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AKTION/726: Urgent Action - Tunesien - Unfaire Gerichtsverfahren


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-223/2011-1, AI-Index: MDE 30/016/2011, Datum: 10. August 2011 - mf

Tunesien
Unfaire Gerichtsverfahren


Herr AYMAN GHARIB
Herr ANIS EL-KRIFI
Herr WALID BOUJBALI
Herr HAITHAM EL-MEJRI

Vier Männern, die am 19. Juli in der Stadt Menzel Bourguiba im Norden Tunesiens festgenommen wurden, drohen nun unfaire Gerichtsverfahren vor Militärgerichten. Amnesty International missbilligt Zivilprozesse vor Militärgerichten grundsätzlich.

Die vier Männer Ayman Gharib, Anis El-Krifi, Walid Boujbali und Haitham el-Mejri wurden am frühen Morgen des 19. Juli in ihren Wohnungen bei Überfällen von Sicherheitskräften festgenommen. Infolge der Kämpfe zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften am 16. Juli, bei denen Berichten zufolge ein Polizeiauto und eine Polizeistation in Brand gesetzt worden waren, hatten sehr viele Festnahmen stattgefunden. Doch bis auf diese vier Männer wurden alle Festgenommenen freigelassen.

Die vier Männer werden gemäß Artikel 72, 74 und 77 des tunesischen Strafgesetzbuches wegen "Übergriffen mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen", "Anstacheln von Personen zu bewaffneten Angriffen untereinander" und "Verursachung von Chaos, Tötungen und Raubüberfällen" angeklagt. Des Weiteren beinhalten diese Artikel die Anklagen "Gründung oder Führung bewaffneter Gruppen, die öffentliches oder privates Eigentum zerstören" und "Übergriffe auf Zivilpersonen und Eigentum als Mitglied einer bewaffneten oder unbewaffneten Gruppe". Verstöße gegen die Artikel 72 und 74 werden mit der Todesstrafe geahndet.

Einer der Rechtsbeistände der vier Männer hat beanstandet, dass der Fall vor einem Militärgericht verhandelt werden soll, weil drei Sicherheitskräfte, die während der Vorfälle vom 16. Juli verletzt worden seien, medizinische Berichte vorgelegt haben, obwohl alle vier Männer Zivilpersonen sind. Der Rechtsbeistand ist überzeugt, dass alle Anklagepunkte konstruiert wurden, besonders weil es keine ZeugInnen gibt, die die Angeklagten vor Ort gesehen haben. Zwei Personen bezeugen hingegen, dass sich einer der Angeklagten während der Kämpfe am 16. Juli in einer Moschee aufhielt. Bei keinem der Männer wurden Waffen gefunden.

Acht weitere Männer sollen wegen der Vorfälle vom 16. Juli ebenfalls vor Militärgerichte gestellt werden. Sie wurden allerdings nie festgenommen und gelten nun als flüchtig.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Die vier Männer gehören zu einer großen Anzahl von Personen, die während der Kämpfe zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften in Menzel Bourguiba und der benachbarten Hauptstadt Tunis festgenommen wurden. Auch in anderen Regionen führte eine gewaltsame Auflösung eines Sit-ins am 15. Juli in Kasbah, der Altstadt von Tunis, zu erhöhten Spannungen. Als Armeeangehörige eine Demonstration in Sidi Bouzid mit scharfer Munition auflösten, wurde ein 13-jähriger Junge erschossen. In Sidi Bouzid und Menzel Bourguiba wurde eine Ausgangssperre verhängt, die inzwischen wieder aufgehoben worden ist. Am 21. Juli erklärte Moukhtar Ben Nacer, der General des Verteidigungsministeriums, dass die Ordnung in allen Teilen des Landes wieder hergestellt sei. Doch am 1. August 2011 wurde erneut der Notstand auf unbestimmte Zeit ausgerufen.

