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REZENSION/515: Huffschmid u. Rauchecker, Hg. - Kontinent der Befreiung? (Lateinamerika) (SB)


Anne Huffschmid und Markus Rauchecker (Hg.)


Kontinent der Befreiung?

Auf Spurensuche nach 1968 in Lateinamerika



In den Staaten Süd- und Zentralamerikas wird der Kampf um Befreiung und Dekolonialisierung, nationale Unabhängigkeit wie auch partnerschaftliche Kooperation in politischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht kontinentweit in erster Linie mit dem Namen Símon Bolívar in Verbindung gebracht. Nicht von ungefähr nehmen die Protagonisten der Linksentwicklung, die auf dem gesamten Kontinent in einem Maße voranschreitet, das in den Hauptstädten der ehemaligen Kolonialmächte bereits mehr als nur Kopfzerbrechen hervorgerufen haben dürfte, Bezug auf Bolívar, den Befreier, so etwa die 2004 von Kuba und Venezuela gegründete "Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerikas" (ALBA), ein Bündnis, dem neben den Gründerstaaten auch Bolivien, Antigua und Barbuda, Dominica, Ecuador, Nicaragua, San Vicente und die Grenadinen angehören.

Aus gutem Grund bezieht sich die Bolivarische Allianz auf die "Völker unseres Amerikas" und nicht etwa auf die Staaten Lateinamerikas (und der Karibik), da der Begriff "Lateinamerika" den Rückbezug auf die Kolonialgeschichte impliziert, wurde er doch von den nationalen Eliten der formal entkolonialisierten Staaten seinerzeit geschaffen, um deren fortgesetzt enge Verbundenheit zu den Kolonialmächten des "lateinischen" Europas - Spanien, Portugal, Frankreich und Italien - im Unterschied zu den angelsächsischen Westmächten - Britannien und den USA - klarzustellen. Da die Wahl der Herren, denen die nationalen Regime die tatsächliche Unabhängigkeit ihrer Völker zu postkolonialen Zeiten nach wie vor zu überlassen bereit waren, nicht die Sache einer Befreiungsbewegung sein kann, die diesen Namen nicht nur im Munde führt, hat der Begriff "Lateinamerika" ungeachtet des hohen Maßes seiner Ausbreitung und Akzeptanz eigentlich ausgedient.

Insbesondere auch in den westlichen Ländern ist das Interesse an Lateinamerika, der dortigen gegenwärtigen Entwicklung und deren noch offenem Ende in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. So legte im Januar dieses Jahres der Berlin/Hamburger Verlag Assoziation A einen weiteren Band zu diesem Thema mit dem vielversprechenden Titel "Kontinent der Befreiung?" vor. Fraglos ist das von Anne Huffschmid und Markus Rauchecker herausgegebene Werk Lateinamerika gewidmet, allerdings nicht in Hinsicht auf die aktuelle, politisch höchst kontrovers bewertete Entwicklung, sondern gemünzt, wie der Untertitel verrät: "Auf Spurensuche nach 1968 in Lateinamerika". Der Fokus des Interesses der Autoren und Autorinnen, zu denen neben dem Teilnehmerkreis einer Projektgruppe zum Thema "1968 in Lateinamerika" am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin auch externe AutorInnen zu zählen sind, ist also über vier Jahrzehnte rückwärts gerichtet auf eine Epoche, die, versehen mit der Chiffre "1968", häufig mit politischem Aufbruch und Rebellion synonym gesetzt wird. Die These, '68 sei für Lateinamerika ein "Schlüsseljahr" gewesen, geht, wie dem Klappentext des Buches zu entnehmen ist, auf den mexikanischen Schriftsteller Carlos Fuentes zurück:

Lateinamerika liefert im globalen Diskurskarussell zu '68 zwar viele Schlüsselbegriffe und Ikonen - wie Befreiungstheologie oder Che Guevara -, als Schauplatz für gesellschaftliche Aufbrüche aber geriet der Kontinent so gut wie nie in den Blick. Doch '68 war auch für den "Kontinent der Befreiung" ein "Schlüsseljahr", wie Carlos Fuentes schreibt, in dem alles gleichzeitig in Bewegung kam: die Revolten an den Universitäten von Mexiko-Stadt oder Montevideo, die Radikalisierung der Proteste und die Verschärfung der Repression, aber auch das Aufbegehren im Alltag und in den Künsten. Die Leerstelle wird in diesem Band, entstanden am Lateinamerika-Institut der FU Berlin, ausgeleuchtet. Es werden Schlaglichter geworfen auf globale Bezugspunkte, Bewegungen und Gewalt, Kultur und Erinnerung der lateinamerikanischen 68er - und einige ihrer interessantesten Köpfe vorgestellt.

