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REZENSION/297: Didi Zill - American Wrestling (Fotoband) (SB)


Didi Zill


American Wrestling

Photos 1992-1998



Scheinbar leblos liegt der Mann am Boden. Sein verschwitztes Gesicht halb von langen, strähnigen Haaren verdeckt. Im Hintergrund nimmt ein Berg von Mensch Anlauf, springt hoch hinauf, um seinem Opfer in einem finalen Akt der Zerstörung den Ellbogen ins Kreuz zu rammen. Sekundenbruchteile vor dem Aufprall dreht sich der Liegende blitzschnell zur Seite, schnappt sich eines der baumstammdicken Beine des Überraschten, biegt es wuchtig empor und ... eins, zwei, drei! Der Kampf ist vorbei, die Zuschauer brüllen, pfeifen und pöbeln. Diesmal hat der Böse über den Guten gesiegt, und das regt die Leute furchtbar auf. Die meisten jedenfalls, andere dagegen sind hellauf begeistert und recken ein Schild mit dem Namen ihres Lieblingsschurken empor. Wir sind beim American Wrestling, dem Ringen nach amerikanischer Art.

Das bedeutet: viele Masken und Tattoos, Oberarme fleischig wie Schweinelenden, völlig verrückte Manager, auf Köpfe niederkrachende Stühle, notorisch unaufmerksame Ringrichter und, ja, und natürlich Fehden noch und nöcher. Unverbrüchliche Freundschaften wechseln mit zornesglühenden Feindschaften, Treueschwur kehrt sich in hinterhältigen Verrat. Der Verstoß gegen die Regel, nicht ihre Einhaltung erweitert die sportliche Aufführung um eine ungeheure Sozialdynamik - wir sind nicht bei der griechischen Tragödie und nicht beim Shakespearschen Schwank, wir sind beim American Wrestling.

Gebannt schaut das Publikum dem Treiben auf der mit Ringseilen umgürteten Bühne zu. Es lebt, lacht und leidet mit, wenn die schwergewichtigen Akrobaten mühelos wirkende Kapriolen schlagen, um dann in wohl abgestimmter Koordination laut klatschend aufeinanderzuprallen. Der Zuschauer wird nicht genötigt, auf seinem Stuhl zu verharren und der Vorführung "beizuwohnen" - das Wrestling führt das Schauspiel auf seine Urform zurück, bei der das "theatron", wie im antiken Griechenland bei der Aufführung die Abteilung für die Zuschauer genannt wurde, ein zentraler Bestandteil des Geschehens war und bezeichnenderweise dem Theater insgesamt seinen Namen verlieh.

Beim Wrestling ist der Zuschauer stets ganz dicht dran, was umgekehrt bedeutet, daß die Wrestler ganz dicht am Zuschauer sind, viel dichter, als diese womöglich ahnen. Mag der Klammergriff des Wrestlers um Hals oder Arm seines Kontrahenten noch so eng sein, er bleibt äußerlich und ist unbedeutend verglichen mit dem feinfühligen Griff auf die Emotionen des Publikums. Es spielt keine Rolle, ob es die Choreographie durchschaut. Sieht man von Kindern ab, glaubt kaum jemand ernsthaft, daß ein Hulk "The Maniac" Hogan Jahr für Jahr vor jedem Kampf vor lauter Wut und unbändiger Kraft gar nicht anders kann, als sein T-Shirt zu zerreißen und es in die Zuschauermenge zu werfen. Oder daß sich ein Lex "The Narcissist" Luger in kaum erträglicher Eitelkeit zunächst einmal vor einem mannsgroßen Spiegel in Positur stellt und seine Muskeln schwellen läßt, um sich noch einmal ihrer unvergleichlichen Bewunderungswürdigkeit zu versichern.

Obwohl, irgendwie scheinen die Gesten und Rituale der Wrestler mehr als bloße Inszenierungen zu sein. Wenn sich der eine für unwiderstehlich hält und der andere manische Schübe bekommt, vielleicht, so fragt sich der Zuschauer, ist ja doch nicht alles geschauspielert. Und vielleicht, so wäre anzufügen, hält der Narziß Lex Luger den Spiegel weniger sich als vielmehr denen vor, die ihn beim Muskelspiel und dem anschließenden Kampf im Ring betrachten ...