In Übereinstimmung mit dem Völkerrecht lehnt Amnesty International Zivilprozesse vor Militärgerichten ab, weil sie das grundlegende Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren vor einem zuständigen, unabhängigen und unparteiischen Gericht verletzen. Artikel 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, dessen Vertragsstaat Tunesien ist, garantiert dieses Recht. In Artikel 5 des tunesischen Militärgesetzbuches von 1957 sind zahlreiche Fälle ausgeführt, in denen Zivilpersonen vor Militärgerichte gestellt werden können, z.B. gewöhnliche Straftaten, in die ein Angehöriger des Militärs verwickelt ist; Straftaten, die auf Militärgebiet begangen werden und terroristische Angriffe sowie Angriffe gegen innere und äußere Sicherheit. Militärgerichte verwehren den Angeklagten ihr Recht auf einen fairen Prozess, weil die Urteile endgültig sind und die Einlegung von Rechtsmitteln nicht möglich ist.

Amnesty International lehnt die Todesstrafe unabhängig von der Art der Straftat grundsätzlich ab, da sie gegen das Recht auf Leben verstößt und die extremste Form der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bestrafung darstellt. Im Jahr 2010 wurden in Tunesien mindestens 22 Menschen zum Tode verurteilt, obwohl die Regierung seit 1992 ein de facto Hinrichtungsmoratorium einhält. Insgesamt saßen 2010 mindestens 136 Personen, darunter vier Frauen, in tunesischen Todeszellen. Sie durften weder von ihren Familien noch von ihren Rechtsbeiständen besucht werden.


EMPFOHLENE AKTIONEN

SCHREIBEN SIE BITTE E-MAILS, FAXE ODER LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

- Stellen Sie sicher, dass Ayman Gharib, Anis El-Krifi, Walid Boujbali und Haitham el-Mejri unter Ausschluss der Todesstrafe faire Prozesse vor einem Zivilgericht erhalten.

- Ich appelliere an Sie, umgehend vollständige und unabhängige Untersuchungen über die Vorfälle einzuleiten, die zu den Festnahmen der vier Männer geführt haben.


APPELLE AN

MINISTER FÜR JUSTIZ UND MENSCHENRECHTE
Lazhar Karoui Chebbi
Ministry of Justice and Human Rights
57 Bab B'net, 1006 Tunis - La Kasbah
TUNESIEN
(korrekte Anrede: Your Excellency/ Sehr geehrter Herr Minister)
Fax: (00216) 71 568 106
E-Mail: mju@ministeres.tn

VERTEIDIGUNGSMINISTER
Abdelkarim Zebidi
Ministry of National Defence
Boulevard Bab M'nara
1008 La Kasbah - Tunis
TUNESIEN
(korrekte Anrede: Your Excellency/ Sehr geehrter Herr Minister)
Fax: (00216) 71 561 804
E-Mail: defnat@defense.tn


KOPIEN AN

BOTSCHAFT DER TUNESISCHEN REPUBLIK
Herrn Wacef Chiha
Geschäftsträger a.i., Botschaftsrat
Lindenallee 16
14050 Berlin
Fax: 030-3082 06 83


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Arabisch, Französisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 21. September 2011 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE WRITE IMMEDIATELY

- Calling on the Tunisian authorities to ensure that Ayman Gharib, Anis el-Krifi, Walid Boujbali and Haitham el-Mejri receive a fair trial before a civilian court, not a military one, without the imposition of the death penalty.

- Urging them to investigate fully and independently the events that led to the charges against Ayman Gharib, Anis el-Krifi, Walid Boujbali and Haitham el-Mejri.


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Quelle:
ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-223/2011-1, AI-Index: MDE 30/016/2011, Datum: 10. August 2011 - mf
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin
Telefon: 030/42 02 48-306
Fax: 030/42 02 48 - 330
E-Mail: presse@amnesty.de
Internet: www.amnesty.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2011