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REZENSION/669: Rainer Fischbach - Die schöne Utopie (SB)


Rainer Fischbach


Die schöne Utopie

Paul Mason, der Postkapitalismus und der Traum vom grenzenlosen Überfluss



Eigentlich sollten die hoffnungsfrohen Mythen der Informationstechnologie durch den wenig erfreulichen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung hinreichend widerlegt sein. Konnte die Idee eines Zuwachses an demokratischer Partizipation und selbstbestimmter Kommunikation durch allseits verfügbare informationstechnische Systeme in den 1990er Jahren noch eine gewisse Glaubwürdigkeit entfachen, so läßt die Zurichtung des Menschen auf für kommerzielle wie administrative Ziele umfassend bewirtschaftbare Datensätze eher den dystopischen Entwurf totaler Kontrollgewalt erkennen. Der noch weitgehend freie Zugang zu den Wissensressourcen in Datenbanken und Informationsmedien mag die individuelle Handlungsfähigkeit vergrößert haben, macht den Menschen aber auch zum Adressaten ökonomischer wie ideologischer Zwecksetzungen, die der Autonomie seines Denkens nicht unbedingt förderlich sind, wenn sie mit der Durchsetzung hierarisch organisierter Formen der Fremdbestimmung einhergehen. Die Freisetzung produktiver Energien durch die umfassende Vernetzung seines Lebens wird denn auch mit einer Effizienz in die Verwertung seiner Arbeitskraft und seiner kulturellen Interessen eingespeist, die bislang auf Fabrik und Verwaltung beschränkte Rationalisierungskonzepte verallgemeinert und übererfüllt.

Gerade weil die avancierte Kritik an der sogenannten Informationsgesellschaft und dem digitalen Kapitalismus zunimmt, besteht Bedarf an der Fortschreibung der Erzählung einer an und für sich neutralen Technologie, die sich unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zum Positiven einer von Arbeitszwang und Existenznot befreiten Zukunft wenden ließe. Zu den herausragenden Stichwortgebern einer solchen als postkapitalistisch ausgewiesenen Utopie gehört der britische Journalist, Ökonom und Berater des Labour-Chefs Jeremy Corbyn, Paul Mason. Sein 2015 auf englisch veröffentlichtes Buch "PostCapitalism: A Guide to Our Future" erschien 2016 unter dem Titel "Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie" in deutscher Sprache und wurde auch hierzulande mit einiger Begeisterung als Antwort auf die nicht enden wollende Misere des Krisenkapitalismus rezipiert.

Seine zentrale These einer durch die prinzipiell unendliche Vervielfältigung digitalisierter Produkte wie der allgemeinen Automatisierung der Produktion bewirkten Tendenz zur Bereitstellung kostenloser Güter und der Schaffung einer an der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse orientierten Gesellschaft hat der Informatiker Rainer Fischbach in dem Buch "Die schöne Utopie" auf ihre Stichhaltigkeit hin untersucht. Dies tut er nicht, um der Bewältigung kapitalismusimmanenter Widersprüche Steine in den Weg zu legen, sondern gerade weil der engagierte Streit um die Frage, wie wir leben und arbeiten wollen, dringend erforderlich ist: "Das Verlangen nach einer menschlichen Zukunft jenseits der ökonomischen und sozialen Zwänge, denen das Leben der Mehrzahl heute unterliegt, nach einer Zukunft, deren materielle Basis sich nicht mit der bedrohlichen Perspektive einer Verwüstung des Planeten verbindet, ist zu berechtigt und zu wichtig, um es nachlässigem, ungenauem Denken zu überlassen - dies um so mehr, als Masons Text als paradigmatisch für eine an Umfang zunehmende Strömung gelten kann" (S. 8). Gemeint ist das Versprechen der sogenannten Kalifornischen Ideologie, deren Behauptung, die gesellschaftliche Wirklichkeit ließe sich durch die Vernetzung von allem und jedem nicht nur optimal organisieren, sondern auch ihrer materiellen Notwendigkeiten entheben, er ideengeschichtlich auf die "leibfeindliche Weltsicht des Puritanismus" (S. 9) zurückführt.

Fischbach nimmt das vielbeachtete Werk Masons zum Anlaß einer exemplarischen Auseinandersetzung mit der ideologischen Überhöhung der Informationstechnik zum Universalschlüssel für Menschheitsprobleme, die auf egalitäre Weise zu bewältigen gar nicht auf der Agenda derjenigen steht, die den Fluchtpunkt transhumanistischer Lebensverlängerung und Dematerialisierung schon aus ganz praktischen Gründen nur mit Hilfe der fortgesetzten Ausbeutung von Mensch und Natur erreichen könnten. Nicht, daß Mason offen den protokapitalistischen Visonen milliardenschwerer IT-Unternehmer das Wort redete, ganz im Gegenteil. Deren Versuch, Kontrolle über die inflationären Tendenzen unbeschränkten Kopierens digitalisierter Inhalte durch den Ausbau legalistischer und monopolistischer Verfügungsgewalt zu behalten, steht seiner Idee einer durch informationstechnische Systeme ermöglichten kooperativen Allmende im Weg.