Der Fotograf Didi Zill war mit dem vorliegenden Fotoband "American Wrestling" auf seine Weise ganz dicht dran, so dicht, wie es nur wenigen Fotografen beim Wrestling vergönnt war. Das hat er mit seinem üppig bebilderten Werk trefflich unter Beweis gestellt. Zill präsentiert Porträts einzelner Wrestler und "Tagteams", daneben private, sehr familiäre Begegnungen mit den Recken und natürlich mannigfaltige Kampfszenen im und am Ring. Das Großformat des 272 Seiten umfassenden Buchs ist angemessen und läßt bei allen Lesern, die den Zeitraum 1992 bis 1998 dieses in die Moderne geretteten akrobatischen Wandertheaters namens Wrestling miterlebt haben, den Funken von damals wieder überspringen.

Die permanente Ungewißheit des Zuschauers vor dem Fernseher oder in der Wrestling-Halle, ob er gerade einem Schauspiel folgt oder einer ernstgemeinten Auseinandersetzung, ist beabsichtigt, sie ist Programm. Selbstverständlich sind die Kämpfe abgesprochen, die Rollen vorher verteilt, und doch wird dem Zuschauer nicht der Zweifel genommen, ob die groben Griffe und schmerzhaften Streckungen, ob die wortlauten Streits und schwersten Beleidigungen oder der Triumph des Siegreichen und die Gram des Verlierers nicht doch ein Fünkchen "Wahrheit" hinter den Charakteren enthalten.

Beispielsweise stand der 1999 bei einem tragischen Unfall im Ring ums Leben gekommene kanadische Wrestler Owen Hart stets im Schatten seines älteren Bruders Bret, dem "Sharpshooter", einem langjährigen Publikumsliebling bei der World Wrestling Federation. Bis eines Tages der jüngere der Harts aufbegehrte, ein richtig Böser wurde, Intrigen sponn und es dem Älteren heimzuzahlen versuchte. Der Bruderzwist, ein klassisches Thema von der Antike bis heute, wurde von den beiden Harts samt ihrer Familie dem Publikum über Monate hinweg so glaubhaft dargeboten, als sei der Streit "echt" ... was er vielleicht ja auch war.

Der Dramaturgie des American Wrestlings erliegen Erwachsene ebenso wie Kinder. Gemeinsam können sie sich die Kämpfe der Heroen anschauen und wenigstens für eine kurze Zeit in eine andere Welt eintauchen, die ihnen bunt und unterhaltsam vorgegaukelt wird. Solch einen Freiraum gibt es im heutigen Unterhaltungskommerz selten, noch am ehesten erzeugt auf dem Jahrmarkt oder im Zirkus, deren Traditionen das American Wrestling auf seine Weise aufgegriffen, verarbeitet und fürs Medium Fernsehen kompatibel gemacht hat.

Den Wrestlern wird manchmal vorgeworfen, sie würden nicht wirklich ringen, sondern nur so tun als ob. Solche Einwände sind offensichtlich aus ignoranter Borniertheit geboren und zeugen von der völligen Verkennung der dargebotenen sportlichen Höchstleistungen. Zudem wird mit diesem Argument logischerweise eingefordert, daß sich die Wrestler tatsächlich absichtlich verletzen sollten, damit ordentlich Blut fließt und alles "echt" ist. Für Kinder wäre die Show dann ungeeignet, und der besondere Flair des Wrestlings, daß am Ende auch die Verlierer wieder aufstehen oder - wenn die Dramaturgie es gebietet - spätestens beim nächsten Auftritt wieder in alter Frische erscheinen, ginge dadurch verloren. Im übrigen: Selbst wenn beim Wrestling der Kniestoß in den Bauch des Gegners vor dem Aufprall abgebremst wird - wer von den Zuschauern möchte sich ernsthaft mit einem der Ringer auf eine Auseinandersetzung einlassen? Wenn ein 150 Kilogramm schwerer "Bam Bam Bigelow" ein Rad schlägt und aus zwei Metern Höhe auf seinen Gegner fällt, dann ist es niemandem zu wünschen, jemals unter solch eine Ramme zu liegen zu kommen.