Diese Annahme stellt keineswegs eine Kernthese des Bandes dar, die nach besten Kräften historisch belegt oder argumentativ-inhaltlich plausibel gemacht worden wäre, sondern bleibt eine offene Frage, zu der in den einzelnen Texten des Buches durchaus kontrovers Stellung bezogen wird. Für die AutorInnen und HerausgeberInnen des Bandes scheint darüberhinaus die Frage, ob, wenn denn überhaupt ein irgendwie kausal zu definierender Zusammenhang zwischen '68 in Europa/USA und '68 in Lateinamerika unterstellt werden kann, der alte Kontinent den ehemals von der spanischen Krone unterjochten beeinflußt hat oder umgekehrt, von einer gewissen Bedeutung zu sein. So wird in dem von Anne Huffschmid, der Projektleiterin und Lektorin des Buches, verfaßten Editorial wie selbstverständlich angenommen, daß die in den 1960er Jahren in Lateinamerika in Bewegung gebrachten Verhältnisse von kulturellen Aufbrüchen in den USA und Europa "befeuert" worden wären:

Eine Stunde Null markiert das Jahr 1968 nirgendwo auf der Welt, in Lateinamerika womöglich noch weniger als anderswo: Schon seit Beginn der 60er Jahre, mit der noch jungen Kubanischen Revolution von 1959, waren die Dinge und Verhältnisse in Bewegung geraten. Landflucht trieb das Wachstum der Metropolen an, junge Menschen eroberten sich - befeuert von kulturellen Aufbrüchen in den USA und Europa - eigene neue Räume. Die gesellschaftliche Liberalisierung und ökonomische Entwicklung rieb sich am starren, repressiven Autoritarismus der meisten Regime. Das Beispiel Kubas schien eine Revolution in den Bereich des Machbaren zu rücken, die politischen Fronten radikalisierten sich, die ersten ländlichen Guerillagruppen entstanden, aber auch Militärregime wurden installiert, in Brasilien schon 1964.
(S. 16)

Ob die in Hinsicht auf "1968 in Lateinamerika" vermutete Leerstelle, die zu schließen die Projektgruppe mit der Herausgabe dieses Buches sich bemühte, tatsächlich bestanden hat oder ob es dieser Frage an Aktualität wie auch historischer Relevanz mangelt, zumal die Chiffre '68 ein eindeutig der westlichen Hemisphäre zuzuordnendes Postulat ist, mag dahingestellt bleiben. In jedem Fall stellt "Kontinent der Befreiung?" eine interessante Lektüre dar für all diejenigen, die sich den heutigen Fragen annähern wollen auch durch die Beschäftigung mit der jüngeren Geschichte der süd- und zentralamerikanischen Völker, denen nicht nur das Joch kolonialer Ausbeutung und Unterdrückung durch die westlichen imperialistischen Staaten gemein war, sondern die auch, nahezu ausnahmslos, mit Militärdiktaturen zu kämpfen hatten, die vom Westen mehr oder minder offen unterstützt wurden. Huffschmid stellt am Ende des Editorials klar, daß mit diesem Buch keineswegs die Absicht verknüpft wurde, eine umfassende Studie zu den angerissenen Fragen zu erstellen, heißt es doch dort:

Ein Büchlein des vorliegenden Formats, das aus einer studentischen Projektgruppe am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin entstanden ist, kann nichts anderes als Fragmente versammeln und Schlaglichter werfen - subjektiv, selektiv, ohne Anspruch auf eine flächendeckende politische oder historische Kartographie. Aber durchaus in der Hoffnung, eine Leerstelle etwas ausgeleuchtet zu haben. Den Berliner Studierenden, die mit ihrem Interesse und Engagement den vorliegenden Band möglich gemacht haben, möchte ich dabei vor allem danken. Ihre Neugier auf eine zeitlich wie geographisch eher ferne "Befreiungsbewegung" scheint mir heutzutage und hierzulande alles andere als selbstverständlich.
(S. 20)

