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REZENSION/431: S. Gaycken, C. Kurz (Hg.) - 1984.exe (SB)


Sandro Gaycken, Constanze Kurz (Hg.)


1984.exe

Gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner Überwachungstechnologien



Ein um die zunehmende Überwachung des Menschen durch staatliche wie private Agenturen so allgegenwärtiger wie unauffälliger Kontrolle kreisendes Buch mag im ersten Moment nicht gerade zur Lektüre einladen. Man bekommt es mit einer Vielzahl detaillierter Sachinformationen, die in zum Teil gewöhnungsbedürftigem Fachjargon vermittelt werden, mit elaborierten soziologischen Theorien und abstrakten Reflexionen alltäglicher Sachverhalte zu tun, wieso also sollte sich eine Leserschaft über den Kreis des Fachpublikums hinaus mit der Lektüre eines solchen Buches befassen?

Sie wäre gut beraten, dies eher gestern als heute getan zu haben, da es bei der Durchdringung der individuellen Lebenswelt durch mikroelektronische Produktionsweisen und Kontrolltechniken immer um das Ganze der Vergesellschaftung des Menschen, den Spannungsbogen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, geht. Wie der schöne Titel "1984.exe" des vorliegenden Bandes mitteilt, ist die Ausführung der 1949 erstmals veröffentlichten Schreckensvision von der totalen Überwachungsgesellschaft in vollem Gange. 24 Jahre nach Verstreichen des Jahres 1984, in dem George Orwell seine negative Utopie angesiedelt hat, sind die zu ihrer Realisierung erforderlichen technischen Voraussetzungen in einem Ausmaße gegeben, von dem sich der gesellschaftskritische Engländer zu seiner Zeit kein Bild machen konnte.

Das von den Herausgebern Sandro Gaycken und Constanze Kurz als Kollaboration von Technikforschern und Technikaktivisten vorgestellte Buch führt Experten und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen zusammen, um die Unterschiede in ihrem Zugang zum Thema der Überwachungsgesellschaft mit einer Tour d'horizon fruchtbar zu machen, die von der differenzierten Darstellung der technischen Bedingungen der Observation über die politischen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Folgen ihres Einsatzes bis hin zum juristischen und ethischen Austarieren der antagonistischen Interessen von Beobachtern und Beobachteten das ganze Spektrum dieses Themenfelds umkreist.

Das Buch wendet sich an interessierte Laien und adressiert damit eine Zielgruppe, die angesichts der hohen Frequenz, in der Sicherheitspolitiker mit immer neuen Angriffen auf die Bürgerrechte aufwarten, deutlich zugenommen haben dürfte. Auch wenn die Kritik am Ausbau des Überwachungsstaats im Verhältnis zu sicherheitsstaatlichen Zumutungen, deren die Privatsphäre nicht nur penetrierender, sondern negierender Charakter in bewegteren Zeiten zu landesweiten Demonstrationen geführt hätte, vergleichsweise bescheiden ausfällt, könnte sich gerade an diesem Thema eine neue Bürgerrechtsbewegung entwickeln. Diese setzte sich nicht nur mit einer folgenreichen Kollektivverdächtigung, derer sich ein immer weiter auf das Vorfeld tatsächlicher Straftaten zugreifender, ganze Gruppen der Bevölkerung aufgrund ihres sozialen Status oder ihrer politischen Ausrichtung ins Visier nehmender Ermittlungsapparat bedient, auseinander, sondern wäre auch dazu genötigt, die durch die mikroelektronische Revolution der Produktionsweisen entwickelte Technik der Überwachung kritisch in Augenschein zu nehmen.

Zu diesem Zweck bietet "1984.exe" diverse Aufsätze an, anhand derer sich der interessierte Leser einen Einstieg in die komplizierte Welt informationstechnischer Überwachungsapparaturen und -systeme verschaffen kann. Die umfassend abgehandelten Auswirkungen des Pervasive oder Ubiquitous Computing legen den Schritt von der bloßen Nutzung mikroelektronischer Anwendungen zur kritischen Auseinandersetzung mit ihren Grundlagen und Verfahrensweisen nahe, ist doch der einzelne Mensch fast ständig von Agenten der Technosphäre umgeben, die sein Handeln und Tun datentechnisch verewigen.

