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REZENSION/694: Novemberrevolution - Wer hat uns verraten ... (SB)


Klaus Gietinger


November 1918

Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts



In dieser Revolution sei auf den Frühling gleich der Herbst gefolgt, schreibt Klaus Gietinger einleitend zu seinem Rückblick auf die sozialrevolutionären Erhebungen der Jahre 1918 und 1919 im kriegserschöpften Deutschland. Verbleibt man im Bild wechselnder Jahreszeiten, dann hat der Winter nicht mehr aufgehört. Zwar haben die Sonnenstrahlen hoffnungsvoller Aufbrüche die Wolkendecke immer wieder durchbrochen, insbesondere in den antikolonialistischen Befreiungskämpfen des Trikont. Auch war der Aufstand der Jugend in den Metropolen Westeuropas und Nordamerikas vor 50 Jahren Ausdruck eines Befreiungsdrangs, der in den Erzählungen der Zeitzeugen nicht umsonst mythisch verklärt wird. Doch die Totalität des kapitalistischen Weltsystems 2018 sorgt dafür, daß die geschichtspolitische These, laut der Fortschritt menschlicher Entwicklung nicht aufzuhalten sei und zu einer allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen führe, schon als bloße Behauptung an der gesellschaftlichen Wirklichkeit scheitert. Was auf den Kommandohöhen der globalen Verwertungsordnung an sozialen Errungenschaften gefeiert wird, bricht an den anwachsenden Problemen sozialer Verelendung, ökologischer Zerstörung und des Zerfalls auch nur nominell demokratischer Partizipationsmöglichkeiten.

So wird auch die Geschichte der revolutionären Entwicklung vom November 1918 bis zum Frühjahr 1920 in Deutschland von den gegen sie gerichteten Interessen der alten Eliten und ihrer Bündnispartner im Bürgertum dominiert. Wie der Sozialhistoriker Karl-Heinz Roth in seinem Vorwort erklärt, scheiterte der "internationale sozialrevolutionäre Aufbruch der Jahre 1917 bis 1921 (...) fast überall am entschlossenen Auftreten der Konterrevolution. (...) Der Winter, der sich in Deutschland zu Beginn der 1920er Jahre wieder ausbreitete, war somit kein Ausnahmephänomen. Und doch gab es ein strukturelles Merkmal, das in allen anderen Szenarien der revolutionären Nachkriegskrise fehlte: das uneingeschränkte Paktieren der deutschen Sozialdemokratie mit der militärischen Konterrevolution und ihre gemeinsame Frontstellung gegen die Unterklassen." (S. 13)

Diese schon 1914 bei der Bewilligung der Kriegskredite im Reichstag etablierte Komplizenschaft der Führungsriege der größten Arbeiterpartei Westeuropas mit Adel, Bourgeoisie und Generalität nimmt Klaus Gietinger, der diese so wichtige wie vergessene Epoche der deutschen Linken bereits seit 30 Jahren erforscht, mit großer Akribie aufs Korn. Anknüpfend an seine Studien "Eine Leiche im Landwehrkanal - Die Ermordung Rosa Luxemburgs" (2008) und "Der Konterrevolutionär - Waldemar Pabst - eine deutsche Karriere" (2009) läßt der Autor den Verlauf dieses revolutionären Zyklus unter Verwendung neuer Forschungsergebnisse mit der Absicht Revue passieren, diese in ihrer Vorgeschichte wie ihren Folgen weit ausgreifende Kulmination sozialen Widerstands anläßlich des Jahrestages dem Vergessen zu entreißen.