Das American Wrestling verbindet Akrobatik mit Schauspielkunst und geht damit auf zwei Traditionen aus dem "alten" Europa zurück, das Ringen und das Theater. Das Wrestling wurde von irischen Einwanderern nach Amerika gebracht, heißt es in einer kurzen Einführung des vorliegenden Fotobands, und es stütze sich letztlich auf das Ringen im antiken Griechenland. Zu ergänzen wäre, daß auch der darstellende Anteil des American Wrestlings, den der Promoter Vince McMahon jr. nach der Übernahme der World Wrestling Federation von seinem Vater 1982 erheblich ausgebaut hatte, im europäischen Kulturraum wurzelt.

Es darf also beim American Wrestling von einem kulturellen Re- Import nach Europa gesprochen werden. Die Parallelen des heutigen Wrestlings zur Commedia dell'arte, dem mittelalterlichen italienischen Stegreifspiel, das Anleihen an der klassischen griechischen Tragödie nahm und seinerseits Vorbild für Theaterformen in Frankreich, Spanien, England und Deutschland wurde, sind nicht zu übersehen. In der Commedia dell'arte gab es feste Charaktere, die den Zuschauern vertraut waren und bestimmte Menschentypen wiedergaben - nichts anderes präsentieren die Wrestler; die Schauspieler trugen Masken, die die Gesichter zur Hälfte bedeckten - die Maske ist beim Wrestling ein unverzichtbares Utensil; und es wurden Abläufe inszeniert, die der "Concertatore" (Manager und Regisseur) in groben Zügen festgelegt und hinter der Bühne auf ein grobes Tuch, "Canevas" genannt, geschrieben hatte - Sieger und Verlierer der Kämpfe sowie Fehden der Wrestler folgen einem Drehbuch.

Die aufgeführten Stücke der Commedia dell'arte konnten den Zuschauern in groben Zügen bekannt sein, aber die Dialoge und Szenen waren nicht erstarrt, das Stegreifspiel, die Improvisation lieferte der dargereichten Speise die nötige Würze. Dabei erlebten die Zuschauer ein Wechselbad der Gefühle, wie ein Zeitzeuge berichtete:

Und abends gehen sie ins Theater und sehen und hören das Leben ihres Tages, künstlich zusammengestellt, artiger aufgestutzt, mit Märchen durchflochten, durch Masken von der Wirklichkeit abgerückt, durch Sitten genähert. Hierüber freuen sie sich kindisch, schreien wieder, klatschen und lärmen.

Ein gewisser Johann Wolfgang von Goethe schrieb diese Eindrücke von der Commedia dell'arte in seinem Bericht "Italienische Reise" (1786) nieder, als er in Venedig Station machte. Mit nur geringfügigen zeitgemäßen Modifikationen hätte es auch die Beschreibung der Zuschauer einer heutigen Wrestling-Veranstaltung sein können.

Der Fotoband Didi Zills zeigt mit 394 farbigen Abbildungen, daß das American Wrestling die traditionellen Charaktere des Wandertheaters durch moderne Figuren ersetzt hat. Wobei einige von ihnen durchaus auf den gleichen Menschenschlag abzielen, wie er bereits im Mittelalter zum besten gegeben wurde - offenbar hat sich der Mensch im Laufe der Jahrhunderte weniger gewandelt, als er es gerne hätte. Da gab es beispielsweise den "Capitano", auch "Hauptmann", "Eisenfresser" oder "Bramarbas" genannt. Diese zentrale Figur der Commedia dell'arte taucht beim American Wrestling sogar in vielen Charakteren wieder auf. Es ist der Angeber, der Prahlhans, der seine vermeintlichen Heldentaten so lautstark hinausbrüllt, daß dabei sogar das Klappern seines Harnischs übertönt wird, wie es in einer der Beschreibungen des mittelalterlichen Schauspiels heißt.

