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REZENSION/594: Achim Rogoss - Wir sind empört! (SB)


Achim Rogoss (Hg.)


Wir sind empört!

Gegen die Zerstörung des Sozialstaates und den Angriff auf unsere Grundrechte



Dieses Buch der Georg-Elser-Initiative Bremen ist weder eine Dokumentation über die Occupy-Bewegung noch ein Report über eine im Entstehen begriffene Bürgererhebung, wie der Titel nahelegen könnte. Es handelt sich um eine Zusammenstellung thematisch sehr unterschiedlicher Artikel, die Zustand, Geschichte und Entwicklungstendenzen der Bundesrepublik Deutschland in Hinsicht auf Sozialstaat [1] und Grundrechte [2] kritisch beleuchten.

Mit seinem der Sammlung vorangestellten, einführenden Artikel, dessen Titel "Aus (welcher) Geschichte lernen? »1932Heute!«" sich auf eine Veranstaltungsreihe im Februar/März 2011 in Bremen bezieht, der auch die Beiträge dieses Buches zum Teil entstammen, erörtert Herausgeber Achim Rogoss zunächst grundlegende Positionen und Konfrontationslinien der Initiative. Diese steht nicht allein für das Gedenken an Georg Elser und an den Widerstand gegen nationalsozialistische Gewaltherrschaft und Ideologie, sondern in umfassenderem Sinne für eine kritische Aufarbeitung derselben. Das betrifft auch personelle und politische Kontinuitäten, die in der Regel weniger im Licht der Öffentlichkeit stehen als wortreiche Distanzierungen wie ein "Nie wieder Auschwitz". Daß mit dem mangelnden personellen Bruch auch grundlegende Strukturen und Denkweisen weitertransportiert wurden und werden sollten, liegt nahe. In diesem Sinne beschränkt sich die Elser-Initiative nicht auf geschichtsanalytische Bewältigungen, sondern mischt sich ein, wo es aus ihrer Sicht geboten erscheint. Während erstere Aktivitäten und Veranstaltungen in der Regel auf Unterstützung und großen Zuspruch von offizieller Seite stießen, sei bei aktualitätsbezogenen, gesellschaftskritischen Veranstaltungen und Diskussionsvorschlägen (Beispiel grundgesetzwidrige Polizeigewalt) eher das Gegenteil der Fall, schildert Rogoss.

Das vorliegende Buch ist ein Teil dieses Engagements und spiegelt zugleich ihren Diskussionsstand sowie die unterschiedlichen Herangehensweisen der an der Initiative Beteiligten und ihres Umfeldes wider. Grob gefaßt gliedert es sich in drei Gruppen von Artikeln: Der historisch-analytische Blick auf die Gegenwart, die aktuelle Entwicklung hinsichtlich der Einschränkungen der Grundrechte und des Sozialabbaus mit Berechnungen und Alternativkonzepten, eine Beleuchtung der Auswirkungen sowie der Lage der jeweils Betroffenen.

Die seit Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 bis heute bereits realisierten Eingriffe in die für den politischen Neuanfang stehenden Grundrechte veranlaßten die Initiatoren des Buches zudem zu einer Reihe grundlegender Fragen und Überlegungen. Wann zum Beispiel seien diese als Schutz der Bürger gegenüber der Staatsgewalt konzipierten Rechte als soweit ausgehöhlt zu betrachten, daß dies als Gefahr für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat anzusehen und Widerstand geboten sei? Wäre es angesichts der Weltwirtschaftskrise und eingedenk der Entwicklungen in der Endzeit der Weimarer Republik denkbar, daß sich die Geschichte wiederholen könnte und "dass wir in einer postfaschistischen und zugleich in einer präfaschistischen Gesellschaft leben könnten?"

Neben der beispielhaft an Hochschulen und DGB-Gewerkschaften höchst detailliert dargelegten "verhinderten Neuordnung" nach 1945 (Jörg Wollenberg) lassen in diesem Sinne Artikel zum Thema 'Angriff auf unsere Grundrechte' wie "Der Feind steht links" von Rüdiger Bahr, der Abriß von Elke Steven zum Thema Sicherheitsgesetze: "Mit Sicherheit gegen Sicherheit und Freiheit" oder Rolf Gössners "Heillos verstrickt. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienste des Staates" kaum an Eindeutigkeit vermissen.

Der Artikel "Wie man aus Opfern Übeltäter macht - Repressionsapparat Hartz IV" ist eine so nüchterne wie anschauliche Darstellung der Folgen der Hartz-IV-Regelungen für die Betroffenen aus der Sicht eines engagierten Sozialberaters und Anwalts. Der Leser erhält Einblick in ein Verwaltungssystem, das weniger der Unterstützung Mittelloser zu dienen scheint als deren gezielter Einschüchterung und Marginalisierung. Wer arbeitslos wird oder ist - kann man uneingeschränkt schließen -, wird zur Abschreckung anderer bestraft oder zum Schuldigen gemacht, der sich zu Lasten aller auf die faule Haut legt. Wer - noch - Arbeit hat, bekommt Angst dazu. Darüber hinaus liegt der Gedanke nahe, es gelte, Arbeitslose auf welche Weise auch immer möglichst aus dem Blickfeld zu halten und still zu verwalten, statt ernstlich den vielleicht zum Scheitern und zu grundlegendem Umdenken 'verurteilten' Versuch zu unternehmen, eine Lösung zu finden. Die anschauliche Schilderung aus der Sicht eines wehrhaften Hartz-IV-Betroffenen "Die Angst vor dem Klappern des Briefkastens - Persönliche Erfahrungen mit der Armut" vertieft diesen Eindruck eines Sanktionssystems zur Unterdrückung arbeitslos und arm-gemachter Menschen. Und Helga Spindlers Artikel "Stunde der Technokraten - zur Einsetzung der Hartz-Kommission" entblättert deren Wirken - ohne das ursprüngliche Ansinnen der Beteiligten zwangsläufig mit den weiteren Entwicklungen gleichzusetzen - als:

