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REZENSION/755: Michael Wengraf - Die Schule der Kapitulation. "Kritische Theorie" und Studentenbewegung 1968 (SB)


Michael Wengraf


Die Schule der Kapitulation

"Kritische Theorie" und Studentenbewegung 1968




Foto: Jjshapiro at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Vertreter der Frankfurter Schule 1964 in Heidelberg - Max Horkheimer (vorne links), Theodor Adorno (vorne rechts) und Jürgen Habermas (im Hintergrund rechts)
Foto: Jjshapiro at English Wikipedia, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Der Strom der Bücher und sonstigen Publikationen, die anläßlich des 50jährigen "Jubiläums" der politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Umbrüche, die als "'68", wie die damalige Studentenrevolte kurzerhand genannt wurde, in die Geschichtsschreibung eingingen, ist inzwischen abgeebbt, da legt der Mangroven Verlag mit Die Schule der Kapitulation - "Kritische Theorie" und Studentenbewegung ein Werk vor, das sich nüchtern und erfrischend kritisch ausnimmt und keineswegs in den von Schulterklopferei und Selbstbeweihräucherung dominierten Darstellungskonsens derjenigen, die damals "dabei" gewesen sind oder dies andere glauben machen wollen, einstimmt. Der Autor Michael Wengraf, Wissenschaftshistoriker, Journalist und Lektor an der Universität Wien, hat die "Kritische Theorie" der Frankfurter Schule ihrerseits kritisch unter Strom gesetzt und ist dabei zu Feststellungen, nein besser noch einer fundierten Stellungnahme gelangt, die mit dem wenn auch diffus positiven Image dieses Instituts gründlich aufräumt.

Wer die Zeit damals miterlebt und die politischen Auseinandersetzungen und Kämpfe der Studentenrevolte zur eigenen Sache gemacht hat, wird sich gut an die damalige, in der weiteren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang wohl einmalig gebliebene Atmosphäre erinnern können. Es lag, prosaisch ausgedrückt, "Revolution in der Luft". Viele, zumeist junge Menschen - Studenten, Schüler, Lehrlinge, aber auch Arbeiter und Angestellte - erlebten einen Aufbruch, der sie Überzeugungen, denen zufolge die Verhältnisse "eben so sind, wie sie sind", über Bord werfen ließ zugunsten der mehr als fixen Idee, das Rad der Geschichte in die eigenen Hände nehmen zu können. '68, das war der Streit nicht um eine bessere Welt, sondern eine auf den Ruinen zerschlagener Herrschaft zu realisierende Utopie, über die unter den Stichworten Sozialismus, Kommunismus oder auch Anarchismus nicht weniger heftig diskutiert wurde als über viele weitere Fragen rund um Rebellion und Revolution.

Michael Wengraf verortet die "Kritische Theorie" der Frankfurter Schule, als deren im buchstäblichsten Sinne einflussreichste Protagonisten er Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Jürgen Habermas näher unter die Lupe nahm, als wesentliche Kraft zur Eindämmung und Neutralisierung der studentischen Revolte, deren zunächst revolutionäre Impulse dem herrschenden Kapitalismus am Ende sogar den so dringend benötigten systemerhaltenden Modernisierungsschub verpassten. Dies habe, so das Fazit des Autors, weit über '68 hinaus spürbare und schwerwiegende Folgen gehabt, konnte doch damals nicht zuletzt mittels der "Kritischen Theorie" die 68er-Bewegung auf einen "resignativ-pessimistischen Weg" (S. 196) gebracht werden, von dem die Linke bis heute - also 50 Jahre danach - nicht abgekommen zu sein scheint.


