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REZENSION/328: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann - Das Jazzbuch (SB)


Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann

Das Jazzbuch

Von New Orleans bis ins 21. Jahrhundert



Auch wenn Jazz heutzutage keine Not mehr hat, seine Daseinsberechtigung als avantgardistische Kunstform und authentische Ausdrucksweise schwarzer Musikalität unter Beweis zu stellen, wird er im großen Geschäft der Musikindustrie stets eine marginale Stellung behalten. Das gilt umso mehr, je mehr sich die Musik von konventioneller, mainstreamkompatibler Melodik und Rhythmik löst. So wie der Jazz im Blues, einer in ihrer ungeschliffenen Form kaum weniger randständigen Kunst, seinen Ausgang nahm, so erreichte er im Free Jazz den Gipfel einer Emotionalität und Intensität, die gerade im Bruch mit der Ästhetik des gefälligen Harmonieklangs künstlerische Freiheit und Autonomie reklamierte. Auch wenn der normativen und formierenden Wirkung musikalischer wie gesellschaftlicher Konventionen und Konzeptionen nicht so leicht zu entkommen ist, wie es die in der Variation des immer gleichen Ordnungsdenkens resultierenden Versuche, neue Wege in alte Kreisbahnen zu eröffnen, glauben machen, hat gerade im Jazz die Bemühung um eine musikalische Sprache, die die ganze Vielfalt menschlicher Empfindungen und Ambitionen umfaßt, Blüten von seltener Schönheit und wilder Expressivität getrieben.

Wie Joachim-Ernst Berendt in dem von Günther Huesmann überarbeiteten und erweiterten Klassiker der genrespezifischen Literatur "Das Jazzbuch" ausführt, entstand der Jazz aus der Begegnung zwischen schwarz und weiß dort, wo diese am konfrontativsten verlief, im Süden der USA. Er legt mithin stets auch Zeugnis von sozialen Kämpfen ab, die bis heute nicht ausgefochten sind und den Jazz daher unauflöslich mit dem Blues als dem gesungenen Vermächtnis der aus Afrika verschleppten schwarzen Amerikaner verknüpfen. "Selbst im schlechtesten und verkommensten Jazz lebt noch etwas von der Empörung der unterdrückten Neger", schrieb der dem Jazz keineswegs wohlgesonnene Kommunist und Komponist Hanns Eisler einst und bekannte:

Hätte ich zu wählen zwischen dem übelsten Jazzschlager und einem unserer miesen Tangos oder gar dem Rennsteiglied: Ich würde den Jazz wählen.

Der 2000 verstorbene Joachim Ernst Berendt hatte als engagierter Musikjournalist und politisch engagierter Mensch weder das Problem eines ästhetischen noch bourgeoisen Dünkels. Er begriff den Jazz viel mehr als Ausdruck eines grundsätzlichen Strebens des Menschen nach Freiheit und Lebendigkeit, so daß seine Rolle mehr die eines die Vielfalt seines Gegenstands wie die eigene Subjektivität ergründenden Forschers als die eines bloßen Chronisten oder Sachwalters war. Bei aller Bemühung um die Erklärung, Systematisierung und Definition der Elemente des Musikstils, der als Jazz einen denkbar weitgefaßten Oberbegriff gefunden hat, stellte Berendt stets die Frage nach Sinn und Zweck einer Kunst, die in ihren entwickeltsten Formen alles andere als dem Massenkonsum zugänglich war.