Eine solche allerdings auf dem Weg der technischen Ermächtigung durch vermeintlich zu befreiende Informationsmaschinen zu verwirklichen reproduziert das Fantasma einer angeblichen Immaterialität digitaler Prozesse, deren ökonomische wie stoffliche Voraussetzungen wenn nicht unterschlagen, dann zu gering geschätzt werden. So weist ihm Fischbach, als professioneller Software-Experte und Industrieberater mit der Anwendung informationstechnischer Steuerungssysteme auf Produktionsprozesse gut vertraut, nach, daß das Kopieren von Dateien mittels Copy & Paste nicht ohne weiteres auf maschinelle Fertigungsverfahren übertragbar ist und eine informationstechnisch induzierte Steigerung der Arbeitsproduktivität bislang eher auf gegenteilige Weise, in Form stagnierender oder sogar fallender Produktivität in den Industrieländern, manifest wird.

Wie sehr Mason dem Glaubenspostulat der Kalifornischen Ideologie einer durch die umfassende Auswertung von Daten, wie sie im Internet der Dinge akkumuliert werden, optimal regulierten Gesellschaft verfällt, zeigt er bei der Gegenüberstellung von Markt- und Planwirtschaft. Erstere könne sich in "Echtzeit" korrigieren, letztere bedürfe dazu länger, so seine Anleihe an die populäre Behauptung von der selbstregulativen Kraft des Marktes, die durch administrative Eingriffe nur verzerrt und in die Irre geleitet werde. Dabei wird die unterstellte Existenz stets rational agierender Marktsubjekte selbst in den hegemonialen Wirtschaftswissenschaften kaum mehr vertreten, und jede industrielle Produktion bedarf, woran Fischbach wiederholt erinnert, zahlreicher Voraussetzungen, an denen die simple Vorstellung datengetriebener Selbstregulation scheitert.

Wenn Mason "glaubt, in der Kombination der Simulationsmethoden, die heute in vielen technischen Disziplinen Planung und Konstruktion unterstützen, mit einem anschwellenden Datenstrom aus dem Internet der Dinge eine Formel für die gesellschaftliche und ökonomische Steuerung von der Mikro- bis zur Makroebene gefunden zu haben" (S. 21), dann redet er zudem einer invasiven Durchdringung aller individuellen und gesellschaftlichen Produktions- und Tauschprozesse von höchst prekärer herrschaftstechnischer Konsequenz das Wort. Sein Entwurf einer Gesellschaft, die einer gigantischen physikalischen Informationsmaschine gleiche und dadurch eine erhebliche Effizienzsteigerung beim Ressourcenverbrauch bewirke, wird auch durch den Anspruch dezentraler Kontrolle nicht weniger bedrohlich für die Freiheit des einzelnen. Fischbach hält dem entgegen, daß "die physische Struktur des Internet weitaus stärker zentralisiert" (S.107) sei als allgemein angenommen und daß sich alle "planungs- und steuerungsrelevanten Daten zum Absatz einzelner Produkte und Produktkategorien, zum Einsatz von Arbeit, Maschinen, Werkzeugen, Energie, Rohstoffen und Halbzeugen ebenso wie zur Nutzung von Infrastruktur (...) heute aktuell und präzise an der Quelle, d. h. in der Industrie, beim Handel und an den Anlagen der Infrastruktur erheben" (S. 106) ließen.

Mit der begeistert beworbenen Anhäufung und Verwertung individueller Verhaltens- und Verbrauchsdaten stimmt Mason in den Chor derjenigen ein, die eine informationstechnisch optimierte Vergesellschaftung propagieren und damit dem Menschen die Fähigkeit absprechen, auf selbstbestimmte und selbstorganisierte Weise zu leben. Was auch immer bemessen und in Handlungsanweisungen umgemünzt werden soll - ökologischer Fußabdruck, Kalorienverbrauch und Genußmittelkonsum, physiologische Meßwerte aller Art, kulturelle Vorlieben -, schafft die Voraussetzung zur Unterwerfung des Menschen unter die Totalverwaltung seines Lebens durch Normen, auf deren Setzung er bestenfalls bedingt Einfluß nehmen kann. Gegen Masons Behauptung, diese Entwicklung ließe sich demokratisch kontrollieren, sprechen der Primat utilitaristischer Anpassungsimperative, gegen die auch eine sozialistische Gesellschaft nicht gefeit ist, ebenso wie die vielen angeblichen Sachzwänge, die die krisenhafte Entwicklung sozialökologischer Verhältnisse hervorbringt. Dabei haben informationstechnische Anwendungen durchaus die Eigenschaft, Arbeit, Rohstoffe und Strom zu verbrauchen. Ihre Überhöhung zur universellen Antwort auf Ressourcen- und Verteilungsprobleme schreibt diese nicht nur fort, sondern täuscht darüber hinweg, daß die technologische Entwicklung sozialstrategischer Herrschaftsmittel den exklusiven Zugriff weniger Menschen auf knappe Lebensmittel zu Lasten aller anderen sicherstellt.

