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REZENSION/630: Böhme/Sterzing - Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts (SB)


Jörn Böhme & Christian Sterzing


Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts



Die Entführung dreier Torah-Schüler, des 19jährigen Eyfal Yifrach und seiner 16jährigen Freunde Naftali Frenkel und Gilad Shaar, am 12. Juni bei Hebron hat Israel und Palästina in die schwerste Krise seit Jahren gestürzt. Die israelische Regierung macht die Hamas für die Tat verantwortlich, was die islamische Bewegung bestreitet. Bei der anschließenden wochenlangen Suchaktion im besetzten Westjordanland haben Israels Armee und Polizei sechs Palästinenser getötet, rund 600 Personen verhaftet und Tausende Wohnungen bei Razzien verwüstet. Nach der Entdeckung der Leichen der drei Vermißten am 30. Juni wird der Ruf nach Vergeltung in Israel und den illegalen jüdischen Siedlungen auf der Westbank immer lauter. Die Verschleppung und Ermordung des 16jährigen Palästinensers Mohamed Abu Kdeir in Ostjerusalem am 2. Juli, in der Nacht nach der Trauerfeier für Yifrach, Frenkel und Shaar, wird als Racheakt militanter jüdischer Siedler gedeutet.

In Ostjerusalem und im Westjordanland kommt es seit dem Fund der verbrannten und verstümmelten Leiche Abu Kdeirs zu heftigen Ausschreitungen, während israelische Kampfflugzeuge als Reaktion auf den Raketenbeschuß militanter Palästinenser Luftschläge im Gazastreifen durchführen. In der betroffenen Region sowie im Ausland befürchtet man eine weitere Eskalation der Gewalt. Hintergrund der aktuellen Krise ist das Scheitern der jüngsten Friedensverhandlungen Ende April wegen der Blockadehaltung Israels in bezug auf die Siedlungen und Gefangenen. Daraufhin hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas eine Versöhnung zwischen seiner Fatah, die von Ramallah aus das Westjordanland verwaltet, und der im Gazastreifen regierenden Hamas eingeleitet und die Bildung einer aus parteilosen Technokraten bestehenden Regierung der nationalen Einheit veranlaßt. Weil die Hamas aus Sicht Tel Avivs nach wie vor als "Terrororganisation" gilt, versucht die rechtskonservative Administration von Premierminister Benjamin Netanjahu die palästinensische Einheitsregierung zu Fall zu bringen.

Wie es zu dieser vertrackten, scheinbar ausweglosen Lage kommen konnte, ist Gegenstand von Jörn Böhmes und Christian Sterzings "Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts". Ihre Abhandlung ist zwar nur 142 Seiten lang, bietet aber eine umfassende und gleichzeitig leicht verständliche Einführung in eine Problematik, an der sich die internationale Diplomatie seit rund 100 Jahren die Zähne ausbeißt. Eingedenk des Verbrechens Nazi-Deutschlands an den europäischen Juden geben sich Böhme und Sterzing größte Mühe, beide Seiten des Konfliktes "fair" (S. 10) zu behandeln und die "sich widersprechenden Ansprüche" (S. 8) vorurteilsfrei zu vermitteln. Dies ist ihnen gelungen.

Auch für diejenigen, die seit längerem den Verlauf des sogenannten Nahost-Friedensprozesses verfolgen, liefert die vorliegende Lektüre ungeachtet ihrer Kürze jede Menge Details, die man möglicherweise nicht wußte oder einfach vergessen hat. Die Balfour-Deklaration zum Beispiel, mit der sich der damalige britische Außenminister Arthur Balfour im November 1917 für "die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" aussprach, wurde nicht als offizielle Stellungnahme vor dem Londoner Parlament, sondern in Form eines Briefs an den Bankier Baron Rotschild, damals wichtigster Förderer jüdischer Siedlungen im Heiligen Land und enger Freund von Chaim Weizman, dem Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation, abgegeben. Auf diese Weise sicherte sich Großbritannien die Unterstützung der Zionisten im Ersten Weltkrieg und fiel gleichzeitig den Arabern, mit deren Hilfe just zu diesem Zeitpunkt ein britisches Expeditionskorps die Truppen des Osmanischen Reichs aus Palästina vertrieb, in den Rücken. Schließlich hatte London Hussein ibn Ali, dem Scherifen von Mekka, 1916 die Gründung eines Staates Großarabien zwischen Mittelmeer und Persischem Golf versprochen. Damit hat das Perfide Albion die Saat für den heutigen Konflikt gelegt.

