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REZENSION/668: Ali Cem Deniz - Die neue Türkei (SB)


Ali Cem Deniz


Yeni Türkiye - Die neue Türkei

Von Atatürk bis Erdogan



Der seit der Ausrufung der türkischen Republik im Jahre 1923 immer wieder neu entfachte und in seinen Ausdrucksformen wandlungsfähige alte Konflikt zwischen Modernisten und Traditionalisten, Verfechtern eines säkularen Staatswesens und islamisch-konservativen Kräften scheint in Recep Tayyip Erdogan seinen historischen Kulminationspunkt gefunden zu haben. Ob es in der Person des amtierenden Staatspräsidenten tatsächlich zu einem unumkehrbaren Bruch mit den kemalistischen Prinzipien von Laizismus, Nationalismus und Republikanismus und damit zu einer späten Abrechnung mit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk kommt, hängt nicht unwesentlich vom Demokratieverständnis der Regierungspartei AKP ab. Sicher ist nur, daß Erdogan, sollte er mit dem Verfassungsreferendum am 16. April die erweiterten Vollmachten eines Präsidialsystems erhalten, die Türkei in eine konfliktreiche Zukunft führen wird. Schon jetzt polarisiert Erdogan die eigene Bevölkerung bis zur Zerreißprobe.

Mit seinen Anwürfen gegen europäische Politiker und Regierungschefs, denen er Nazi-Methoden unterstellte, weil sie Wahlkampagnen der AKP teils beschränkt oder ganz verboten hatten, hat sich Erdogan weit über übliche diplomatische Verstimmungen hinaus in eine außenpolitische Sackgasse manövriert. Nicht nur, daß eine EU-Mitgliedschaft wohl endgültig vom Tisch sein dürfte, auch die bilateralen Beziehungen mit der Staatenwelt Europas und der EU insgesamt haben einen Tiefpunkt in der Geschichte der Türkei erreicht. Während zehntausende AKP-Anhänger in einem Fahnenmeer in Rot dem türkischen Staatspräsidenten bei öffentlichen Auftritten zujubeln, wird Erdogan auf internationalem Parkett wegen seines autoritären Regierungsstils aufs heftigste kritisiert und in die Nähe eines Diktators gerückt. Aus Sicht des Westens hat die Türkei mit den Säuberungs- und Verhaftungswellen in den staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016, denen zigtausende Gefolgsleute des Islampredigers Fethullah Gülen ebenso zum Opfer fielen wie viele regierungskritische Oppositionelle, als auch mit der Inhaftierung des WeltN24-Korrespondenten Deniz Yücel, die in der BRD als Willkürakt ersten Ranges gewertet wird, die Fundamente der Rechtstaatlichkeit komplett niedergerissen.

Ali Cem Deniz begibt sich in seinem Buch "Die neue Türkei - Von Atatürk bis Erdogan" auf die Suche nach den Wurzeln eines Konflikts, dessen frühe Konturen und erste Verwerfungen sich lange vor der Gründung der türkischen Republik in den Endwehen des Osmanischen Reichs abzeichneten. Bis heute bestimmt diese Entwicklung die Realitäten und Transformationen der türkischen Gesellschaft. Erklärungen für diesen von Anfang an krisenhaften Prozeß anzubieten, erscheint dem Autor schon deshalb unerläßlich, weil die Türkei in der Wahrnehmung des Westens als Land zwischen West und Ost, zwischen Religion und Säkularismus, zwischen Aufbruch und Stagnation mit Klischees überzogen wird, "die genau so viel verschleiern, wie sie scheinbar erklären" (S. 8). Ohne ein tieferes Verständnis für die historischen Hintergründe und Widersprüche innerhalb der türkischen Politik läßt sich die Kontinuität jenes unbewältigten Konflikts laut Deniz nicht nachvollziehen.