Dabei leistet der Autor auch Kritik an Deutungen, mit denen die in den Weltkrieg führenden Interessen deutscher Eliten in Staat und Kapital relativiert oder geleugnet werden. Wer das Zustandekommen der konstitutiven Katastrophe des 20. Jahrhunderts damit entschuldigt, daß die wesentlichen Akteure wie "Schlafwandler" gehandelt hätten, will von klassengesellschaftlichen Widersprüchen und der Subjektivität sozialen Widerstandes erst recht nichts wissen. Die diesen Krieg seitens Deutschlands maßgeblich beendende Revolution wird denn auch als Niederschlagung eines vermeintlich bolschewistischen Griffes nach der Macht dargestellt, um keinesfalls etwas davon zu erfahren, daß die für den nachholenden deutschen Imperialismus gestorbenen Soldaten und verhungerten Zivilisten das Potential und den Willen entwickelt hatten, Adel, Bürgertum und Offiziere aus ihren Machtstellungen zu vertreiben.

Wie sehr die Sozialdemokratie darauf eingeschworen war, die trotz tiefer Erschütterung durch den verlorenen Krieg immer noch herrschende Ordnung zu stützen, anstatt sich bei ihrem mit Generalstreik und Massenaufstand bewirkten Sturz auf eine Weise an die Spitze der Revolution zu stellen, die die republikanische Restitution dieser Ordnung und damit ihrer klassengesellschaftlichen Verhältnisse verhindert hätte, ist für das Verständnis der politischen Dynamik, mit der die traditionsreiche SPD bis heute ihren Machterhalt organisiert, von höchster Relevanz. "Die SPD ist die einzige Partei in Deutschland, die keine Belehrung im Kampf gegen Terroristen braucht - egal, ob sie von links oder rechts kommen". (S. 15) In einem dem Text des Buches vorangestellten Zitat, in dem Sigmar Gabriel kurz nach dem G20-Gipfel in Hamburg den sozialdemokratischen Bürgermeister der Stadt gegen Kritik in Schutz nimmt, beruft sich der ehemalige Außenminister ausdrücklich auf die über 150jährige Geschichte der Partei. Daß dieser Bürgermeister für die aggressive Unterdrückung der Gipfelproteste mit dem Amt des Finanzministers belohnt wurde und als solcher das Schäublesche Sparregiment ungebrochen fortführt, darf durchaus als Pointe gelungenen Herrschaftsmanagements verstanden werden.

Das Hintergehen der Revolutionären Obleute, die den Erfolg der Novemberrevolution schon in den großen Streikbewegungen 1916 und 1917 vorbereitet hatten, und das Ausmanövrieren der Arbeiter- und Soldatenräte durch die sozialdemokratische Führung dokumentieren die Kontinuität eines autoritären Denkens, dem die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit als Feigenblatt einer Kommandogewalt dient, der die Unterwerfung der Lohnarbeit unter das Kapital stets ein Kernanliegen war. Gietinger illustriert dies in seinem Fazit mit der heutigen Rolle SPD-geführter Gewerkschaften und von ihren Funktionären besetzter Betriebsräte bei der Durchsetzung eines neoliberalen Workfare-Regimes, das die Produktionskosten des sozialökologisch destruktiven Automobilismus senkt, indem die dafür erforderliche Lohnarbeit mit organisierter Mangelverwaltung nach Hartz 4 rationalisiert wird.

Mit welcher Intriganz und Hinterzimmerpolitik die Funktionäre der Mehrheitssozialdemokratie das basisdemokratische Ansinnen der Revolution unterliefen, um an jene Verhältnisse anzuknüpfen, für die sie sich während des Krieges als Zuträger der Monarchie und Generalität verwendeten, wird in seinem Buch ausführlich analysiert. Das Bündnis mit Oberster Heeresleitung (OHL) und den Freikorps, die dem NS-Regime den Weg bahnten, war dem Parteivorsitzenden Friedrich Ebert und dem für das Militär der neuen Republik zuständigen Gustav Noske weit wichtiger als das Anliegen der revolutionären Arbeiterschaft, eine sozialistische Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu schaffen.