...Lehrstück für eine moderne, sozialdemokratische-technokratische Art zu regieren - bzw. zu manipulieren, anspruchsvolle soziale Ziele zu formulieren und in Wirklichkeit auf nichts anderes zu lauern, als das Volk in kurzen 'Zeitfenstern' über den Tisch zu ziehen, bewährte Sicherungssysteme zu zerstören, den Druck über die Arbeitswelt hinaus ins Privatleben und in die Zeit der Arbeitslosigkeit zu verlängern; ein Lehrstück für das Wirken von 'Spindoctoren', Strippenziehern, Sozialtechnikern, die mit wohlklingenden Konzepten bis zum letzten Moment über ihre wahre Strategie täuschen." [S.145]

Die vielleicht nicht zufällig um Helga Spindlers Artikel gruppierten "Beiträge für eine gerechtere Gesellschaft" könnte man als kritische Einwürfe für eine zu führende Diskussion verstehen. Kaum zielführend wäre es, dabei den Anschein zu erwecken, es fehlten lediglich die richtigen Konzepte. Die Menschen, zulasten derer die gesellschaftliche Entwicklung verläuft und ausgetragen wird, werden unter anderem durch die Hartz-IV-Mangelverwaltung in eine Lage gebracht, in denen ihnen kaum der Raum bleibt, sich Fragen einer Gegenwehr zu stellen. Dennoch steht zu vermuten, daß diese Art der Krisenbewältigung 'von oben' eine passende Antwort 'von unten' erhalten wird. Und genau hier verläuft die Linie, an der um eine 'gerechtere Gesellschaft' zu kämpfen wäre. Dieses Buch könnte dazu einen Beitrag leisten. Achim Rogoss dazu in seinem Vorwort:

Gesellschaftliche »Fehlentwicklungen« sind kein Kollateralschaden staatlicher Politik, sondern ihr kalkuliertes Ergebnis. Albrecht Müller zitiert als Zeugen den ehemaligen britischen Notenbanker Sir Alan Budd, »dass unter Thatcher die Arbeitslosigkeit bewusst erzeugt worden ist, um die Arbeiterklasse zu schwächen und hohe Profite zu realisieren. ... Das gleiche Spiel begann bei uns schon in den siebziger Jahren und währt bis heute. ... Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff und sein Hintermann Hans Tietmeyer haben schon im Kabinett Schmidt am gleichen Strang gezogen. Das Lambsdorff-Papier vom September 1982 war dann ... auch ein Dokument, mit dem die Durchsetzung der Politik zur Schwächung der Arbeitnehmerschaft festgeschrieben wurde.«45 Diese Politik diskriminiert und entsolidarisiert, sie macht wütend - doch couragiertes Auftreten dagegen ist eher selten. Deshalb sieht der Staat auch (noch) keinerlei Notwendigkeit politisch einzulenken, wie es Bismarck mit »seiner« Sozialgesetzgebung tat, um einer revolutionären Herstellung von Gerechtigkeit durch das Proletariat vorzubeugen.
45Quelle: http://www.nachdenkseiten.de/?p=9287
[Seite 18]

»1932Heute!« ist durchaus als Warnung zu verstehen vor einem Wiedererstarken von Kräften, die nach 1945 nie ganz entmachtet wurden. Ihr Prinzip reicht allerdings viel weiter und tiefer zurück als die Zeit der Weimarer Republik und Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre. In seiner Vielfältigkeit ist dieses Buch für den Leser eine gute Möglichkeit, sich von den aktuellen gesellschaftlichen Zuspitzungen ein Bild zu machen und in die Debatte einzusteigen.


Fußnoten:

[1] Sozialstaat
Die Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik wird in Artikel 20 Absatz 1 GG festgelegt. Der Sozialstaat ist darauf gerichtet, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit herzustellen und zu erhalten. Der Staat ist mitverantwortlich für den Ausgleich sozialer Unterschiede zwischen den Bürgern und verpflichtet, in sozialen Notlagen Hilfe zu leisten.
http://www.bundestag.de/service/glossar/S/sozialstaat.html
Stand: 13.10.2008

[2] Grundrechte
Grundrechte sind dem Einzelnen zustehende, verfassungsmäßig verbürgte elementare Rechte. Sie gewähren in erster Linie Schutz gegenüber dem staatlichen Eingriff. Daneben strahlen die Grundrechte auf das gesamte Recht aus. Gegen die Verletzung eines Grundrechts durch die öffentliche Gewalt kann jedermann die Verfassungsbeschwerde erheben (Art. 93 I Nr. 4a GG).[2]
http://www.bundestag.de/service/glossar/G/grundrechte.html
Stand: 13.10.2008


28. September 2012


Wir sind empört!
Gegen die Zerstörung des Sozialstaates
und den Angriff auf unsere Grundrechte
Herausgegeben von Achim Rogoss
für die Georg-Elser-Initiative Bremen e. V.
Pahl-Rugenstein Verlag 2012
215 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 978-3-89144-503-7