So wird dankenswerterweise mit der der Komplexität und Eigendynamik moderner Kontrolltechniken gegenüber nicht nur naiven, sondern in ihrer obrigkeitshörigen Beflissenheit ausgesprochen dummen Ausrede, wer nichts zu verbergen habe, der habe auch nichts zu befürchten, aufgeräumt. Der Leser wird auf den Stand der Telefonieüberwachung gebracht, der durch die Entwicklung des Mobiltelefons zum ständigen Begleiter fast jedes Menschen eine das individuelle Bewegungsverhalten observierende Kompetenz zugewachsen ist, die in den denkbaren Weiterungen des administrativen Kontrollanspruchs menschheitsgeschichtlich völlig neue Formen der Herrschaftsausübung möglich macht.

In diesem Zusammenhang ist das Thema der Vorratsdatenspeicherung von erheblichem Belang, und die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht ihre Anwendung ad hoc eingeschränkt hat, sollte nicht zu dem Glauben verleiten, die durch die Aufbewahrung der Verbindungs- und Lokalisationsdaten ermöglichte zeitversetzte Durchleuchtung der Sozial- und Geschäftsbeziehungen wie des Bewegungsverhaltens des einzelnen sei außer Reichweite des Sicherheitsstaats gerückt. Die kritische Analyse der Praxis biometrischer Identitätsverifikation und grundlegende Überlegungen zur Politik der Videoüberwachung runden die Abhandlungen zur technischen Seite der Überwachungsgesellschaft ab. Letztere werden von dem Politikwissenschaftler Leon Hempel angestellt, in dessen Aufsatz der produktive Zusammenhang zwischen ziviler Überwachungstechnik und den Forschungen und Anwendungen militärstrategischer Planung hergestellt wird. Seine Ausführungen zur Interdependenz zwischen dem Präventionsstaat der westlichen Metropolengesellschaften und einer zusehends in die Städte des Südens verlegten asymmetrischen Kriegführung belegen die Relevanz der antiimperialistischen These von der repressiven Totalität interventionistischer Ordnungspolitik.

Überlegungen zur Effizienz der Videoüberwachung aus polizeilicher Sicht, zu den Kosten und Nutzen technisierter Überwachung, zum Datenschutz im allgemeinen und zur Praxis polizeilicher Überwachung im besonderen ergänzen das Verständnis der Technik durch ihre gesellschaftliche Praxis. Hier ist insbesondere der Aufsatz des Rechtswissenschaftlers Hans-Jörg Albrecht hervorzuheben, der die "Einbindung der Zivilgesellschaft in die Strafverfolgung und in die Herstellung von Sicherheit" (S. 133) kontrovers diskutiert und dabei aufschlußreiche Einblicke in den Wandel von technischer zu informeller Sozialkontrolle gewährt. Seine Analyse einer "Politik der Risikovorsorge" (S. 134) macht deutlich, daß die empirische Legitimation der zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung eingesetzten Überwachungsmethoden häufig hinter der politischen Durchsetzung des technisch Machbaren hinterherhinkt.

Die soziologischen und philosophischen Aufsätze zur Überwachungsgesellschaft widmen sich vor allem Fragen der herrschaftstechnischen Durchsetzung von Kontrolle, ihrer gesellschaftlichen Strukturierung und politischen Legitimation. So postuliert der Soziologe Werner Rammert eine eher dezentrale und fragmentierte Wirkweise der Datenmacht, die zusehends durch "gemischte Expertenkulturen und kombinierte Forschungscluster" (S. 192) manifest würde. Seiner These von der Existenz eines "Regimes verteilter Kontrolle", das die Ablösung "einer Makrosicht auf die panoptische Kontrolle und die Überwachungsgesellschaft" durch "eine differentielle Mikrosoziologie der Datenmacht" (S. 192) erforderlich mache, wäre entgegenzuhalten, daß die Verlagerung politischer Entscheidungen auf die supranationale Ebene EU-europäischer und internationaler Institutionen und die Globalisierung staatlicher Repression, die insbesondere am Beispiel des transatlantischen Abgleichs entsprechender Konzepte und Gesetze transparent wird, eher auf eine wachsende Konzentration administrativer Verfügungsgewalt schließen läßt. Bei aller Relevanz der in den Bürokratien der Regierungen und Verwaltung, der Institute der Wissenschaft und Politikberatung anberaumten Entscheidungsprozesse ist doch zu fragen, ob das Prinzip einer zusehends von der basisdemokratischen Willensbildung losgelösten Dezision, die sich gerade in der Sicherheitspolitik immer häufiger der autoritären Sondervollmachten des Krisenmanagements bedient, nicht zu offensiver Kritik an den Zentralen der Macht ermutigen sollte, anstatt sich mit den kleinen Erfolgen mühsamer NGO-Arbeit zufriedenzugeben.