Wo führende Sozialdemokraten eingedenk der eigenen Unterdrückung im Kaiserreich prinzipiell Position gegen jegliche Form militärischer Gewaltanwendung bezogen hatten, redeten sie nun der Gewalt als Abwehr von Gewalt das Wort. Wo die Mittel des repressiven Kaiserreiches, das der Arbeiterpartei SPD das Gesinnungsstrafrecht nach Paragraph 129 auf den Leib geschneidert hatte, als Klassenjustiz abgelehnt wurden, bediente man sich selbst politischer Willkür. Dies allerdings in einem Ausmaß, bei dem nicht einmal die Rechtsprinzipien des gegen Deserteure und Aufständische angewendeten Standrechtes zur Geltung gelangten. Die von Ebert, der die soziale Revolution erklärtermaßen "wie die Sünde" haßte, und von Noske, der staatspolitische Verantwortung übernahm, indem er den "Bluthund" gab, verfügte Niederschlagung der zweiten revolutionären Welle in den ersten Monaten des Jahres 1919 warf als "Gründungsmassaker" der Weimarer Republik, so der irische Historiker Mark Jones, die schwarzen Schatten der kommenden Katastrophe düster voraus.

Daß diese nicht schon früher eintrat, war auch ein Ergebnis des von den Reichsbürgern und anderen Revisionisten bis heute als "Diktatfrieden" oder "Schandvertrag" geschimpften Friedensschlusses von Versailles. Der Sozialwissenschaftler Gietinger erinnert daran, daß ohne diesen im Ergebnis der Weigerung, im Januar 1918 auf ein Friedensangebot des US-Präsidenten Woodrow Wilson einzugehen, das dem Reich keine Verluste beschert hätte, zustandegekommenen Vertrag "ein autoritäres, militarisiertes, ja faschisiertes Deutschland mit einer Million Waffenträgern, kasernierter Polizei (Sipo), Einwohnerwehren, Zeitfreiwilligenverbänden, Technischer Nothilfe, Wehrbauern (Freiwilligendank), die alle den Segen der Arbeiterbürokratie gehabt hätten, (...) schon viel früher entstanden" (S. 188) wäre.

Heute, da die Rechte wieder marschiert und den Gleichschritt mit dem autoritären Sicherheitsstaat probt, da die Regulation der kapitalistischen Krisenkonkurrenz nach der Unterwerfung nicht nur der Arbeit, sondern des Lebens in all seinen Erscheinungsformen unter den Verwertungsprimat verlangt, bedarf die Konterrevolution keiner manifesten Aufstände mehr, um die Handlungsfreiheit jedes Menschen zu bedrohen. Der inzwischen weitverbreitete und tiefverwurzelte Glaube, es gebe keine Alternative zu den herrschenden Verhältnissen, hat den sozialen Widerstand in den westlichen Metropolengesellschaften auf sozialreformerische Bescheidenheit zugeschnitten, wenn er nicht ohnehin dem Rassismus antimigrantischer Feindbildproduktion verfallen ist. Ist der Rollback der emanzipatorischen Errungenschaften der zeitlich nur halb so weit entfernten 1968er-Bewegung bereits Ergebnis einer umfänglichen sozialen Amnesie, dann hat die geschichtspolitische Verteidigung des Status quo gegen die Lehren aus früheren Formen sozialen Aufbegehrens erst recht leichtes Spiel.

Um so wertvoller sind Bemühungen, das Wissen um ein gerade mal 100 Jahre zurückliegendes Ereignis von jener Art zu reaktivieren, dem im Kanon der auf große Persönlichkeiten und noch größere Geister geeichten Geschichtswissenschaften keine Wirkmächtigkeit zugeschrieben wird, weil das Gespenst der sozialen Revolution noch nicht vollends ausgetrieben wurde. Die in "November 1918" ausgeführten Strategien zur Befriedung eines sozialrevolutionären Aufbruchs haben an Aktualität nichts eingebüßt. Da die Partei, in deren Namen sie nach wie vor vollzogen werden, bei allem Niedergang noch gebraucht zu werden scheint, können Autonomie und Selbstorganisierung revolutionärer Subjektivität nicht vollends verschwunden sein.

28. Mai 2018


Klaus Gietinger
November 1918
Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts
Edition Nautilus, Hamburg 2018
272 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3-96054-075-5


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