Foto: Stiftung Haus der Geschichte, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

Massendemonstration gegen den Vietnamkrieg in West-Berlin (1968)
Foto: Stiftung Haus der Geschichte, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

Schon wenn es allein um '68 ginge, könnte dieses Buch für Menschen, die an der Geschichte von Widerständigkeit und revolutionären Ansätzen interessiert sind, von großem Interesse sein. Wer sich darüber hinaus den im Hier und Heute ungelösten Problemen widmet, wird in den Bemühungen des Autors, die Gegenwart unter Berücksichtigung der Spätfolgen des konterrevolutionären Agierens der Frankfurter Schule und - damit zusammenhängend - auch Teilen der Studentenbewegung zu analysieren, aufschlußreiche Hinweise finden. Wengraf schreibt:

Im 21. Jahrhundert gelang dann das Neutralisieren der radikalen Linken in Europa nahezu vollständig. Sie ist nun komplett in den neoliberalen Kapitalismus integriert. Der Plan ist damit aufgegangen. Mit dem realen Sozialismus wurde auch die marxistische Systemopposition im Westen entsorgt. Wobei deren partielle Kompatibilität mit den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen bereits im Prozess von 1968 angelegt war. Heute wird der Kapitalismus weltweit mit einem korrekten links-humanistischen Anstrich verkauft. Er stellt sich äußerlich als liberal, feministisch, egalitär, antirassistisch und antifaschistisch dar und verbirgt hinter dieser Fassade das direkte Gegenteil: Weltumspannende, existenzvernichtende Profitgier, die sich zu einer Bedrohung allen Lebens auf diesem Planeten auswächst. (S. 185f.) 

Mit dem Buchtitel - Schule der Kapitulation - hat der Autor aufs Kürzeste deutlich gemacht, was er von der Frankfurter Schule hält. Ihre Vertreter - Marcuse, Horkheimer und Habermas - hätten ungeachtet ihrer im Detail durchaus unterschiedlich gesetzten Akzente darin übereingestimmt, den "Abschied von der Arbeiterklasse" (S. 181) zu propagieren, womit sie den marxistischen Klassenbegriff entsorgt und von der Idee der Arbeiterschaft als revolutionärem Subjekt Abstand genommen haben.

Herbert Marcuse sei als Chefideologe der Studentenrevolte wahrgenommen worden. Der Autor kritisiert seine "offene Fortschrittsfeindlichkeit", eine Technikfeindlichkeit, wie sie beispielweise in der Äußerung, Technik selbst habe Tendenzen zum Totalitarismus, zum Ausdruck komme. Technik sei bei Marcuse "ein Medium gegenständlich vermittelter Herrschaftsbeziehungen", nicht ein "neutrales Mittel zur Steigerung gesellschaftlicher Produktivität", wie Wengraf meint. (S. 51) Gleichwohl bringt er Marcuse gegenüber ein gewisses psychologisches Verständnis auf, wenn er von ihm sagt, er habe auf "theoretischer Ebene einen stark ausgeprägten historischen Pessimismus" entwickelt, ohne seine "grundsätzliche innere Verbundenheit mit der Revolution" aufzugeben. Seine "depressiven Anwandlungen" hätten nicht "das Hauptmoment seines Denkens" ausgemacht. (S. 45)


Foto: Copyright holder: Marcuse family, represented by Harold Marcuse, CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], via Wikimedia Commons

Herbert Marcuse während seines Aufenthalts in den USA in Newton, Massachusetts (1955)
Foto: Copyright holder: Marcuse family, represented by Harold Marcuse, CC BY-SA 3.0 [http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/], via Wikimedia Commons

Die Kritik Wengrafs an der "Kritischen Theorie", die er als Konstrukt zur Rettung des kapitalistischen Systems im Angesichte einer sich womöglich über die eigenen 'Standesgrenzen' hinweg radikalisierenden Studentenrevolte bewertet, läuft insofern ein wenig ins Leere, als sie nicht danach fragt, wieso diese von einem so durchschlagenden und nachhaltigen "Erfolg" gekrönten Manöver in so großen Teilen der Studentenbewegung überhaupt auf fruchtbaren Boden fallen konnten.