So heißt es in dem das Buch beschließenden "Versuch über die 'Qualität Jazz'" zum eigenen Metier der Bewertung künstlerischer Leistungen:

Die Lebendigkeit des Jazz bringt es mit sich, dass ständig Maßstäbe über den Haufen geworfen werden - selbst dort, wo die alten Modelle und Einheiten verbindlich bleiben. Dadurch wird die Situation der Jazzkritik kompliziert. Man hat ihr vorgeworfen, dass sie keine Maßstäbe habe. In Wirklichkeit ist es bewundernswert, dass sie gleichwohl so viele besitzt. Oft geht die Entwicklung viel zu schnell voran, als dass Maßstäbe sinnvoll sein könnten, wie wir sie in der europäischen Musik oft erst eine oder zwei Generationen, nachdem eine Musik lebendig war, gebildet haben. Jazzmaßstäbe ohne Elastizität tendieren dazu, gewaltsam und intolerant zu werden. Wir wollen daran festhalten: Es kommt nicht darauf an, Maßstäbe zu haben und die Kunst an ihnen zu überprüfen, es kommt darauf an, Kunst zu haben und die Maßstäbe ständig neu an ihr zu orientieren.
(S. 850)

Berendt und Huesmann liefern im offenen Umgang mit ihrem Sujet das beste Beispiel für die produktive Dialektik aus der Gültigkeit künstlerischen Erfolgs und dem unvoreingenommenen Geist des Lernens und Forschens. Der Dynamik des künstlerischen Schaffensdrangs, des Überschreitens tradierter Grenzen und des aus den Konflikten biologischer wie gesellschaftlicher Existenz geborenen Schreis hält der mit kulturellen Normen und Werten verbundene positivistische Anspruch nicht stand. So betont Berendt abschließend noch einmal:

Der Jazz - auch das gehört zu seiner Lebendigkeit - ist hundert Jahre nach seiner Entstehung immer noch das, was er zur Zeit seiner Entstehung war: eine Musik des Protestes. Er protestiert gegen soziale, rassische und geistige Diskriminierung, gegen die Klischees der bürgerlichen Schubladenmoral, gegen die funktionierende Organisiertheit der modernen Massenwelt, gegen die Entpersonifizierung dieser Welt und gegen die Kategorisierung von Standards, zu deren Automatik es gehört, dass sie dort, wo ihnen nicht entsprochen wird, verurteilen.
(S. 850)

Die treibende Innovationskraft eines Miles Davis, die vitale Improvisationslust eines Charles Mingus, das geniale Soundarrangement eines Gil Evans, die exotische Fantasie eines Don Cherry, die rebellische Notenstürmerei eines Ornette Coleman, der kompositorische Weitblick einer Carla Bley und die spirituellen Aspirationen eines John Coltrane, um nur einige Heroen des Jazz zu nennen, trieben vor allem in den sechziger Jahren die musikalische Entwicklung derart voran, daß diese Ära heute noch simultan zur wohl schöpferischsten Phase der Rockmusik wegweisenden Charakter besitzt. Die Spuren der damaligen Sound- und Klangexperimente, des Strebens nach kulturübergreifenden Kollaborationen bei gleichzeitiger Aufarbeitung der afrikanischen wie europäischen Tradition lassen sich bis hinein in die Vielfalt der heutigen Weltmusik verfolgen, in der das schwarze Erbteil der amerikanischen Musik der USA wie der Karibik und Brasiliens in seine Heimat zurückgekehrt ist, um eine den Ländern des Südens genuine, gleichzeitig weltweit verständliche Form moderner Unterhaltungsmusik zu begründen.

Doch auch die zeitgenössische Populärkultur des Blues, Rocks und HipHops wird von den Impulsen des Jazz befruchtet. Das betrifft nicht nur die Phase des Jazz Rocks oder der Fusion, in der das bereits durch psychedelische Klangexkursionen mit dem Potential freier Improvisation vertraut gemachte Rockpublikum der sechziger und siebziger Jahre auf die künstlerische Vielfalt des Jazz aufmerksam wurde, sondern auch die berühmten sheets of sound, mit denen John Coltrane zahllose Rockmusiker zum Erkunden neuer musikalischer Möglichkeiten inspirierte und die spirituelle Dimension schon Jahre vor der Hippie-Ära erkundete. Einer der alten Geschichtenerzähler der Rockmusik, Lou Reed, hat nie ein Hehl daraus gemacht, woher er den entscheidenden Anstoß
dazu bekam, die elektrische Gitarre nicht als 'normales' Instrument, sondern als Feedbackinstrument (mit frei fließenden Tonhöhen) zu spielen - von Ornette Coleman, den Reed 1959 im New Yorker Club Five Spot gehört hatte. (S. 190).

