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REZENSION/695: Fritz Edlinger (Hg.) - Palästina - Hundert Jahre leere Versprechen (SB)


Fritz Edlinger (Hg.)


Palästina - Hundert Jahre leere Versprechen

Geschichte eines Weltkonflikts



Mit vielen Versprechen - nicht zuletzt "Make America Great Again" (MAGA) - ist Donald Trump im November 2016 zum US-Präsidenten gewählt worden und im Januar 2017 aus seinem protzigen Wolkenkratzer Trump Tower in Manhattan nach Washington ins Weiße Haus umgezogen. Die mit Abstand plumpste Ankündigung Trumps im Wahlkampf war nicht der Bau einer Mauer entlang der Grenze zu Mexiko, um lateinamerikanische Migranten an der Einwanderung zu hindern, und auch nicht das Flottmachen der amerikanischen Volkswirtschaft, wenngleich es sich in beiden Fällen um wahre Herkulesaufgaben handelt. Nein, die Auszeichnung für die dreisteste Wahlkampflüge, den größten Humbug aus dem Munde des New Yorker Immobilienmagnaten mit Mafiaverbindungen gebührt der Behauptung, er werde als US-Präsident mit einem "ultimativen Deal" den Nahostkonflikt lösen, Israelis und Palästinenser so miteinander versöhnen, daß sie künftig in Harmonie friedlich zusammenleben könnten.

Von einer gleichwertigen Berücksichtigung israelischer und palästinensischer Interessen war im Dezember 2017 nichts zu bemerken, als Trump auf Drängen Benjamin Netanjahus die Entscheidung traf, die US-Botschaft von Tel Aviv in das besetzte Ostjerusalem zu verlegen. Die Palästinenser fühlten sich verraten. Seitdem herrscht Funkstille zwischen Washington und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah. Berichten zufolge weigert sich wegen der Parteilichkeit der USA für Israel der palästinensische Präsident Mahmud Abbas, den Brief, in dem Trump angeblich seine "Vision" für den Nahen Osten entwirft, auch nur anzunehmen, geschweige denn zu lesen. Und so kam es, wie es kommen mußte. Als am 14. Mai - rechtzeitig zum siebzigjährigen Jubiläum der Staatsgründung Israels - der US-Botschafter David Friedman seinen neuen Amtssitz in Jerusalem in Anwesenheit von Netanjahu samt Gattin Sarah, Trump-Tochter Ivanka und Ehemann Jared Kushner, der nicht zufällig US-Sonderbeauftragter für den Nahen Osten ist, sowie des Kasinokönigs Sheldon Adelson aus Las Vegas eröffnete, kam es am Grenzzaun zum Gazastreifen zu Massenprotesten, auf die israelische Streitkräfte mit brutalster Waffengewalt reagierten. Im Kugelhagel fielen 60 palästinensische Zivilisten. Weitere 2700 wurden verletzt, viele von ihnen durch den Einsatz von Dum-Dum-Geschossen bei Beinschüssen gezielt zu Krüppeln gemacht.

Die Ereignisse an diesem schwarzen Tag sind nur der jüngste Höhepunkt einer traurigen Geschichte, die mit der Balfour-Deklaration, dem am 2. November 1917 abgegebenen Bekenntnis Großbritanniens zum Ziel der Gründung einer "nationalen Heimstätte für das jüdische Volk" in Palästina, ihren Lauf genommen hat. Die Deklaration war in einem Brief an die Führung der Zionistischen Weltorganisation enthalten, deren propagandistische Unterstützung im Ersten Weltkrieg - vor allem in den USA - London im Gegenzug erwartete und auch bekommen sollte. In dem Brief des damaligen britischen Außenministers Arthur Balfour an Lord Rotschild war davon die Rede, daß es zu "keiner Beeinträchtigung der zivilen und religiösen Rechte der vorhandenen nicht-jüdischen Gemeinden in Palästina" kommen sollte - eine Formulierung, die, wie die Geschichte zeigen sollte, ausschließlich Alibifunktion hatte.

In dem 208seitigen Buch "Palästina - Hundert Jahre leere Versprechen" des Promedia-Verlags, herausgegeben von Fritz Edlinger, beleuchten verschiedene Experten maßgebliche Aspekte des perfiden Umgangs der westlichen Großmächte, allen voran Großbritannien und die USA, sowie der Zionisten, ab 1948 hauptsächlich, aber nicht nur in Form des israelischen Staats, mit den Palästinensern, deren Rechte bis heute mit Füßen getreten werden. Die Islamwissenschaftlerin Petra Wild setzt sich mit den "Anfänge(n) des Zionismus", das heißt "Vom Baseler Kongreß 1897 bis zur Balfour-Deklaration 1917" auseinander. In einem weiteren Kapitel schildert sie die "schleichende Annexion" des Westjordanlands und Gazastreifens durch die jüdische Siedlerbewegung, zu deren finanziellen Förderern in den USA die bereits erwähnten Friedman, Kushner und Adelson gehören.

Der Brasilianer Roger Heacock, der jahrelang als Geschichtsprofessor an der Birzeit-Universität (BZU) in Ramallah tätig war, erklärt die Gründe für den Ausbruch der verschiedenen Intifadas und führt diese auf die Weigerung der palästinensischen Jugend zurück, sich mit der israelischen Dauerunterdrückung abzufinden. Unter der Überschrift "Zwei gegensätzliche Versionen von Zivilgesellschaft" erläutert Tariq Dhana, der ebenfalls an der BZU Politikwissenschaft lehrt, wie im Zuge der Osloer Verträge mit Hilfe diverser meist aus dem Ausland finanzierter Nicht-Regierungsorganisationen der nationale Befreiungskampf der Palästinenser zugunsten einer Friedenssicherung zum Nutzen vor allem Israels aufgegeben wurde. Aus der Nation wurde eine in all ihre Gruppierungen auseinanderzudividierende Zivilgesellschaft.

