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REZENSION/467: Böckelmann, Meier (Hg.) - Die gouvernementale Maschine (SB)


Janine Böckelmann, Frank Meier (Hg.)


Die gouvernementale Maschine

Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens



Der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus bleibt auch für die neue US-Administration tragender Bestandteil ihrer Regierungspolitik. Der weitere Ausbau staatlicher Gewaltmittel mag einer Verschiebung seiner Methoden und Ziele in Richtung auf soziale Konfliktpotentiale unterliegen, die sich aus der ökonomischen Verelendung eines immer größeren Teils der Weltbevölkerung ergeben, doch damit wird die Stoßrichtung der definitiven Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts, zu der führende Vertreter westlicher Regierungen das neue Paradigma der Ermächtigung nach dem 11. September 2001 erklärt haben, lediglich aktualisiert. Der Kampf gegen irreguläre und widerständige Elemente, die sich den ordnungspolitischen Maßgaben imperialistischer Mächte nicht unterwerfen, ist von einem Wandel der politischen und rechtlichen Verfahrensweisen bestimmt, der die unterstellten demokratischen und menschenrechtlichen Grundsätze in zunehmendem Maße ihrer Gültigkeit enthebt.

Vor diesem Hintergrund kommt der politischen Philosophie Giorgio Agambens die Bedeutung eines antagonistischen Reflexionsrahmens zu, anhand dessen der virulente Widerspruch zwischen emanzipatorischem Fortschritt und machtpolitischer Realität in seiner Unvereinbarkeit handhabbar gemacht werden kann. Der italienische Philosoph hat mit der Theorie des auf sein "nacktes Leben" reduzierten Menschen, der als "Homo sacer" außerhalb der rechtlichen wie religiösen Ordnung steht, da er straflos getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf, ein konzises Konzept des Gewaltverhältnisses zwischen staatlichem Souverän und gesellschaftlichem Subjekt entworfen. Der der römischen Rechtsgeschichte entlehnte Begriff des Homo sacer ist mit dem des Ausnahmezustands unmittelbar verknüpft, da dort über die Zugehörigkeit des nackten Lebens zur Sphäre des natürlichen Lebens (zoé) oder der bürgerlichen Gesellschaft (bios) entschieden wird.

"Während sich die Zone der Ausnahme in der antiken polis klar vom Staat abgrenzt, müssen die Grenzen zwischen Ausnahme und Staat in der Moderne in eins fallen: Durch das Bürgerrecht via Geburt befindet sich auch das als zoé bestimmte Leben innerhalb der Grenzen des Staates. Da aber die Struktur des nomos gleich geblieben ist, bedarf es nun innerhalb dieser Grenzen einer Struktur der einschließenden Ausschließung. Damit ist laut Agamben das eingetreten, was schon Walter Benjamin in seiner achten These 'Über den Begriff der Geschichte' formuliert hatte: 'Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der 'Ausnahmezustand', in dem wir leben, die Regel ist.' Der Staat selbst ist zum realen Ausnahmezustand geworden, in dem der Souverän über das nackte, biologische Leben entscheidet."
(S. 143)

Mitherausgeberin Janine Böckelmann leitet hier unter Rückgriff auf Walter Benjamin, an dessen Begriff des "bloßen Lebens" der Benjamin-Experte Agamben mit dem des "nackten Lebens" anknüpft, die Grundlage einer Theorie her, die Agamben häufig den Vorwurf eingebracht hat, mit seiner pessimistischen Sicht auf das Verhältnis zwischen Staat und Bürger zu übertreiben. So hält er der Vorstellung, die Menschheit habe die Katastrophe des Holocausts dazu genutzt, einen grundsätzlichen Bruch mit der Logik der Vernichtung zu vollziehen, eine vom inneren Widerspruch zwischen Postulat und Aufhebung rechtlicher und demokratischer Garantien korrumpierte Entwicklungslogik entgegen. Der geschichtliche Fortschritt, in dem die aus Auschwitz zu ziehende Lektion in Form einer wirksamen Begrenzung staatlicher Gewaltanwendung fruchtbar geworden wäre, ist ausgeblieben und hat statt dessen moderne Formen der Negation menschlicher Existenz und Autonomie produziert. Agamben untersucht diese Entwicklung anhand der Theorie eines nicht nur rechtspositivistisch in Anspruch genommenen, sondern die souveräne Handlungsgewalt des modernen Staates durch die potentielle Aussetzung der Rechtsordnung erst konstituierenden Ausnahmezustands, anhand des Flüchtlings als eines außerhalb des Schutzes der Staatsangehörigkeit lebenden Menschen und anhand der Institutionen der Polizei und des Lagers als biopolitische Agenturen einer zusehends selbstherrlich agierenden Exekutivgewalt.