Interessanterweise entstammen die großen Neuerer des Jazz häufig nicht, wie die landläufige Unterstellung, es handle sich um eine abstrakte Musik für Intellektuelle, nahelegt, großbürgerlichen Familien oder verfügen über einen akademischen Hintergrund. Wie im Blues handelt es sich häufig um Menschen, die ihre künstlerische Entwicklung und die Meisterung ihres Instruments nur deshalb inmitten großer Armut, moralischer Bigotterie und rassistischer Unterdrückung erreichten, weil sie die Einflüsse aufgriffen, die ihnen unmittelbar zur Verfügung standen, und diese mit allem Einsatz in ihre eigene Sprache verwandelten. So betonen Berendt und Huesmann im biografischen Kapitel über den aus einfachsten Verhältnissen stammenden, für den Free Jazz wegweisenden Saxophonisten Ornette Coleman, daß seine "freie Auffassung der Harmonik das direkte Ergebnis der harmonischen Freiheit ist, die die ländlichen Folk- und Bluesmusikanten des Südens je besessen haben" (S. 185). Für die Autoren besteht "kein Zweifel, dass Musiker wie Ornette Coleman, Archie Shepp, Pharoah Sanders, Albert Ayler der 'konkreten', volksmusikalisch harmonischen Ungebundenheit des field cry und des archaischen Folk Blues näher stehen als der 'abstrakten', intellektuellen europäischen Atonalität" (S. 29).

Was es mit der Geschichte des Blues und der fruchtbaren Verbindung zwischen der musikalischen Kultur der afrikanischen Sklaven und europäischen Einwanderer auf sich hat, wie sich die archaische Artikulation elementarer Not in eine elaborierte kompositorische Form übersetzte, wie die klassischen Instrumente der europäischen Musik für eine völlig neue Musikform adaptiert wurden, dies und vieles mehr erfährt der Leser in dem durchaus zur selektiven Lektüre einladenden "Jazzbuch". Es greift die schillernden Facetten dieser vitalen Musikkultur auf, indem diese unter kulturgeschichtlichen, stilistischen, musiktheoretischen, personellen, instrumentalen und sozialen Gesichtspunkten auf eine den Laien umfassend aufklärende wie Experten und Musiker in ihrem Wissen systematisierende und vervollkommnende Weise reflektiert wird. Das Werk befindet sich inhaltlich auf dem Stand des letzten Jahres, so daß auch jüngere Künstler wie der israelische Jazzmusiker Gilad Atzmon, der mit seiner eigenwilligen Interpretation der Musik des 20. Jahrhunderts und seinem politischen Engagement für die Palästinenser den Prototyp des kritischen Künstlers verkörpert, erwähnt werden. Ergänzt wird das Jazzbuch wie immer durch eine umfangreiche Diskografie mit den wichtigsten Platten des Jazz sowie einem Personenregister, das den schnellen Zugriff auf einzelne Künstler ermöglicht.

Der Begründer des 1953 erstmals aufgelegten "Jazzbuchs", der Journalist und Jazzexperte Joachim Ernst Berendt, und der in seiner Nachfolge für die Edition des "Jazzbuches" verantwortliche Musikjournalist und -wissenschaftler Günther Huesmann haben mit dem vorliegenden Buch nicht nur hinsichtlich seiner über 50jährigen Publikationsgeschichte und seiner internationalen Verbreitung einen Klassiker der Musikliteratur geschaffen und fortgeführt. Ihnen ist es zudem mit Hilfe einer gelungenen Symbiose aus musikwissenschaftlicher Terminologie, klangerfüllter Allegorik und poetischer Ausdrucksstärke gelungen, dem Jazz im Ohr des Lesers mit sprachlichen Mitteln Form und Sound zu verleihen.


Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann
Das Jazzbuch
Von New Orleans bis ins 21. Jahrhundert
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2005
927 Seiten
ISBN 3-10-003802-9


21.05.2006