Die Frage danach, wer wen kontrolliert, ist auch für den Technikphilosophen Niels Gottschalk-Mazouz von Bedeutung. In seinem Beitrag stellt er Überlegungen zum Eigeninteresse überwachter Subjekte an dem sie bedingenden Kontrollregime an, die an die häufig gestellte Frage anknüpfen, wieso heute aufwachsende Generationen so freizügig mit personengebundenen Informationen umgehen. Der von ihm geschilderte Übergang von der Überwachungs- zur Kontrollgesellschaft erfolgt mit Hilfe einer Verselbständigung der Informationstechnik zu einem durch inhärente Regulationsroutinen verfügten System verdachtsunabhängiger Überwachung, die auch einfache Anwendungen wie ein Textprogramm ausüben können, wenn sie sich über die datentechnische Infrastruktur Dritten öffnen. Den Anwendern bleibt, sofern sie überhaupt Interesse daran haben, nicht überwacht zu werden, kaum mehr als "Vertrauen darin, dass bestimmte Personen oder Gruppen bestimmte Dinge einfach nicht tun (werden), vor bestimmten Dingen schon warnen würden, wenn sie bedenklich wären usw." (S. 224).

Ein überaus bescheidener Anspruch an menschlichen Kontakt und politische Autonomie wird auch im Beitrag der Philosophin Jessica Heesen formuliert. Im Rahmen ihrer Untersuchung zur Entwicklung der Privatsphäre in "informationstechnisch bestimmten Lebenswelten" stellt sie die These auf, die informationstechnische Umwelt erscheine dem einzelnen als "soziales Gegenüber" und "verallgemeinerter Anderer" (S. 235). Die breite Akzeptanz des technischen Ersatzes legt den Schluß nahe, daß sich das politische Ferment gemeinsamen Handelns praktisch überlebt hat. Wenn die Allgegenwart umfassender, sich vermeintlich gegenseitig aufhebender technischer Observation eine "generelle Gleichheit der Kontrollmöglichkeiten" zur Folge hätte, so daß "Transparenz und nicht etwa Fremdbestimmung in den Vordergrund treten" (S. 237), dann stände der Massenkonversion des sozialen Wesens Mensch zur rundum zufriedenen IT-Monade nichts mehr im Weg.

Dabei stellt sich die Frage der Fremdbestimmung aus emanzipatorischer Sicht angesichts der Substitution bislang selbstverfügter Handhabungen und Lebensweisen durch technische Anwendungen immer drängender. Diese Entwicklung führt nicht nur zur Verarmung subjektiver Vielfalt in kognitiver, emotionaler und motorischer Hinsicht, sondern die technische Durchdringung der Lebenswelt ist stets normativen Charakters und strukturiert den Menschen praktisch nach Maßgabe ingenieurs- und programmiertechnischer Rationalität. Was einst als destruktive Auswirkung fremdbestimmter Arbeit aus gutem Grund bekämpft wurde, erobert in Form einer technischen Prothetik nicht nur den Lebensraum, sondern auch den Körper des Menschen, ohne daß die Frage, ob man mit dieser Form von Enteignung einverstanden ist, auch nur gestellt wird.

So kehrt sich das Versprechen auf mehr Kontrolle über das eigene Leben schon im Ansatz gegen das Interesse, am Umgang mit dem Fremden und Unvertrauten zu wachsen: "Kontextsensitive und mobile Anwendungen erlauben die Kontrolle über Situationen, indem sie Hilfsangebote bieten und stetig Kontakt zu anderen Orten und Personen ermöglichen, fremde Örtlichkeiten werden mit Hilfe eines personalisierten Nutzungsprofils erfahrbar gemacht" (S. 240). Die Einbettung des Menschen in eine informationstechnische Infrastruktur, die seine Neugier mit vorformulierten Antworten abspeist, seine Entscheidungen durch eine Weltsicht à la Wikipedia manipuliert, seine physischen Daten evaluiert und im Zweifelsfall die Behörden alarmiert, trägt dem Buchtitel "1984.exe" durchaus Rechnung.