Wie im Titel des vorliegenden Sammelbands "Die gouvernementale Maschine" angedeutet, steht der Mensch vor dem Problem, von einer Staatlichkeit bedingt zu sein, die zwar von Prinzipien der Regierungskunst geleitet sein mag, sich der Verletzlichkeit seines Lebens jedoch wie eine weitgehend verselbständigte, in den Maßgaben und Gründen ihrer Intervention von zwanghafter Eigenlogik betriebene Instanz bemächtigt. Die Ratio des gouvernementalen Apparats und die Korrespondenz des Menschen, der ja nicht nur Betroffener von, sondern auch Teilhaber an seiner Gewalt ist, besser verstehen zu können steht als Ertrag der Lektüre dieser Sammlung von Abhandlungen zur politischen Philosophie Agambens allemal in Aussicht.

Wie die Herausgeber Janine Böckelmann und Frank Meier im Vorwort "bei aller Kritik an Einzelheiten der philosophischen Konzeption" konzedieren, stimmen sie mit Agamben darin überein, "dass Denken als politische Tätigkeit verstanden werden muss" (S. 9). Das bedeutet auch, die Ergebnisse der Erkenntnis auf konkrete politische und gesellschaftliche Entwicklungen anzuwenden. Eben daran entzündet sich ein Gutteil der in dem Band formulierten Kritik an den Thesen Agambens. Immer wieder steht die Frage im Raum, ob er mit der Idee einer Fortschreibung totalitärer Entwicklungen, die den vermeintlichen Rückfall des Holocausts in vorzivilisatorische Zeiten eher als besonders grausame Manifestation einer kontinuierlichen Grundströmung menschlicher Zivilisation erscheinen läßt, nicht maßlos übertreibt.

Selbst wenn man Agamben einen professionellen Hang zur Formulierung steiler und provokanter Thesen unterstellen wollte, bietet der sein Denken wie ein roter Faden durchziehende Antagonismus der Rechtsstaatlichkeit und seiner Aufhebung im Ausnahmezustand sowie der Aufspaltung der Menschen in politische Wesen und bloße Körper genügend Anlaß, die Entwicklung von Formen staatlicher Gewaltanwendung zu antizipieren, zu denen es bekundetermaßen niemals wieder kommen sollte. Seine Theorie des Politischen basiert auf ideengeschichtlich hergeleiteten Kriterien des Vergleichs und der Unterscheidung, die die historische Errungenschaft des humanistischen Ideals prinzipieller Gleichheit in die operative Unterscheidbarkeit und Verfügbarkeit des vergesellschafteten Menschen umschlagen lassen.

"Gemäß Agambens struktureller Theorie des Politischen ist die politische Sphäre definiert durch die Distinktion von politischem Leben (bios) und natürlichem Leben (zoe). Das Politische kann sich nur konstituieren, indem es sich von einem ihm eigenen Außen differenziert: dadurch, dass es bios von zoe trennt, polis von oikos. Im Zuge dessen reproduziert das Politische wiederholt Ausnahmezonen oder -zustände, in denen es sein Außen einschließt, eine Zone der Unentschiedenheit hervorbringt und ein 'nacktes' Leben produziert, das ununterschieden zwischen bios und zoe liegt. Jenes 'nackte' Leben stellt Agambens Analyse zufolge das primäre politische Element dar. Es ist nicht ein Leben nach dem Ende oder der Überschreitung der politischen Sphäre. Es ist im Gegenteil das Resultat der Art und Weise, in der das Politische sein Außen einschließt: der Art und Weise, in der es ein bildendes Element reproduziert, in dem es seine konstituierende Grenze von neuem ziehen kann."
(S. 31)