In der Sache kurz, aber bündig entwirft der Autor die wechselvolle Geschichte politischer Machtkämpfe mit dem Militär als einzig konstanter Größe. Die Generäle schlugen Aufstände blutig nieder und griffen immer dann ins politische Geschehen ein, wenn Parteien mit islamischem Kurs die Führung des Staates an sich rissen bzw. bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Gruppen die gesellschaftliche Ordnung gefährdeten. So zeigt der Autor auf, daß die junge Republik, indem sie den Kemalismus als Staatsideologie auch auf das Feld der Identitäts- und Minderheitenpolitik übertrug, nicht nur ethnische Widerstände, sondern aufgrund der laizistischen Doktrin auch das Erwachen neuer religiöser Gegenkräfte heraufbeschwor. Dazu gehörte unter anderem die Bewegung des kurdischen Religionsgelehrten Said Nursi, von der sich Gülens stark auf das Türkentum eingeschworener anatolischer Islam abspaltete. Dieser legte seine Präferenzen auf Bildung und gesellschaftlichen Aufstieg, aber Gülen sympathisierte als erklärter Antikommunist auch mit rechten oder ultranationalistischen Ideologien.

Mit der Gründung der PKK stellte sich nach langer Unterdrückung und Assimilationspolitik wieder die kurdische Frage, die mit der Niederschlagung des Aufstands von Dersim 1937/38 und dem Verbot der kurdischen Sprache und Kultur auf Jahrzehnte mundtot gemacht wurde, aber in den kurdischen Hochburgen im Südosten der Türkei nie wirklich verstummt war. Während die Kurden die in der Verfassung festgeschriebene "unteilbare Einheit" der Nation bedrohten, stellten islamistische Politiker wie beispielsweise Necmettin Erbakan und seine Wohlfahrtspartei eine Gefahr für den Laizismus dar. Auf beide Herausforderungen fand der kemalistische Staat, der im wesentlichen vom Militär zusammengehalten wurde, keine sinnfällige Antwort. Der Aufstieg Erdogans, der Islam und Neoliberalismus in seiner Politik als einander ergänzende Pole auffaßt, steht dem Autor zufolge in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem politischen Niedergang der CHP. Diese republikanische Partei findet als erste Stimme und Vertreterin des Kemalismus bei der Bevölkerung kaum noch Gehör, weil sie an Positionen festhält, die in ihrer Engstirnigkeit nicht ins 21. Jahrhundert herüberzuretten sind, schlicht deshalb, weil sich die globalen Macht- und Interessenkonzentrationen seit Atatürk radikal verändert haben.

Welchen Kurs die Türkei unter einem machthungrigen Staatsoberhaupt wie Erdogan nehmen wird, bleibt dem Autor zufolge fraglich. Der Generalangriff auf die Gülenisten zeigt indes, daß die neue Türkei mehr noch als alles andere einen Sündenbock für die gesellschaftspolitischen Zerwürfnisse braucht, die das Land am Scheideweg zwischen Europa und Asien zu zerreißen drohen. Der Konflikt zwischen eher westlich orientierten Säkularen und wertkonservativen Islamisten hat von seiner Sprengkraft nichts verloren. Verhandelt werden jedoch in erster Linie nicht neoosmanische Allmachtsphantasien oder die Gültigkeit republikanischer Ideale. Es geht nicht um Diktatur oder Demokratie.

Was für Deniz auf der Kippe steht, betrifft die Existenz einer Nation, die bislang nur überlebt hat, weil sie im geostrategischen Spiel viel größerer Mächte wertvolle Vasallendienste leistete. Diese Funktion zu verlieren, gar als unsicherer Kantonist ins Fadenkreuz zu geraten, ist weitaus gefährlicher als der Ausgang eines Referendums, der möglicherweise die innenpolitischen Machtverhältnisse durcheinanderwirbelt, aber der Türkei weiterhin eine Scheinsouveränität bewahrt. Bei aller sachlichen Chronistenpflicht, die in der Kürze eines Kompendiums zu gewährleisten höchst anerkennenswert ist, hat der Autor offenbar vergessen, daß das Militär in der Geschichte der Türkei immer das letzte Wort gesprochen hat.

5. April 2017


Ali Cem Deniz
Yeni Türkiye - Die neue Türkei
Von Atatürk bis Erdogan
Promedia Verlag, Wien 2016
216 Seiten, 17,90 Euro
ISBN: 978-3-85371-412-6


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