Mit einer solchen Neugier ausgestattet, werden auch alle LeserInnen auf ihre Kosten kommen, hält doch der Band neben den einleitenden Stellungnahmen der an dem Projekt beteiligten Studierenden recht umfangreiche Texte und Materialien, ergänzt durch ein nicht unerhebliches Bildmaterial, ebenso bereit wie Länderberichte, in denen am Schluß des Buches in alphabetischer Reihenfolge, von Argentinien bis Venezuela, die politische Situation und Entwicklung in und um 1968 in den einzelnen Ländern kurz umrissen wird. Der Schwerpunkt des Bandes liegt in einem in fünf Themengebiete gegliederten Mittelteil, den der Herausgeber Markus Rauchecker in einem einleitenden Text zum Thema "1968 in Lateinamerika und Europa: unterschiedliche Rahmenbedingungen" folgendermaßen umreißt:

Wer sich als Studierender in der heutigen Zeit mit der 68er-Generation als Ganzer, auch über die StudentInnenbewegung hinaus, beschäftigt, kann sich die Lage, in der sich die 68er damals befanden, kaum vorstellen. Oft bleiben bei der Auseinandersetzung mit diesem Thema mehr Fragen als Antworten: Was war die besondere Situation in den 60er Jahren? Welche Beweggründe hatte die 68er-Generation und deren innere Entwicklung? Was waren ihre Ziele? Der Vergleich zwischen '68 in Lateinamerika und Europa, und hier vor allem in Westdeutschland, wirft dieselben Fragen nach dem Warum und Wofür auf - allerdings mit verschiedenen Antworten auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Folgenden soll die Unterschiedlichkeit entlang der fünf Themenblöcke des Buches - Repertoire, Bewegung, Gewalt, Alltagskultur und Kulturproduktion sowie Erinnerung - kurz beleuchtet werden.
(S. 21)

Im ersten Themenblock ("Repertoire") wird die Befreiungstheologie und einer ihrer prominentesten Vertreter, der nicaraguanische Dichter, Priester und Politiker Ernesto Cardenal, wohl nicht zufällig an erster Stelle vorgestellt, gefolgt von der "Kubanischen Revolution und ihrer Bedeutung für die 68er" sowie dem "Pariser Mai", womöglich einer "Revolutionäre[n] Inspiration aus dem Herzen Europas?". Da es an der Bedeutung Kubas in Hinsicht auf die Befreiungskämpfe der ehemals kolonialisierten Kontinente nichts zu deuteln gibt, trifft Gintare Malinauskaite in dem von ihm zur kubanischen Revolution verfaßten Beitrag folgende Feststellungen:

Zugleich bemühte sich die kubanische Regierung um eine Führungsrolle in der - damals sogenannten - Dritten Welt. Che Guevaras Idee des Tricontinentalismo postulierte, dass in Asien, Lateinamerika und Afrika eine neue Weltordnung errichtet werden sollte. Der Tricontinentalismo wurde zur politischen und moralischen Alternative Kubas und hatte eine grundlegende Bedeutung als geopolitische Strategie und zugleich als rhetorischer Hebel Havannas auf der internationalen Bühne. Havanna bot ein Modell der Befreiung für die unterdrückten Länder, die gegen den von den USA geführten Imperialismus kämpfen sollten. Schon 1966 wurde in Havanna die Trikont-Konferenz mit VertreterInnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika abgehalten, auf der die TeilnehmerInnen eine gemeinsame anti-imperialistische Politik zu formulieren versuchten.
(S. 34/35)

Einen solchen Standpunkt macht sich der Autor keineswegs zu eigen. Den Folgebeitrag zum "Internationalen Kulturkongress in Havanna" beschließt er mit der Feststellung, daß die von Fidel Castro beschworene Einigkeit im "anti-imperialistischen Kampf gegen den Krieg der USA in Vietnam" nur von kurzer Dauer gewesen sei:

Spätestens im August 1968, als der máximo líder die brutale Niederschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Panzer begrüßte, spaltete sich die Kulturlinke Europas und Lateinamerikas - der Traum eines vom Sowjetimperium unabhängigen Sozialismus schien ausgeträumt.
(S. 40)