Diese von Thomas Khurana in seinem Beitrag "Desaster und Versprechen" geleistete Zusammenfassung der Produktion operativer Ein- und Ausschlußkriterien arbeitet Agamben in seinem Werk "Ausnahmezustand" zu einer Theorie der rechtlichen Indifferenz aus, in der er unter Bezugnahme auf den Philosophen Walter Benjamin und den Staatsrechtler Carl Schmitt erklärt, wie die Ausübung souveräner Gewalt zugleich innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung erfolgen kann.

"Angesichts der unaufhaltsamen Steigerung dessen, was als 'weltweiter Bürgerkrieg' bestimmt worden ist, erweist sich der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das vorherrschende Paradigma des Regierens. Diese Verschiebung von einer ausnahmsweise ergriffenen provisorischen Maßnahme zu einer Technik des Regierens droht die Struktur und den Sinn der traditionellen Unterscheidung der Verfassungsformen radikal zu verändern - und hat es tatsächlich schon merklich getan. Der Ausnahmezustand erweist sich in dieser Hinsicht als eine Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus."
(G. Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2004)

Die sich aus der rechtlichen Unbestimmbarkeit einer exekutiven Praxis, die sich unter Inanspruchnahme außergewöhnlicher Umstände über ihre grundrechtlichen Beschränkungen hinwegsetzt und diese Willkür gleichzeitig als rechtsförmiges Handeln, gegen das dementsprechend kein Widerstandsrecht geltend gemacht werden kann, ausweist, ergebenden Folgen werden im vorliegenden Band von mehreren Autoren kontrovers diskutiert.

So unterstellt Oliver Marchart Agamben in seinem Beitrag "Zwischen Moses und Messias" eine Art "Theorieextremismus" (S. 24), mit der der Philosoph sich des Raums für politisches Handelns beraube. Agambens Methode, "ausschließlich von den (strukturell zusammenfallenden) Extrempunkten einer Skala oder Regel her zu denken" (S. 23), hat allerdings den Vorteil, Gegensätze transparent zu machen, die die dialektische Antizipation politischer Verläufe ermöglichen. Die Agamben unterstellte Fluchtlinie messianischer Konzepte einer kommenden Politik oder kommenden Gemeinschaft entspricht dem Problem utopischer Postulate, die wider alle vermeintliche Vernunft entworfen werden und gerade aufgrund der Mißachtung empirischer Plausibilität und realpolitischer Grenzen das Potential menschlicher Möglichkeiten erweitern. Ansonsten könnte keine Position bezogen werden, mit Hilfe derer sich der Übermacht widriger Verhältnisse ein Handlungsvermögen abringen ließe, das nicht unlösbar an sie gebunden wäre.

Wenn Agamben, wie Marchart zum Beleg seiner angeblich quasireligiösen Passivität einer "nostalgischen Hoffnung auf das Ganz-Andere" ausführt, in einem Interview davon spricht, "die 'einzig authentische politische Erfahrung' entspräche einer voraussetzungslosen Gemeinschaft, die nie zu einem Staat verkommen könne" (S. 23), dann verweist er damit auf das Problem jeder Vergesellschaftung, über die Gewähr von Partizipation und die Zuweisung von Identität Herrschaft im staatlichen Sinne erst zu ermöglichen. Warum gerade der Verzicht auf jede repräsentierbare Identität einen emanzipatorischen Schritt darstellt, der dem Überleben zu Lasten des anderen Menschen seine legitimatorischen Grundlagen entzieht, wird in Janine Böckelmanns Beitrag anhand eines Zitats Agambens deutlich. Es dient ihr im Rahmen einer exemplarischen Kritik an der utilitaristischen Bioethik Peter Singers dazu, greifbar zu machen, warum man sich von der Absolutheit begrifflicher Gültigkeiten und dem "Definitions- und Identitätszwang, was nun Menschlich sei und was nicht" (S. 139), befreien sollte. Der Zuordnung des Menschen in die Sphären von zoé oder bios und seiner daraus resultierenden Verfügbarkeit für fremdnützige Zwecke widersetzt sich Agamben, indem er dem positivistischen Anspruch der Wissenschaften einen Begriff der menschlichen "Lebens-Form" entgegenstellt, der sich in nämlichen Definitionen und Identitäten nicht bannen läßt:

"Er definiert ein Leben - das menschliche Leben -, in dem die einzelnen Formen, Akte und Prozesse des Lebens niemals einfach Fakten sind, sondern immer und vor allem Möglichkeiten des Lebens, immer und vor allem potentielles Sein. Keine Verhaltensweisen und keine Form menschlichen Lebens wird je von einer spezifischen biologischen Anlage noch von irgendeiner Notwendigkeit vorgeschrieben. Wie auch immer sie der Gewohnheit unterworfen sein mag, sie sich wiederholen und gesellschaftlichem Zwang gehorchen mag, sie behält doch immer den Charakter einer Möglichkeit und setzt also immer das Leben selbst aufs Spiel." (S. 138, aus G. Agamben, Lebens-Form. In: J. Vogl
(Hg.): Gemeinschaften. Frankfurt a. M. 1994)

Der italienische Philosoph bleibt seinen Kritikern jedenfalls nicht schuldig, den Erkenntnishorizont über die negative Bestimmung des herrschenden Gewaltverhältnisses hinaus zu öffnen. Das erfordert schon die Radikalität seiner Analyse dieses Verhängnisses, die etwa Andreas Vasilache in seinem Beitrag "Gibt es überhaupt 'Homines sacri'?" veranlaßt, Sinn- und Zweckhaftigkeit dort einzufordern, wo die Negation des Menschen mit kafkaesker Irrationalität betrieben wird. Wenn Vasilache bemängelt, daß die "Gewalt über den 'Homo sacer' (...) ausschließlich brechend und in keiner Weise strategisch produktiv" (S. 59) sei, dann beschreibt er damit ein signifikantes Merkmal totalitärer Herrschaft in ihrer vernichtenden Anwendung auf das isolierte Subjekt. Das heißt nicht, daß über den strategischen Charakter dieser Gewalt nicht an anderer Stelle entschieden würde, und zwar auf eine Weise, die die rechtlichen Grundlagen des eigenen Handelns über die Reichweite jeder staatsbürgerlich integren Ratio hinaus aussetzt.

Diese steht offensichtlich Pate, wenn Vasilache behauptet, daß "internationale Menschenrechtspolitik auf die tatsächliche Durchsetzung von juridischen menschenrechtlichen Ansprüchen ausgerichtet ist und daher nicht von einer 'tiefen Affinität von Menschenrechtsschutz und Menschenrechtsverletzung' gesprochen werden könne" (S. 64). Es würde den Rahmen der Rezension sprengen, an die vielen Beispiele für die Instrumentalisierung humanitärer Maßnahmen mit dem Ergebnis eines ihrem Anspruch gegenüber kontraproduktiven Verlaufs zu erinnern. Vasilache scheint die anhand des Antagonismus von Rechtsordnung und Ausnahmezustand beschriebene Aussetzung von Rechtsgarantien nicht anzuerkennen, ansonsten wäre ein solch affirmatives Verständnis des humanitären Interventionismus kaum möglich.

Aufschlußreicher für die Relevanz der politischen Philosophie Agambens sind die Beispiele, die Tilman Reitz in seinem Beitrag "Der Ausnahmezustand, in dem wir leben" für die Praxis "entgrenzter Verfügungsgewalt" gibt. So lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers auf Bereiche, "in denen die Reduktion politischer Qualitäten weniger eindeutig und skandalträchtiger, dafür aber auch durchsetzungsfähiger ist" (S. 53). Sein Verweis auf kapitalistische Praktiken wie die Einrichtung von "Sonderzonen, in denen nahezu keine Arbeitnehmerrechte bestehen und auf die Lebensqualität der Bevölkerung kaum Rücksicht genommen werden muss" (S. 53), erweitert den Blick auf den biopolitischen Zugriff governementaler Verfügungsgewalt durch dessen ökonomische Ratio.