Wer sich heute - aus naheliegendsten Gründen, um nur die Stichworte Armut und Hunger, Nahrungs- wie Wassermangel, Umweltzerstörung und die katastrophalen Folgen des sogenannten Klimawandels zu nennen - kritisch-analysierend mit dem alleinherrschenden Kapitalismus befaßt und sich fragt, wie sich dieser ungeachtet all der Ablehnung, Proteste und Widerstände über eine so lange Zeit am Leben erhalten konnte und immer noch kann, wird in diesem knapp 200 Seiten starken Buch auf nicht wenige nachdenklich stimmende Anhaltspunkte stoßen.

Zu Max Horkheimer, dem Haupt der Frankfurter Schule, sagt Wengraf, er habe aus seiner Ablehnung der Studentenrevolte gar keinen Hehl gemacht, wobei sich sein Hass vor allem gegen den radikalen Aktionismus der Studenten gerichtet habe. Seine eigenen Ansprüche, die Gesellschaft zu verändern, habe er längst aufgegeben bzw. habe er das Bürgertum wieder als Avantgarde sehen wollen. In Anspielung auf die damals systemopponente realsozialistische Staatenwelt bezog er einen klar antimarxistischen Standpunkt, wenn er sagt: "Was mich von der Studentenbewegung unterscheidet, ist meine Überzeugung, dass heute eine Revolution im Westen die Gesellschaft nicht verbessern, sondern, indem sie zur Diktatur führen müsste, verschlimmern würde." (S. 87/88)

Dass Horkheimer für den Erhalt der kapitalistischen Klassengesellschaft offen eintrat und gleichwohl als wesentlicher Mentor der 68er Rebellion galt, stellt für Wengraf keinen Anachronismus dar, weil dies "dem ureigensten Charakter der Revolte" (S. 88) entsprochen hätte. Da in der Studentenrevolte die unterschiedlichsten Akteure in Erscheinung traten und von einer geschlossen-homogenen Bewegung nicht die Rede sein konnte, entbehrt der mitunter zwischen den Zeilen leise mitschwingende vorwurfsvolle Unterton, so als hätten die "Frankfurter" die '68er verraten oder irgendwie hinters Licht geführt, eigentlich jeder Grundlage, wiewohl die große Sorge von Staat und Gesellschaft vor einer sich radikalisierenden Bewegung alles andere als unbegründet war.


Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Kleines Heft fand großen Anklang - "Dialektik der Aufklärung" von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1947)
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Aus dem Buch geht aber auch hervor, dass es schon damals vehemente Kritik an der "Kritischen Theorie" gab. Als Beispiel führt Wengraf ein SDS-Flugblatt an, in dem es Ende 1968 hieß:

Die Frankfurter Schule beansprucht kritische Theorie der Gesellschaft zu sein, welche die Gesellschaft als veränderbar darstellt und politisch bewusste Intelligenz ausbildet. Die kritische Theorie der Adorno, Habermas und Friedeburg ist jedoch so kritisch, dass sie der politischen Studentenbewegung bislang nur in den Rücken gefallen ist. (S. 114) 

Der Autor geht noch einen Schritt weiter, indem er deutlich macht, dass sich die von der Frankfurter Schule beeinflussten Studenten im weiteren Verlauf sogar aktiv an der Restauration der kapitalistischen Verhältnisse beteiligten. Gerade mit dem '68er-Image, das kulturell als Synonym für Unangepasstheit, Befreiung und was der schönen Dinge mehr sind, galt, personifizierten die ehemals bewegungsaktiven Studenten ein perfektes "Alibi des autoritären Staates", wie es schon in dem genannten SDS-Flugblatt hieß.