Hinsichtlich ihres Gehalts an herrschaftskritischer Substanz lassen einige Beiträge allerdings zu wünschen übrig. So ist mitunter die fehlende Bereitschaft zu beklagen, zukünftige Entwicklungen zu antizipieren und - der Präventionslogik der Repressionsideologen durchaus adäquat - ihren Anfängen zu wehren. Wenn der Philosoph Karsten Weber in seinem Beitrag moniert, daß Florian Rötzer mit seiner Behauptung, die Identität von Personen ließe sich anhand ihrer Körperbewegungen feststellen, belegtermaßen falsch liegt, dann überzieht er mit dem Verweis auf den fließenden Übergang "pessimistischer Sichten" zu "Verschwörungstheorien" (S. 296) deutlich. Nichts spricht gegen seine Forderung, "ausschließlich präzise und überprüfbare Aussagen zu treffen" (S. 297), die Entwicklung biometrischer Systeme steckt jedoch noch in ihren Anfängen und hat das Potential der bereits seit längerem untersuchten Korrelation zwischen körperlichem Habitus und sich darin ausdrückender Intentionen längst nicht ausgeschöpft. In dem Forschungsansatz, auffällige Verhaltensweisen im öffentlichen Raum per Videoüberwachung zu identifizieren, sie verhaltenspsychologisch auszudeuten und im Vorfeld der aktualisierten Absicht zuzugreifen, steckt nicht nur die Qualifikation einer Verfügungsgewalt, die in dem Band anhand des Focaultschen Panopticons und der damit beschriebenen Internalisierung äußerer Kontrolle mehrmals thematisiert wird, in ihm feiert auch eine physiognomische Charakterlehre Urständ, die der biopolitischen Selektion delinquenten Lebens zuarbeitet.

Wo die Humangenetik längst nach dem "Verbrechergen" fahndet, wo die biologische Psychiatrie die Relevanz gesellschaftlicher Faktoren bei der Entstehung psychischer Erkrankungen zur unbedeutenden Marginalie degradiert und wo neurowissenschaftliche Vulgärphilosophie anhand der Negation der Willensfreiheit die Errungenschaften humanistischer Aufklärung für ungültig erklärt, ist man gut beraten, dem als paranoid stigmatisierten Mißtrauen gegenüber den Plänen der Sicherheitstechokraten Gehör zu schenken. Wenn die Vernunft einer Abwägung, die die Risiken persönlicher Lebensführung, beruflicher Anstrengung und gesellschaftlicher Entwicklung auf angemessene Weise ins Verhältnis zum Paternalismus staatlicher Gesundheitsfürsorge und Terrorismusabwehr setzt, zum Abschuß freigegeben wird, dann kann es nicht erstaunen, daß begründete Bedenken und Einsprüche als irrationale Übertreibung diskreditiert werden.

Richtiggehend ärgerlich ist es, wenn Weber am Schluß des Bandes fordert, daß "Informationsethik (...) nicht als bloße Tugendethik betrieben werden" (S. 297) dürfe. Seine Behauptung, "Tugenden taugen für den Nahbereich, aber nicht für eine globalisierte Welt" (S. 298), betreibt nichts anderes als die Kapitulation grundrechtlicher Prinzipientreue gegenüber der Dominanz repressiver Zwänge und kapitalistischer Interessen. Der von Weber propagierte Positivismus einer an den gesellschaftlichen und technischen Gegebenheiten orientierten Konsensbildung repräsentiert die Malaise eines politischen Denkens, dessen Gültigkeitsanspruch auch den verbliebenen Rest an demokratischer und emanzipatorischer Streitbarkeit eliminieren will. Das kann wohl kaum im Interesse eines ansonsten empfehlenswerten und aufschlußreichen Buches liegen, das sich mit einem klassischen Symbol des Kampfes gegen totalitäre Herrschaft schmückt.

28. März 2008


Sandro Gaycken, Constanze Kurz (Hg.)
1984.exe
Gesellschaftliche, politische und juristische Aspekte moderner
Überwachungstechnologien
transcript Verlag, Bielefeld, 2008
310 Seiten, 29,80 Euro
ISBN 978-3-89942-766-0