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REZENSION/505: Michel Husson - Kapitalismus pur (Marxismus) (SB)


Michel Husson


Kapitalismus pur

Deregulierung, Finanzkrise und weltweite Rezession - Eine marxistische Analyse



Spätestens seit dem Kollaps der New Yorker Bank Lehman Brothers im September 2008 sieht sich die Menschheit einer länderübergreifenden Wirtschaftskrise ausgesetzt, die jedem Vergleich mit dem Börsensturz vom Herbst 1929 und der daraufhin einsetzenden großen Depression, deren Auswirkungen bekanntlich den Zweiten Weltkrieg nach sich zogen, standhält. Die internationale Leitwährung Dollar befindet sich wegen der explodierenden Handels- und Haushaltsdefizite der USA in einer Abwärtsspirale. Der Europakt, der die Länder der Europäischen Union vor Währungsturbulenzen schützen sollte, droht wegen der enormen Staatsschulden Portugals, Irlands, Italiens, Griechenlands und Spaniens auseinanderzubrechen. Millionen von Menschen haben in den letzten eineinhalb Jahren ihre Arbeit und häufig genug das Dach über dem Kopf verloren. Eine schnelle Besserung ist nicht in Sicht.

Um die großen Finanzinstitute wie AIG in den USA, Royal Bank of Scotland in Großbritannien, Hypo Real Estate in Deutschland und Anglo-Irish Bank in Irland vor dem Konkurs zu retten, haben die Regierungen vor allem in den Industriestaaten Nordamerikas und Europas die aufgelaufenen Verbindlichkeiten aus jahrelangem Börsenspekulantentum in Billiardenhöhe übernommen. Das hat überall zu einer Schieflage in den Staatsfinanzen geführt, die man vor allem durch Kürzungen im Sozialbereich, Privatisierung von Staatseigentum - in der Regel mit Hilfe derselben Banken, welche die Krise erst ausgelöst haben - und Einfuhr von diversen Gebühren auszugleichen bedacht ist. Die laufende Hetzkampagne des deutschen Außenministers und FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle gegen die Hartz-IV-Bezieher läßt erkennen, in welch desaströse Richtung die gesellschaftliche Entwicklung derzeit läuft. Es sollen offenbar diejenigen, die noch einen Arbeitsplatz, wie unsicher auch immer, haben, und die Bezieher von Sozialhilfe gegeneinander ausgespielt werden, damit noch mehr des von den Werktätigen erwirtschafteten Bruttosozialprodukts von unten noch oben transferiert wird, nur um auf den Geheimkonten von Westerwelles Wählerklientel in irgendwelchen Steueroasen im Ausland auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.

Eine recht gelungene, marxistische Analyse der aktuellen Krise liefert der französische Politökonom Michel Husson in seinem neuen Buch "Kapitalismus pur". Der 1949 in Lyon geborene Husson, gehörte mehr als 20 Jahre lang der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) an, bis er 2006/7 zu Attac ging und Mitglied von dessen wissenschaftlichem Beirat wurde. Husson - ein Schüler des belgischen Trotzkisten Ernst Mandel -, der mehrere Bücher und zahlreiche Artikel zum Thema Wirtschaft veröffentlicht hat, gilt als einer der führenden Kapitalismus- und Globalisierungskritiker Frankreichs, dessen Erkenntnisse aufgrund seiner jahrelangen Tätigkeit als Statistiker und Makroökonom in den Wirtschafts- und Industrieministerien von Paris man nicht so einfach ignorieren kann.

In seinem jüngsten Buch erklärt Husson die derzeitige Krise als Ergebnis politischen Handelns bestimmter gesellschaftlicher Kräfte. Dies macht seine Analyse auch dem in der Volkswirtschaftlehre wenig bewanderten Leser zugänglich und nachvollziehbar. Hinter jedem Profit erkennt er die Ausbeutung. Husson räumt mit den wichtigsten Bestandteilen des herrschenden "neoliberalen" Wirtschaftsdogmas, zum Beispiel mit dem Argument, daß Flexibilität und Lohnsenkungen mehr Arbeitsplätze schaffen, auf und entlarvt dieses als Herrschaftspropaganda, die keiner wissenschaftlichen Analyse standhält. Er greift auch einige reformistische Lösungsansätze als verfehlt an. Was die Einführung eines Existenzminimums betrifft, so bemängelt Husson, daß jenes Konzept leider immer noch den leicht zu instrumentalisierenden Gegensatz zwischen Werktätigen und Sozialhilfebeziehern in sich birgt. Deshalb fordert er ganz klar Arbeit für alle - bei weniger Arbeitszeit und höherem Stundenlohn, letzteres um der Nachfrage willen.

Dem sogenannten "Green New Deal" à la Barack Obama erteilt Husson mit der bündigen Formulierung, daß die Hoffnung auf eine "warenförmige Lösung" für die massive Umweltzerstörung, welche unsere schöne, bunte Konsumgesellschaft verursacht, von vornherein fehl am Platz ist, eine Absage. Den sogenannten "Wissenskapitalismus" entlarvt er gleich als Ammenmärchen. Wiewohl Husson glaubt, daß das kapitalistische System dem Untergang geweiht ist, empfiehlt er der arbeitenden Bevölkerung, nicht darauf zu warten und die Regression zum vollüberwachten Sicherheitsstaat über sich ergehen zu lassen, sondern ihre sozialen Forderungen zu forcieren, um aktiv das System an seinen eigenen Widersprüchen zum Kollaps zu bringen und den Weg hin zu einer humaneren Gesellschaftsform zu ebnen.

In linken Theoretikerkreisen ist Husson dafür kritisiert worden, die Rolle der Finanzwelt bei der aktuellen Wirtschaftskrise überbewertet zu haben. Bei dem Streit geht es um das alte Thema der Profitrate und darum, inwieweit sich diese in den letzten Jahrzehnten im Sinken befindet oder nicht. Da sich die wirtschaftliche Entwicklung der letzten dreißig Jahre durch eine Aneinanderreihung von Spekulationsblasen auszeichnet - allen voran bei den Derivaten, die nicht umsonst Ramschaktien heißen -, läßt sich die eigentliche Profitrate offenbar nicht so einfach ermitteln. Auch wenn Husson mit seiner Analyse der in den letzten Jahren zugenommenen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben Recht hat, heißt das aus Sicht seiner Kritiker nicht zwingend, daß dies der Beleg für eine gestiegene Profitrate im Finanzsektor ist. Auch ohne sich auf diese Expertendiskussion einlassen zu müssen, lohnt es sich, Hussons Buch einschließlich der enthaltenen, kurzen Einführung in die marxistische Werttheorie zu lesen, um der neoliberalen Offensive von Möchtegernschlaumeiern wie Guido Westerwelle argumentativ entgegentreten zu können.

23. Februar 2010


Michel Husson
Kapitalismus Pur
Deregulierung, Finanzkrise und weltweite Rezession - Eine marxistische
Analyse
(Übersetzt aus dem Französischen von Sophia Deeg und Paul B. Kleiser)
Neuer ISP Verlag, Köln/Karlsruhe, 2009
200 Seiten
ISBN-13: 978-3-89900-131-0