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REZENSION/765: Reinhard Jellen - Ironie und Warenfetischismus (SB)


Reinhard Jellen


Ironie und Warenfetischismus

Schriften zu Philosophie, Kultur, Sex, Drogen und Northern Soul



Ohne weitere Vorreden hinein ins Vergnügen, das aus einem bunten Cocktail meist wenig mehr als eine Buchseite umfassender Artikel zu Themen besteht, die zwischen marxistischer Gesellschaftskritik, popkulturellen Schlaglichtern, autobiografischen Reflexionen und literaturtheoretischen Analysen die Frage aufkommen lassen könnten, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll. Die Antwort darauf muss wohl textimmanent gesucht werden, und wer dort nicht fündig wird, kann zumindest mutmaßen, dass der von Reinhard Jellen als Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft attestierte Tauschwert auch in diesem Fall bei der Geburt der Idee Pate gestanden hat, inhaltlich ganz unterschiedliche Texte zu einem Buch zusammenzufassen.

"Ironie und Warenfetischismus" - wo die Warenform das Leben beherrscht, erscheint dessen spöttisch-hintergründige Reflexion als probates Mittel, dem Problem zu entkommen, dass die Charaktermaske lediglich suggeriert, hinter ihr befinde sich so etwas wie ein authentisches Ich. Wenn das menschliche Wesen kein "dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum" sei, sondern seine Wirklichkeit auf den Begriff eines "Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse" zu bringen ist (Marx in Entgegnung auf Feuerbach), führt der ironisch gesättigter Kommunikation innewohnende Anspruch, die daran Beteiligten seien sich zumindest im Wissen über den widersprüchlichen Charakter der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit einig, auch nicht weiter als zum Konsens dissidenter Partikularität. Kurz gesagt, bei allem Spaß stellt ironische Kommentierung vor allem jene Distanz her, die unterstellt, mit nichts etwas zu tun zu haben. Wird auf der Flucht vor einer unausweichlichen Konfrontation erkannt, dass Fremdbestimmung alles aufzehrt, was sich ihr nicht entgegenstellt, erweist sich diese Distanz als kaum zu überwindendes Hindernis.

Als gelernter Philosoph macht sich der Autor einen Spaß daraus, das Spannungsverhältnis gesellschaftlicher Widersprüche als Feuerwerk entlegener Ideen und abenteuerlicher Denkoperationen zu illuminieren. Wenn das Verglimmen dieser Funken kaum mehr als die vage Erinnerung daran hinterlässt, dass die Bemächtigung der Wirklichkeit nicht nur ein ästhetischer Genuss, sondern schweißtreibende Arbeit ist, kann zumindest wie bei jedem guten Rausch, von dem der Autor häufiger zu künden weiß, der Gebrauchswert intellektuellen Wermuts attestiert werden.

Je erkenntnisträchtiger die hier vorgelegten marxistisch inspirierten Kultur- und Gesellschaftsanalysen sein mögen, desto unbefriedigender ist die geringe Mühe, mit der sie außerhalb ihres jeweilige Sujets, also etwa der Nähe Thomas Manns zu marxistischer Entfremdungstheorie, verknüpfbar und entwickelbar gemacht werden. Dazu trägt auch der Verzicht auf die zeitliche Datierung der jeweiligen Artikel bei - dank extensiven Name Droppings kann zwar darüber spekuliert werden, wann der Autor den jeweiligen Text verfasst hat, doch ein zeit- und kulturgeschichtliches Quiz verlangt den LeserInnen mehr ab, als sich über die an und für sich interessanten Themen kundig zu machen.

So gehen lesenswerte Beiträge wie etwa derjenige über Ernst Bloch (S. 91), über den Begriff der "Sozialen Gerechtigkeit" seit der Ära Rot-Grün (S. 225), über Ally McBeal (S. 237) oder über Goethe und Lukács (S. 84) in der Fülle der Fragmente unter. Der Autor bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück, die vor allem dann entfaltet würden, wenn die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen auf der Höhe der Zeit kritisch reflektiert würden.

19. September 2022

Reinhard Jellen
Ironie und Warenfetischismus
Schriften zu Philosophie, Kultur, Sex, Drogen und Northern Soul
Mangroven Verlag, Kassel, 2022
423 Seiten
23,00 Euro
ISBN: 978-3-946946-31-1


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022


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