Aus heutiger und damit nachträglicher Sicht ist schwer nachzuvollziehen, dass Horkheimer und Co. überhaupt bei den 68ern landen konnten. Anstatt beispielsweise deren Forderung, die "Kritische Theorie" auch anzuwenden, sprich in politische Praxis überzuführen, ernstzunehmen, ging Horkheimer sogar zum Angriff über, indem er den Vorwurf des Faschismus gegen die Studenten (!) mit Äußerungen wie dieser erhob: "Die Forderung nach Brüderlichkeit, tritt in Formen auf, die aufs peinlichste an die Volksgemeinschaft erinnern." (S. 115) Wengraf zieht aus seinen Ausführungen die Schlussfolgerung, das Denken sei niemals so gleichgeschaltet gewesen wie heute und bewertet dies als eine Folgeerscheinung eines von den '68er Kulturlinken beförderten Gesellschaftsliberalismus.

Bliebe noch Jürgen Habermas zu erwähnen, dem der Autor das dritte und letzte Kapitel gewidmet hat, sah er in ihm doch den "Vollender" dessen, was in der Frankfurter Schule angelegt worden sei. Er habe über die von Horkheimer und Adorno geteilte Kritik an den Studenten hinaus die Bewegung zu einem "sozialdemokratischen Reformpragmatismus, später sogar in Richtung einer nach überallhin offenen Beliebigkeit" geöffnet. Wengraf sieht in ihm den "ideologischen Wegbegleiter des sozialdemokratischen Erfolgruns der 1970er und teilweise 1980er Jahre" (S. 182), der entscheidend zur Niederlage des Realsozialismus beigetragen habe.


Foto: Stiftung Haus der Geschichte, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

Polizeieinsatz gegen rebellierende Studenten in West-Berlin
Foto: Stiftung Haus der Geschichte, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

Im Gegensatz zu Wortführern der Studentenrevolte wie Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl, die auf ein Zusammengehen der rebellierenden Studenten mit streikenden Arbeitenden zwecks gemeinsamer revolutionärer Praxis insistierten, betrieben die Wortführer der "Kritischen Theorie" das genaue Gegenteil. Habermas beispielsweise habe in einer seiner sechs Thesen gegen (!) den SDS der Überzeugung widersprochen, den "nach wie vor bestehenden Gegensatz sozioökonomischer Klassen auch heute noch zu einem politischen Konflikt" entfachen zu können, eine darauf abstellende "verhängnisvolle Strategie" bezeichnete er als "illusionäre Beschwörung der Einheit von Studenten und Arbeiterschaft". (S. 147)

Um den Habermas'schen Antimarxismus als menschenverachtend und eines vermeintlichen Befreiungsphilosophen unwürdig zu bewerten, spielt es keine Rolle, ob interessierte Leser marxistischen Auffassungen nahe stehen oder nicht. Der Marx'sche Ansatz, im Proletariat den Akteur der Revolution zu sehen, sei, so Habermas, von vornherein falsch gewesen, weil nicht einzusehen sei, "wie man von den entfremdetsten und verkrüppeltsten Individuen der kapitalistischen Gesellschaft die Verwirklichung von Humanität erwarten könne". (S. 160) Habermas habe den Standpunkt vertreten, es sei Aufgabe der Studentenbewegung, einen mangelhaften Kapitalismus in einen weniger mangelhaften überzuführen, jede darüber hinaus gehende Radikalisierung jedoch strikt zu bekämpfen. Wer wollte Wengraf widersprechen, wenn er sagt, Habermas leiste hier offenbar Arbeit im Interesse der Herrschenden? An Stellen wie diesen haben die vermeintlichen "Väter" der Studentenrevolte Gründe genug geliefert für die Bewertung des Frankfurter Instituts als einer "Schule der Kapitulation".

7. März 2022

Michael Wengraf
Die Schule der Kapitulation
"Kritische Theorie" und Studentenbewegung 1968
Mangroven Verlag, Kassel, 2021
203 Seiten
ISBN 9783946946274


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 172 vom 12. März 2022


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