Hier wäre des weiteren an die Senkung des Lohnkostenniveaus durch die Politik des Förderns und Forderns zu denken, die die Alternativlosigkeit lohnabhängigen Überlebens in kapitalistischen Gesellschaften dazu nutzt, unter der irreführenden Prämisse prinzipieller Freiwilligkeit administrative Formen der Arbeitsverpflichtung zu generieren, mit denen die Betroffenen der Klammer aus Bezichtigung und Abhängigkeit ohnmächtig ausgeliefert werden. Die Entrechtung von Arbeitern durch das Hartz IV-Regime ist ein gutes Beispiel für die Ununterscheidbarkeit von grundrechtlichem Anspruch und sozialökonomischer Gewalt, kann sich letztere doch gerade dadurch entfalten, daß die Freiheit des Kapitals formal mit der Freiheit des Individuums in eins gesetzt wird.

Reitz kommt des weiteren auf die Verpflichtung des einzelnen zur Optimierung des Körpers von der Regulation der Lebensführung durch Standards des Verbrauchs und Gebrauchs über die humangenetische Einflußnahme auf die biologische Reproduktion bis hin zur negativen Betroffenheit als Lieferant substitutiver Organe und Gewebe zu sprechen. Allgemein läßt sich sagen, daß die biopolitische Kontrolle des Körpers sich zusehends im sozialökonomisch determinierten Griff auf die bioorganische Substanz und die administrative Zuteilung von Lebenschancen vor dem Hintergrund wachsenden Ressourcenmangels konkretisiert. Reitz spricht von "verschiedensten Szenarien der Entregelung und Entrechtung", die "von Grenzziehungen zwischen dem vollkommen und dem nicht mehr ganz so Menschlichen bis zu gewaltsamen Verteilungskämpfen um die verknappten Chancen auf ein körperlich integres Dasein" (S. 54) reichen.

Wichtig ist auch sein Verweis "auf die neuen Einsatzfelder von Sozialstatistik, die, statt eine Bevölkerung zu homogenisieren, ebenso die Trennung ihrer erfolgsträchtigen von ihren überflüssig gewordenen Teilen erleichtern kann" (S. 55). Hier öffnet sich ein weites Feld exemplarischer Praktiken biopolitischer Regulation, auf dem die Frage, "inwiefern eine Ordnung auf dem Feld der Ausnahme aufbauen kann" (S. 55), durch konkrete sozialpolitische, medizinaladministrative und produktionstechnische Innovationen beantwortet werden kann. Die Bezichtigung des einzelnen als für seine Misere haupt- und eigenverantwortlicher Akteur ist ein zentrales Mittel neoliberaler Steuerung, mit dem von den Interessen abstrahiert wird, die als gesellschaftliche Faktoren wirksam werden und sich im Sinne Agambens dazu der Etablierung vorgeblich sachzwanggenerierter Ausnahmezustände bedienen.

Wie sehr es zutrifft, daß Souveränität aufgrund ihrer unentschiedenen und unabgeschlossenen Stellung innerhalb wie außerhalb der Rechtsordnung willkürlich agiert, ist anhand des aktuellen Krisenmanagements, das seine ökonomische Ratio beliebig auf den Kopf stellt, zu studieren. Ohne die der Delinquenz unzureichender Eigenverantwortung beschuldigten Opfer kapitalistischer Akkumulation zu rehabilitieren, wird die Behebung des Schadens in die Hände des Staates gelegt, dessen Intervention zuvor als kontraproduktiv abgewehrt wurde. Im Ergebnis läuft die staatliche Regulation auf die weitere Zerstörung sozialer Überlebensgarantien hinaus, nun allerdings ohne den Umweg über die bis dato übliche Bezichtigungslogik und die daraus resultierende Disziplinierung zu nehmen.

