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REZENSION/316: Andre G. Frank - Orientierung im Weltsystem (Ökonomie) (SB)


Andre Gunder Frank


Orientierung im Weltsystem

Von der Neuen Welt zum Reich der Mitte



Mit einem Besuch am 22. März in Peking haben die beiden einflußreichen US-Senatoren Lindsay Graham und Charles "Chuck" Schumer die Aufmerksamkeit der amerikanischen Medien erregt. Dies wundert nicht, denn der Republikaner aus South Carolina und der Demokrat aus New York drohen der Volksrepublik offen damit, im Kongreß ein Gesetz zu verabschieden, das sämtliche chinesischen Importe in die USA mit einem Strafzoll von 27,5 Prozent belegte. Dafür, daß diese drastische Maßnahme noch abgewendet wird, fordern Graham und Schumer von der chinesischen Regierung, daß die Zentralbank in Peking den Yuan im Verhältnis zum Dollar erheblich aufwertet. Ob eine dieser beiden Maßnahmen, Strafzoll oder Währungskorrektur, überhaupt geeignet wäre, das derzeit gigantische Handelsdefizit der USA gegenüber der Volksrepublik zu drosseln, ist jedoch zu bezweifeln. Der einmalige Auftritt in Peking, bei dem die beiden America-First-Populisten ihren Gastgebern "Merkantilismus" vorwarfen und von ihnen mehr "Demokratie" nach westlichem Muster verlangten, ist jedoch ein weiteres Indiz für die rasant eskalierenden politischen Spannungen in der Weltwirtschaft.

Am Besuch von Graham und Schumer in Peking hätte der letztes Jahr verstorbene, linke Wirtschaftstheoretiker Andre Gunder Frank mit Sicherheit seinen Spaß gehabt und ihn aller Wahrscheinlichkeit nach zum Anlaß für einige bitterböse Zeilen genommen. Der 1929 in Berlin geborene Frank, der als Kind mit seiner Familie vor den Nazis in die USA floh, studierte in den fünfziger Jahren an der Universität von Chicago Ökonomie. Dort ließ er es sich schon damals nicht nehmen, sich mit Milton Friedman anzulegen, der als Hauptvertreter dessen, was sich später vor allem dank Ronald Reagan und Margaret Thatcher als Neoliberalismus und Monetarismus über den ganzen Globus ausbreitete, berühmt werden sollte. Bei seinen Forschungsarbeiten in den fünfziger Jahren in der damaligen Sowjetrepublik Ukraine ging Frank den Fehlern der landwirtschaftlichen Kollektivierung nach. Aufgrund eines Artikels in der marxistischen Zeitschrift Monthly Review Mitte der sechziger Jahre wurde er mit einem Einreiseverbot in seine damalige Heimat USA belegt. Mit nämlichem Artikel über die Dependenztheorie, mit der Frank die Entwicklungshilfe als Herrschaftsinstrument westlicher Industrienationen konzipierte, avanzierte er zum Vordenker der Antiglobalisierungsbewegung.

Fortan führte die Karriere Frank durch Nord- und Südamerika sowie Europa, wo er an diversen Universitäten und Instituten arbeitete. Diese ausgedehnten Aufenthalte - darunter im Chile Salvador Allendes - ermöglichten ihm, sein Gedanken über die Makroökonomie und deren politischen Hintergründe immer mehr zu präzisieren. Im Laufe der Jahre brachte er es auf rund 40 Bücher, 140 Kapitel in Sammelbänden und 300 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. Zu seinen wichtigsten Werken zählen "Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika" (1968), "Abhängige Akkumulation und Unterentwicklung" (1980), "Widerstand im Weltsystem" (1990) sowie "ReORIENT: Global Economy in the Asian Age" (1998).