Augenscheinlich rechnet sich der Autor wegen der hier angedeuteten ideologischen Differenzen zum antikubanischen Teil der "Kulturlinken" und darf mit dieser Positionierung möglicherweise als repräsentativ für den gesamten Autorenkreis eingestuft werden. Malinauskaite nimmt denn auch eine Ausdeutung der Thesen Che Guevaras vor, die mindestens als historisch umstritten bewertet werden dürfte. So erklärt er, daß unter dem von dem kubanischen Guerillaführer 1965 in einem Essay erstmals aufgeworfene Begriff des "Neuen Menschen" (hombre nuevo) eine "starke und motivierte Person" verstanden wurde, die "ohne materielle Belohnung für die Solidarität und das Gemeinwohl der Gemeinschaft kämpfte" (S. 49). Dem Autor zufolge, der sich in dieser Frage auf viele "damals aktive SchriftstellerInnen und PhilosophInnen" bezieht, sei es "die Funktion der neuen Gesellschaft und der neuen Literatur", die Entstehung des "Neuen Menschen" zu fördern.

Das Primat der Kultur vor der Frage nach dem politischen Kampf zieht sich wie ein unausgesprochen gebliebener Kernkonsens aller am Buch Beteiligten durch das gesamte Werk. So ist beispielsweise im zweiten Themenblock ("Bewegung") in dem von Helena Schrank zum Thema "Studentenbewegungen in Kolumbien - Auch ein 68er-Symptom?" verfaßten Beitrag gar von "globalen 68ern" die Rede - auf "ideologischer und kultureller Ebene":

Die Verbindung mit den globalen 68ern ist offensichtlich nicht auf der Ebene konkreter Ereignisse, sondern vielmehr auf ideologischer und kultureller Ebene zu finden. Betrachtet man die Literatur, die sie gelesen haben, Idole und Werte, für die zahlreiche Studierende in den "revolutionären Kampf" gezogen sind, so entsteht das Bild einer globalen Generation, die sich gegen Autoritarismus, Repression und Krieg verschworen hat.
(S. 70)

Die Autoren und Autorinnen scheinen eine besondere Vorliebe für die Hypothese eines fast apolitischen, zumeist jugendlichen und studentischen Aufbegehrens im "Schlüsseljahr" 1968 in Paris, Berlin und Prag, aber auch in den Städten Lateinamerikas, zu hegen, auch wenn sich diese Behauptung mit den von ihnen zitierten oder angeführten Stellungnahmen lateinamerikanischer Aktivisten und Autoren nicht in Deckung bringen läßt. So verneinte beispielsweise der von Katharina Seeger am Ende des zweiten Themenblocks porträtierte Vladimir Palmeira, eine der "Schlüsselfiguren der brasilianischen StudentInnenbewegung", die Behauptung, daß es einen kausalen Zusammenhang zwischen '68 in Europa und Lateinamerika gegeben habe. Der Pariser Mai habe "seiner Ansicht nach die brasilianische 68er-Bewegung kaum beeinflußt" (S. 92), schreibt die Autorin.

Dies schien keineswegs nur auf die Protestbewegung Brasiliens zuzutreffen. Im dritten Themenblock ("Repression und Gegengewalt") beleuchtet Inga Kleinecke in ihrem Text "Der Cordobazo" die Verhältnisse in und um 1968 in Argentinien und erwähnt darin die Stellungnahme eines argentinischen Aktivisten (Enrique Juárez), der sich "ausdrücklich nicht auf den Pariser Mai, sondern auf die Unabhängigkeitskämpfe Algeriens oder die erfolgreiche Kubanische Revolution" (S. 106) bezogen habe. Demnach habe die Arbeiterbewegung Argentiniens die Idee eines Tercermundismo verfolgt, worunter die Idee der Befreiung der "Dritten Welt" von Neokolonialismus und staatlicher Gewalt verstanden worden sei.