Der leichtfertige Umgang mit der Regulationsoffensive, die die gesellschaftsweite Durchsetzung von Smart Technologies und dem Internet of Things in jedem Fall darstellt, fußt auf Masons bedenkenloser Affirmation, mit der er die Informationstechnologie zu einem progressiven Motor der Geschichte macht und von den ihr impliziten Imperativen materieller Verfügungsgewalt entkoppelt. Die völlige Ignoranz, die Mason gegenüber gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen und Machtfragen an den Tag legt, ist vielleicht der stärkste Beleg für seine Nähe zur Kalifornischen Ideologie, in der neoliberales Unternehmertum, technokratischer Sozialdarwinismus und die hochgradige Bereitschaft, den materiellen Problemen körperlicher Existenz durch die Flucht in metaphysische Spekulationen zu entkommen, in eins fallen.

Das zeigt sich auch in dem "Grenzkosten-Fehlschluss" (S. 34), den ihm Fischbach anhand seiner Behauptung, die Vervielfältigung von Informationen bewirke gegen Null tendierende Produktionskosten, detailliert nachweist. Schon Masons Hinwendung zur Grenznutzentheorie, die den Glauben an das Geld als Zahlungsmittel, das nur per Kredit in die Welt gesetzt werden muß, um ökonomischen Nutzen zu entfalten, verabsolutiert, während sie von der Wertproduktion durch Arbeit und der stofflichen Problematik industrieller Produktion abhebt, stellt eine Ausflucht in angebliche Automatismen marktwirtschaftlicher Selbstregulation dar. Masons These einer technisch bedingten Wertschöpfung aus dem Nichts, die an den vor Krisenbeginn 2007/2008 verbreiteten Glauben an eine quasi durch Luftbuchungen bewirkte unendliche Kapitalakkumulation gemahnt, hält Fischbach unter anderem entgegen: "Kosten und Grenzkosten sind nicht identisch. Selbst bei stark sinkenden Grenzkosten müssen die Stückkosten eine Umlage für die Fixkosten enthalten, die auch bei digitalen Produkten recht hoch sein können. Insbesondere bleibt die Herstellung immaterieller Produkte wie Software, Literatur, Musik etc. mit signifikanten Kosten verbunden, die sich durch Digitalisierung nicht entscheidend absenken lassen, und nicht zuletzt stößt die Kostendegression durch geringe bzw. sinkende Grenzkosten mit wachsendem Output in Gestalt der Kapazität und der Lebensdauer der Anlagen an Grenzen, jenseits derer die Kosten rapide ansteigen, sobald Kapazitätserweiterungen bzw. ein Ersatz der Anlagen anfällt" (S. 13).

In seiner - man kann es durchaus so sagen - Abrechnung mit dem Zukunftsentwurf Paul Masons spart Fischbach nicht an Ironie und Polemik. Wo dieser in die luftigen Höhen einer Abstraktion aufsteigt, die nach Möglichkeit jede Spur auslöscht, die zum Desiderat der lebenspraktischen und gesellschaftlich nutzbaren Materialität seiner Thesen führte, holt Fischbach ihn zurück auf den Boden eben dieser und weist ihm nach, daß er keine Rechenschaft über die stofflichen und physikalischen Voraussetzungen seiner Utopie ablegt. Dies ist höchst produktiv auch deshalb, weil die von Mason gepflegten Mythen auch als handfeste Argumente zur Durchsetzung einer Arbeitsgesellschaft Verwendung finden, die die Menschen in zusehends prekäre und entsicherte Verhältnisse überführt. Vor der Verführungskraft einer vermeintlichen Immaterialität, in der wie von selbst zentrale gesellschaftliche Fragen gelöst werden, ist auch eine Linke nicht gefeit, die es bis heute nicht geschafft hat, kapitalistischen Innovations- und Wachstumspostulaten herrschaftskritische Positionen entgegenzustellen. Die Widerlegung der Thesen Masons bietet Anhaltspunkte dafür. So macht die Verwechslung der physischen Zustände digitaler Maschinen mit den aus ihnen herausgelesenen Informationen vergessen, daß der Mensch erst durch sein geschichtliches Werden und autonomes Handeln zu Fragen gelangt, die über den Zirkelschluß bloßen Zählens und Teilens hinausführen.

10. April 2017


Rainer Fischbach
Die schöne Utopie
Paul Mason, der Postkapitalismus und der Traum vom grenzenlosen Überfluss
Papyrossa Verlag, Köln 2017
140 Seiten, 12,90 Euro
ISBN 978-3-89438-630-6


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