkt. In einem Urteil gegen den armenischen Staat entschieden die Richter, dass Staaten verpflichtet seien, die Ablehnung des Kriegsdienstes als Teil der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu respektieren. "Durch diese Entscheidung steht das Europäische Recht nun ganz klar in Einklang mit den internationalen Standards zur Kriegsdienstverweigerung", erklärte Michael Bochenek, Leiter der Abteilung Recht und Politik im Internationalen Sekretariat von Amnesty. Hintergrund des Urteils war die Klage von Vahan Bayatyan, einem Mitglied der Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas. Wegen seiner Weigerung, den Militärdienst anzutreten, wurde er 2003 von einem armenischen Gericht zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt - obwohl er sich bereit erklärt hatte, einen Ersatzdienst zu leisten. In der Folge saß Bayatyan über zehn Monate im Gefängnis.


Gericht stoppt Expansion einer Aluminium-Raffinerie

Indien - Der britische Konzern Vedanta Resources darf seine Aluminium-Raffinerie im indischen Bundesstaat Orissa nicht vergrößern. Das entschied der Oberste Gerichtshof von Orissa im Juli und bestätigte damit einen Beschluss der indischen Regierung. Nach Ansicht der Richter verletzt das Projekt die Umweltgesetze des Landes. Die durch den Aluminiumabbau verursachten Umweltschäden gefährden die Lebensgrundlage der Bewohner von zwölf Dörfern, größtenteils Majhi Kondh Adivasis (Indigene) und Dalit-Gemeinschaften. "Diese Entscheidung ist von enormer Bedeutung für die lokalen Gemeinden, die gekämpft haben, um diese Expansion zu verhindern", sagte Madhu Malhotra, stellvertretende Direktorin des Asien-Pazifik-Programms von Amnesty International.


Mao Hengfeng freigelassen

China - Mao Hengfeng wurde Ende Juli, einen Monat vor Verbüßung ihrer Haftstrafe in einem Arbeitslager in Shanghai, freigelassen. Die bekannte chinesische Menschenrechtsverteidigerin war im Mai 2010 zu 18 Monaten Haft in einem Lager zur "Umerziehung durch Arbeit" verurteilt worden. Den Entlassungspapieren zufolge kam Hengfeng frei, weil sie "unter extrem hohem Blutdruck leidet und in einem öffentlichen Krankenhaus behandelt werden sollte". Inzwischen hat sich ihr Gesundheitszustand wieder verbessert. Sie steht allerdings weiter unter Beobachtung der chinesischen Behörden. Amnesty International wird die Situation von Mao Hengfeng weiter genau beobachten und gegebenenfalls neue Aktionen einleiten.


Ex-Soldaten zu 6.060 Jahren Haft verurteilt

Guatemala - Ein Richter in Guatemala-Stadt hat vier ehemalige Soldaten wegen ihrer Rolle beim Massaker von Dos Erres im Jahr 1982 zu insgesamt 6.060 Jahren Haft verurteilt. Damals wurden mindestens 250 Männer, Frauen und Kinder getötet. "Dies ist ein Meilenstein für Guatemala und zeigt, dass das Land sich endlich dem Ziel nähert, Gerechtigkeit zu schaffen für die Hunderttausende von Menschen, die während des Bürgerkriegs Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden", kommentierte Sebastian Elgueta, Experte für Zentralamerika von Amnesty, das Urteil. Die Soldaten erhielten für jeden einzelnen Mord eine Haftstrafe von 30 Jahren. Das Urteil ist symbolisch: In Guatemala können verurteilte Personen für maximal 50 Jahre inhaftiert werden: Während des 36-jährigen Bürgerkriegs in Guatemala begingen Sicherheitskräfte UNO-Angaben zufolge über 600 Massaker an ländlichen und indigenen Bevölkerungsgruppen. Rund 200.000 Menschen kamen ums Leben oder verschwanden.


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2011, S. 6-9
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30, E-Mail: info@amnesty.de
Redaktionanschrift: Amnesty International, Redaktion amnesty journal,
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Internet: www.amnesty.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2011