Statt dessen wird mit jenen Gewaltmitteln gedroht, die den rechtlichen Ausnahmezustand bislang unter dem Vorwand der Abwehr des Terrorismus legitimiert haben. Indem die Mangelproduktion des kapitalistischen Systems um so unvermittelter auf den einzelnen angewendet wird, enthebt es sich der Notwendigkeit, Vorwände und Feindbilder zu generieren, mit denen sich unpopuläre Maßnahmen durchsetzen lassen. Indem der materielle Zwang zu Anpassung und Unterwerfung anwächst, wird der Notstand selbstevident und bedarf keiner außerordentlichen Umstände zu seiner Verhängung mehr. Die Aufhebung geltenden Rechts muß nicht mehr deduktiv legitimiert werden, sondern konstituiert unter der Anforderung dringlicher Entscheidungen ad hoc wirksamere Formen der Verfügungsgewalt.

Vor dem Hintergrund weltweit verschärfter Not sind auch die Ausführungen Ingeborg Villingers zum "Ausnahmezustand des Lagers" von Interesse. Ausgehend von Agambens Behauptung einer "innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus" vergleicht sie Hannah Arendts Untersuchungen zum Konzentrationslager als "Labor zur experimentellen Erprobung der totalen Beherrschbarkeit des Menschen" (S. 153) mit Agambens These vom Lager als "Paradigma der Moderne". Dabei handelt es sich um ein Strukturprinzip, das für Agamben über seine konkrete Manifestation als "sichtbarer Ausdruck des Ausnahmezustands, der - in Form des Eingeschlossenseins in dessen Raum bei gleichzeitiger Abwendung des Gesetzes - dem System des Rechts und seiner Verwirklichung selbst immanent ist" (S. 156), hinaus stets wirksam wird, wenn "das nackte Leben und die Norm in einen Schwellenraum der Unentschiedenheit treten" (S. 160). So verallgemeinern sich die "territorial bestimmbaren Lager, zu denen auch neue Raumtypen als 'Archipele der Sicherheit' wie Shopping Malls und Gated Communities gehören", zum "Phänomen eines Zustandes als Lager (...), mit dem alle Bürger in einem staatlichen Raum als potentielle Lagerinsassen gelten können" (S. 161).

Diese These stößt verständlicherweise nicht nur in dem vorliegenden Buch auf heftigen Widerspruch. Dabei wird allerdings nicht genügend in Rechnung gestellt, daß Agambens rechtsphilosophische Herleitung eines Modells des Politischen nicht auf der phänomenologischen Ebene verbleibt, sondern sich struktureller Prinzipien bedient, die einen Schlüssel zum Verständnis totalitärer Entwicklungen bieten sollen. Agamben verankert seine politische Philosophie zwar historisch und ideengeschichtlich, ohne jedoch wirklich darauf angewiesen zu sein, eine kausale Entwicklungslogik nachzuweisen. Ganz im Sinne der Potentialität seines Entwurfs vom Menschen bedient er sich anthropologischer und rechtsphilosophischer Argumente, um vermeintliche politische Gewißheiten zu erschüttern und der Fassungslosigkeit, die den Menschen überwältigen kann, wenn er etwa mit den vorgeblich vernünftigen Gründen zur Durchführung eines Massakers an einer in einem Großlager eingesperrten Bevölkerung konfrontiert wird, die Form eines erweiterten Verständnisses politischen Handelns zu verleihen.

Agamben nimmt die postulierten demokratischen und zivilisatorischen Werte beim Wort und widerlegt ihre Realisierung an aktuellen Beispielen für sicherheitsstaatliche Entwicklungen, die als offene Fragen zur Zukunft westlicher Gesellschaften gelten können. Die zentrale Achse politischer Wirksamkeit, die Vergesellschaftung des einzelnen im Rahmen staatlicher Ordnung, markiert zugleich seinen Anspruch auf Partizipation wie seine Verfügbarkeit für fremde Interessen. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Teilhabe bedingt die Beherrschbarkeit des bürgerlichen Subjekts durch Praktiken der Verrechtlichung, in denen das individuelle Interesse an Integration mit der staatlichen Gewalt der Exklusion konvergieren.

Villinger illustriert dies anhand eines Zitat Agambens, das als Sinnbild für das antagonistische Verhältnis von Gesellschaft und Gemeinschaft verstanden werden kann.