Im Anschluß an zwei weitere Themenblöcke, die den Bereichen "Alltagskultur & Kulturproduktion" und "Erinnerung & Deutung" gewidmet sind, unternimmt Jan Kunze den Versuch, die eher losen Fäden des Gesamtwerkes in einem abschließenden Text thematisch zu bündeln. "Wie global war '68 in Lateinamerika" lautet seine zum Titel gemachte und letzten Ende mit einem Sowohl-als-auch beantwortete Frage. Zum Thema "'68 und Lateinamerika" führt Kunze zunächst aus:

"1968" ist in Bezug auf Lateinamerika - noch mehr als anderswo - eine unscharfe Bezeichnung. Die Fixierung auf dieses Jahr ist einerseits deshalb problematisch, weil das Jahr nicht derart stark herausragt, auch wenn es in einzelnen Ländern die Hochphase von sozialer Mobilisierung bedeutete. Kontinentweit muss aber eher eine längere Entwicklung in den Blick genommen werden, geprägt durch die Ausstrahlungskraft der Kubanischen Revolution, politische Radikalisierung, Ideologisierung und Konterrevolution. Andererseits birgt die Chiffre "1968" die Gefahr, das Phänomen zu sehr aus europäischer bzw. US-amerikanischer Perspektive zu definieren, mit dem Pariser Mai als Paradigma und Inspiration. Dagegen kann vielmehr umgekehrt behauptet werden, dass die Dynamik der Proteste der 60er Jahre durch die antikolonialen und nationalen Befreiungskämpfe in der sogenannten "Dritten Welt" begann und erst später die USA und Europa erreichte.
(S. 188)

Kunzes Schlußsätze sind zugleich, von den nachfolgenden Länderberichten abgesehen, die letzten inhaltlichen Ausführungen des Sammelbandes. Sie laufen Gefahr, interessierte Leser in einer gewissen Ratlosigkeit in bezug auf die Kernthesen des Buches zu hinterlassen, heißt es doch hier abschließend:

Als es - in Anlehnung an das brasilianische Modell - in den Folgejahren in Lateinamerika fast überall zur Etablierung von Militärregimes kam, bedeutete dies zunächst das abrupte Ende für viele Ideale von "1968". Erwirkten die 68er-Bewegungen in den Siebzigerjahren in anderen Weltregionen zumindest Reformen und stießen sichtbar gesellschaftliche Veränderungsprozesse an, standen dieser Entwicklung in vielen lateinamerikanischen Ländern auf lange Zeit starke reaktionäre Kräfte entgegen.
(S. 191)

Das klingt fast so, als hätten die lateinamerikanischen 68er-Bewegungen irgendwie Pech gehabt, weil ihren Idealen "starke reaktionäre Kräfte" entgegenstanden. Wer in einem Lateinamerika als einem "Kontinent der Befreiung" gewidmetem Werk an dieser Stelle nicht den Finger in die offene Wunde postkolonialer Zwänge legt, wie sie beispielsweise in dem von den USA zur Zerschlagung linker Bewegungen eingerichteten geheimdienstlichen Netzwerk "Operation Condor" Gestalt angenommen hatten, läuft Gefahr, als Repräsentant einer eurozentristischen Sicht wahrgenommen zu werden. Von der "Spurensuche nach 1968 in Lateinamerika", so darunter verstanden wird, daß beispielsweise der Pariser Mai als Impulsgeber in Erscheinung getreten sei, bleibt am Ende des Buches denkbar wenig über, heißt es doch in Kunzes Text über die Studentenbewegung Brasiliens, die 1968 eine Massenmobilisierung erfahren habe:

Die Ausrichtung war dezidiert antiimperialistisch, gegen das reaktionäre Regime im eigenen Land und den immer stärker werdenden Einfluß der USA gerichtet. Vietnam hatte große Bedeutung in der Debatte um den bewaffneten Kampf und man griff - auf gesamtamerikanischer Ebene - die fortschreitende Militarisierung an, die im Rahmen der Aufstandsbekämpfung vorangetrieben wurde. Oftmals lehnten es die AktivistInnen ab, mit den StudentInnenbewegungen in den Industrieländern in Verbindung gebracht zu werden, da sie eine Verwässerung ihrer Anliegen befürchteten.
(S. 191)

27. April 2010


Kontinent der Befreiung?
Auf Spurensuche nach 1968 in Lateinamerika
Eine Publikation der Projektgruppe "1968 in Lateinamerika"
Henriette Friede, Inga Kleinecke, Mareike Lühring, Gintare
Malinauskaite,
Markus Rauchecker, Katharina Seeger, Christian Tinz
Projektleitung: Anne Huffschmid
LAI - Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin
Berlin/Hamburg, Januar 2010
Verlag Assoziation A
253 Seiten
ISBN 978-3-935936-88-0