Der in Wien ansässige Promedia Verlag, der "Widerstand im Weltsystem" herausbrachte, hat Ende 2005 sozusagen im Andenken an einen der streitbarsten und mutigsten linken Wirtschaftstheoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts "Orientierung im Weltsystem - Von der Neuen Welt zum Reich der Mitte" aufgelegt. Das lediglich 160 Seiten starke Buch enthält vier Aufsätze aus den Jahren 2002 bis 2005, die einen guten Überblick über den Stand von Franks Denken gegen Ende seines langen Lebens bieten. Hierzu kommt, daß alle vier Essays dermaßen einfach und mit solch sarkastischem Humor geschrieben sind, daß jeder politikinteressierte Leser unabhängig von seiner wirtschaftlichen Sachkenntnis ein besseres Verständnis für die makroökonomischen Zusammenhänge unserer aller Welt bekäme. So liest man beispielsweise an einer Stelle zum Thema der vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank geforderten "Reformen" und Schuldenbegleichungen:

Als man den Mexikanern sagte, dass sie den Gürtel noch enger schnallen sollten, lautete die Antwort, das ginge nicht, denn den hätten sie gestern schon gegessen. (S. 127)

Im Kapitel "Geschichtswissenschaft und Sozialtheorie 'Re-ORIENTieren'" rechnet Frank mit dem eurozentrischen Geschichtsbild, das das Denken der Menschen in der westlichen Welt maßgeblich bestimmt, ab. Ihm zufolge bestand spätestens im 13. Jahrundert und damit lange vor der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus und dem Vorstoß Vasco Da Gamas in den Indischen Ozean eine globale Wirtschaft in Form mehrerer in Kontakt stehender Handelsregionen: das Südchinesische Meer, Zentralasien, der Golf von Bengalen, das Arabische Meer, der Persische Golf, das Rote Meer, der Mittelmeerraum und Europa. Im sogenannten "Aufstieg des Westens" sieht Frank lediglich ein Intermezzo, da China und Indien inzwischen ihre angestammten Führungspositionen in der Weltwirtschaft wieder einnehmen.

Mit "Das Scheitern der Sowjetunion und Osteuropas" liefert Frank auf nur 14 Seiten für das Mißlingen der Wirtschaftsreformen der früheren kommunistischen Staatselite um Männer wie Michail Gorbatschow eine Erklärung ab, für die man hinsichtlich Schlüssigkeit und Bündigkeit ihresgleichen suchen müßte. Zu dieser Analyse der damals weltbewegenden Entwicklungen gehört unter anderem der Verweis auf ähnliche Schwierigkeiten, in die zur gleichen Zeit die kapitalistischen Entwicklungsländer Lateinamerikas und Afrikas gerieten. In den beiden Essays "Papiertiger und Feuerdrache" und "Uncle Sam, ohne Kleider, auf dem Parademarsch rund um China und die Welt" setzt sich Frank mit der vielleicht wichtigsten geopolitischen Frage dieser Tage, nämlich nach dem Verhältnis zwischen der völlig überschuldeten und fortschreitend deindustrialisierten Supermacht USA und der neuen und alten "Werkbank der Welt", China, auseinander. Ähnlich früheren Rivalitäten um die Weltherrschaft wie zwischen dem British Empire und dem deutschen Kaiserreich ging Frank bis zuletzt davon aus, daß Washington und Peking über kurz oder lang militärisch aneinandergerieten.

Mit seiner "produktiven Renitenz", wie Gerald Hödl sie im Vorwort nennt, hat sich Andre Gunder Frank um die Entzauberung herkömmlicher Wirtschaftsdogmen verdient gemacht und eine ganze Reihe namhafter Kollegen wie William Engdahl, Barry Gills, Michael Hudson und Mark Weisbrot inspiriert. Laut Frank geht es in der kapitalistischen Ökonomie niemals in erster Linie um irgendwelche Zahlen oder nebulöse Konzepte wie Konjunktur, sondern um handfeste politische Interessen, die von den stärksten Kräften rücksichtslos durchgesetzt werden. Es ist eine Ironie der Geschichte, daß gerade im Todesjahr Franks dessen theoretische Erörterungen über das Wesen des amerikanischen Raubrittertums von einem Insider, dem ehemaligen NSA-Mitarbeiter John Perkins, in dem Enthüllungsbuch "Schakal der Wirtschaftmafia" vollends bestätigt werden sollten.


Andre Gunder Frank
Orientierung im Weltsystem
Von der Neuen Welt zum Reich der Mitte
Aus dem Englischen von Gerald Hödl, Hans-Heinrich Nolte
und der Zeitschrift Wildcat
Verlag Promedia, Wien, 2005
160 Seiten
ISBN: 3-85371-238-X

24. März 2006