"Die Räume, die Freiheiten, die Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zentralen Mächten erlangen, bahnen jedes Mal zugleich eine stille, aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch furchterregenderes Fundament."
(S. 162, aus: G. Agamben, Homo Sacer, Frankfurt a. M. 2002)

Leander Scholz vertieft das Problem der politischen Philosophie, Produkt eines Systems zu sein, das in seiner inneren Logik zu begreifen der Einbeziehung ihm immanenter Voraussetzungen bedarf, in einer Gegenüberstellung der Haltung Agambens und der Ansichten der konservativen Staatsdenker Leo Strauss und Carl Schmitt zum Liberalismus. Letztere postulieren aufgrund der unzureichenden Bewältigung des Naturzustands, ins Bild des Menschen als mangelhaftes Tier gesetzt, die Ausbildung exklusiver Eliten oder Gruppen, die Strauss als dem Barbaren und Schmitt als dem Feind gegenüberstehend definiert. Die daraus erwachsende Souveränität kann in ihren Augen nicht liberaldemokratisch verallgemeinert werden, so lange es nicht zu einer abschließenden Überwindung des Naturzustands gekommen wäre, die die Menschen aller Gründe enthöbe, sich überhaupt zur Eindämmung archaischer Gewalt gesellschaftlich zu organisieren.

Während Strauss, der als Ideengeber der Neokonservativen in den USA einiges Aufsehen erregt hat, und Schmitt, der als Apologet staatlicher Ermächtigung eine Leitfigur antidemokratischer Bewegungen ist, das unabgeschlossene Verhältnis des Liberalismus zum Naturzustand in positive Entwürfe autoritärer Herrschaft ummünzten, verweist Agamben auf die emanzipatorische Erfordernis, sich vom Rechtsanspruch souveräner Gewalt überhaupt zu lösen, wie Scholz mit einem Zitat des Philosophen belegt:

"Im Recht seine Nicht-Beziehung zum Leben und im Leben seine Nicht-Beziehung zum Recht offenbar werden zu lassen heißt, zwischen ihnen einen Raum für menschliches Handeln zu eröffnen, der vormals den Namen des 'Politischen' für sich einforderte. Politik aber hat eine dauerhafte Verdunklung erlitten, denn sie hat sich am Recht infiziert und im besten Fall selbst als konstituierende Gewalt (also als Gewalt, die Recht setzt) begriffen, sofern sie nicht einfach auf Gewalt, die mit dem Recht schachert, reduziert wird. Wahrhaft politisch ist indessen nur solches Handeln, das den Bezug zwischen Recht und Gewalt rückgängig macht."
(S. 180 f., aus: G. Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt a. M. 2004)

Agambens Umgang mit politischen und staatsrechtlichen Fragen macht ihn bei aller Diskussionswürdigkeit seiner Thesen zu einem der relevantesten Denker der Gegenwart. Mit kritischen Beiträgen zum Krieg gegen den Terrorismus und der Entuferung sicherheitsstaatlicher Maßnahmen - im November 2008 setzte er sich für eine Gruppe radikaler französischer Aktivisten ein, deren Bauernhof unter einem durchsichtigen Vorwand von Antiterroreinheiten gestürmt wurde, um ihnen als angebliche Terroristen den Prozeß zu machen - dokumentiert er, daß Philosophie, wenn sie nicht jede gesellschaftliche Wirksamkeit verlieren will, den akademischen Elfenbeinturm verlassen und sich einmischen muß. In einer Gesellschaft, die einer rasanten Degeneration ihrer intellektuellen Möglichkeiten ausgesetzt ist, dem Verhängnis totalitärer Herrschaft entgegenzutreten, ist die Besinnung auf die Tradition des unerschrockenen Denkers und der streitbaren Parteinahme für die Schwachen und Ausgeschlossenen allemal vonnöten.

30. Januar 2009


Janine Böckelmann, Frank Meier (Hg.)
Die gouvernementale Maschine
Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens
Unrast Verlag, Münster, 2007
218 Seiten, 18,00 Euro
ISBN: 978-3-89771-456-4