Böhme und Sterzing führen den Leser gekonnt durch die Irrungen und Wirrungen der Nahost-Geschichte. In dem Buch stellen die Gründung Israels und die Nakba der Palästinenser 1948, der Sechstagekrieg 1967, einschließlich der Besetzung Ostjerusalems, des Westjordanlands, des Gazastreifens und der Golanhöhen, der Yom-Kippur-Krieg 1973, das Friedensabkommen zwischen Israel und Ägypten 1978, der Einmarsch Israels in den Libanon 1982, die erste Intifada 1987-1991, der Abschluß der sogenannten Osloer-Verträge zwischen der PLO und israelischen Regierung 1993 und 1995, die Al-Akhsa-Intifada 2000, der Libanon-Krieg 2006 die wichtigsten Meilensteine dar. Die Autoren lassen auch die Entwicklungen in den Nachbarländern wie den Sturz des Schahs und die Islamische Revolution 1979 sowie die beiden Golfkriege 1991 und 2003 nicht unberücksichtigt, sondern zeichnen ihre politischen Auswirkungen auf den Streit zwischen Israelis und Palästinensern nach.

Besonders hervorzuheben ist Böhmes und Sterzings scharfsinnige Analyse des Verlaufs des Nahost-Friedensprozesses bis zum heutigen Tag. Das Scheitern der Verhandlungen von Camp David unter der Aufsicht von Bill Clinton zwischen Ehud Barak und Jassir Arafat Ende 2000 hat in Israel den Glauben aufkommen lassen, daß man auf palästinensischer Seite keinen "Friedenspartner" habe. Wie die Autoren zeigen, beruht jene Annahme auf einer Fehlinterpretation der Ereignisse, mithin auf einer einseitigen Schuldzuweisung Baraks und Clintons an die Adresse des damaligen PLO-Chefs. Nichtsdestotrotz hat die Verbreitung dieser Idee zu einem Rechtsruck in der israelischen Politik beigetragen, der heute noch anhält und Tel Aviv praktisch kompromißunfähig macht.

Heute steht Netanjahu einer Regierung vor, in der ein noch forcierterer Ausbau der jüdischen Siedlungen auf der Westbank und eine Wiederbesetzung des Gazastreifens mittels Militärgewalt fast als einzige Antwort auf die instabile Lage gehandelt werden. In einem Israel, in dem die Friedensbewegung an den Rand gedrängt worden ist und immer mehr Rassisten und Populisten den Ton angeben, scheint die Bevölkerung keinen Blick mehr für die Unverhältnismäßigkeit der Gewaltmaßnahmen zu haben, mit denen der Sicherheitsapparat ihres Staats den Widerstand der Palästinenser zu brechen versucht.

In einem Interview mit dem Nachrichtenkanal des kanadischen Fernsehsenders CTV hat Yishai Frenkel, der Onkel des getöteten Torah-Schülers Naftali Frenkel, in Reaktion auf die Ermordung des jungen Palästinensers Abu Kdeir dem Vergeltungsimpuls mit folgenden Worten eine strikte Absage erteilt: "Das Leben eines Arabers ist genauso teuer wie das eines Juden. Blut ist Blut und Mord ist Mord, ungeachtet dessen, ob der Ermordete Jude oder Araber ist." Nur wenn sich im Nahen Osten diese ethische Einsicht, von der sich auch Böhme und Sterzing haben leiten lassen, durchsetzt, kann es dort ein friedliches Zusammenleben, das Israelis und Palästinensern gleichermaßen zu wünschen wäre, geben.

3. Juli 2014


Jörn Böhme & Christian Sterzing
Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts
Wochenschau Verlag, Schwalbach am Taunus, 2012
142 Seiten
ISBN: 978-3-89974807-9