Die im britischen Manchester geborene Makroökonomin Nur Arafeh untersucht "50 Jahre koloniales Wirtschaftsverhältnis" zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten, beschreibt die Lage im Westjordanland als eine "Bantustanisierung" und beklagt die "Abriegelungsstrategie" der israelischen Behörden, welche die Entstehung einer Nationalökonomie in Palästina, die diesen Namen verdient, unmöglich macht. Der palästinensische Philosoph und Aktivist Omar Barghouti, der 2005 die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions mit ins Leben gerufen hat, zeichnet deren Entstehungsgeschichte und ihren zunehmenden Erfolg weltweit nach. Der aufklärerischer Siegeszug von BDS erklärt die hartnäckigen wie durchsichtigen Bemühungen des israelischen Staats, den Antizionismus als Antisemitismus zu brandmarken.

Der im New Yorker Exil geborene palästinensische Historiker Rashid Khalidi analysiert den "israelisch-amerikanischen Würgegriff" auf das Land seiner Vorfahren. Für Khalili hat die "Innigkeit" der Politik Israels und der USA mit Lyndon B. Johnson begonnen, während dessen Amtszeit sich der Sechstagekrieg und die israelische Eroberung Ostjerusalems, des Westjordanlands und des Gazastreifens ereignete. Khalili stellt in der US-Öffentlichkeit sowie unter Amerikas Juden eine zunehmend kritische Haltung gegenüber der israelischen Besatzungspolitik fest, die das Mitglied des einflußreichen New Yorker Council on Foreign Relations (CFR) mittel- bis langfristig auf positive Veränderungen hoffen läßt. Ähnlich meint der politische Kommentator Ludwig Watzal, durch seine Verteufelung der BDS-Kampagne und seine rücksichtslose Besatzungspolitik delegitimiere sich der Staat Israel selbst.

Der indische Publizist Vijay Prashad untersucht die Rolle Rußlands im Nahen Osten und dessen wechselhaftes Verhältnis zu Israel und den Palästinensern, während der langjährige palästinensische Diplomat Salah Abdel Shafi in seinem Beitrag dafür plädiert, daß die Europäische Union, deren Finanzhilfe die PA und die Wirtschaft der Westbank und Gazas praktisch am Leben hält, im Nahostkonflikt endlich als "Player" mit Vermittlungsfunktion auftritt, statt sich mit der Rolle des "Payer" zu begnügen. Nasser al-Kidwa, ein langjähriges Fatah-Mitglied aus Gaza, der als Politiker und Diplomat sein Leben der palästinensischen Sache gewidmet hat, legt einen Entwurf vor, wie die aktuelle Krise zu überwinden und der "Weg zum Sieg" zu beschreiten wäre. Auch wenn die Lage derzeit für die Palästinenser desaströs ist und auswegslos erscheint, wehrt sich al-Kidwa gegen jede Form von Defätismus und erklärt, daß die "Niederlage" keine "ausgemachte Sache" sei.

Richard Falk, emeritierter Professor für internationales Recht an der renommierten Universität Princeton, den als UN-Sonderberichterstatter die Entrechtung der Palästinenser und der arabischen Bürger Israels immer wieder in Rage versetzt hat, weist en détail nach, warum er von einem "Apartheid-Regime" spricht und weshalb dessen Abschaffung "der einzige Weg zum Frieden" sei. Miko Peled, Menschenrechtsaktivist und Sohn eines israelischen Generals und Kriegshelds, prangert den absolut schäbigen Umgang seiner Landsleute mit den Palästinensern an, verwirft die zionistische Vision eines rein jüdischen Staats als "unrealistisch" und macht sich statt dessen für einen gemeinsamen "demokratischen Staat" stark, in dem Araber und Israelis, Christen, Juden und Muslime die gleichen Rechte genießen.

Aktuell wirbt Jared Kushner für eine Lösung des Nahostkonflikts, die auf einen von Ägypten verwalteten Gazastreifen und einen palästinensischen Duodezstaat, bestehend aus Restteilen des Westjordanlands mit einer Hauptstadt im Ostjerusalemer Vorort Abu Dis, hinausläuft. Gleichzeitig soll das prinzipielle Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge begraben werden. Versüßt wird das Angebot durch das Versprechen auf Finanzhilfe aus den sunnitischen Monarchien am Persischen Golf, die Fabriken und Arbeitsplätze für die Palästinenser schaffen sollen. Doch in Palästina ist die Zeit für leere Versprechen vorbei. Saeb Erekat, der langjährige palästinensische Chefunterhänder, hat Trumps "Deal" bereits für eine Totgeburt erklärt, während auf der Westbank und am Grenzzaun zu Gaza der neue, friedliche Widerstand der Palästinenser an Strahlkraft und moralischer Stärke gewinnt.

30. Juni 2018


Fritz Edlinger (Hg.)
Palästina - Hundert Jahre leere Versprechen
Promedia Verlag, Wien, 2017
208 Seiten
ISBN: 978-3-85371-427-0


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