Andere Wrestler-Charaktere erinnern ebenfalls an klassische Vorlagen, der Narziß wurde hier bereits erwähnt. Der "Stupidus", jener (kahlköpfige) Tölpel oder Hanswurst, läßt sich abgewandelt in vielen modernen Wrestling-Figuren wiederfinden, und der Spaßmacher von einst wurde von Ringern wie "Doink" verkörpert, der allerdings als fieser Clown auftrat und einen ebenso fiesen Zwillingsbruder besaß. Das wußten aber nur die Zuschauer, nicht der Wrestling-Gegner, und so kam es zu einem bösen Verwechslungsspiel mit Zwillingen, über das sich die Zuschauer schon vor Jahrhunderten, je nach Darstellung, den Bauch vor Lachen halten mußten oder echauffierten. Nicht zu vergessen der "Scaramuccio", ein Maulheld und Windbeutel erster Güte - Wrestling-Kenner werden ihn unzweifelhaft in der Figur des Jerry "The King" Lawler wiederfinden.

Manche Typen dagegen sind eher ein Produkt der heutigen Gesellschaft. Da versuchte einst Sid Vicious mit dem hochtrabenden Titel "Ruler of the World" ein weltumspannendes Imperium zu gründen ... zumindest in der Wrestling-Szene. Und die bei Kindern äußerst beliebte Figur "Mankind" zeichnete sich durch eine Verschrecktheit aus, die schon autistische Züge annahm. Ebenfalls sehr beliebt ist der jugendlich wirkende Shawn Michaels, von dessen Fähigkeit zur Selbstdarstellung sich manche Popgröße eine Scheibe abschneiden könnte. Didi Zill widmet ihm mehrere Seiten, unter anderem mit Porträts, in denen der "Bin-ich- nicht-phantastisch?-Blick" von Michaels ausgezeichnet eingefangen wurde.

Die Figur des "Undertakers" verkörpert bis heute mehr als bloß den Berufsstand des Leichenbestatters. Der Undertaker scheint mit dem Tod im Bunde, er hat bereits mythische Züge des Sensenmanns angenommen, dem er die Seelen seiner unterlegenen Gegner zukommen läßt. Wie Didi Zills Fotoband zeigt, wurde der Undertaker in den neunziger Jahren noch vom weißgesichtigen, gnomhaften Paul Bearer gemanaged. Unter Begleitung düsterer Orgelmusik, nebelschwadenumwabert, zog dieses gruftige Gespann beim Betreten der Wrestling-Halle sofort alle Blicke auf sich: Bearer, feierlich eine Urne mit der Seele seines Schützlings vor sich hertragend, dahinter die finstere Figur des Undertakers, der nicht aus der diesseitigen Welt zu entstammen schien. Seine Opfer - und derer gab es viele - pflegte er in einen Sarg zu stecken und aus der Wrestling-Halle zu schieben. Die furchtsamen Gesichter der kleinen (und manchmal auch der großen) Zuschauer, wenn der Dunkle gemessenen Schritts an ihnen vorüberglitt, sprachen Bände.

Diese ganz große Zeit des American Wrestlings hat Didi Zill mit dem vorliegenden Band bewahrt. Groß bedeutet in diesem Fall, daß in den neunziger Jahren in den USA und Europa das größte Geschäft mit den Shows gemacht wurde. Die Organisationen World Wrestling Federation (heute World Wrestling Entertainment), World Championship Wrestling und später die New World Order wurden auch in Europa bekannt und erzielten eine Zeitlang bedeutende Zuschauerzahlen. Daß die Wrestling-Euphorie Ende der neunziger Jahre stark abflaute, dürfte einerseits mit einer generellen gesellschaftlichen Entwicklung zu tun haben, bei der den Menschen Unbeschwertheit und Träume ausgetrieben werden, andererseits mit dem Geschäftsgebaren der Eigentümer der Shows, die hofften, mit gesteigerten Reizen - mehr Gewalt, die unzweideutige sexuelle Anspielungen einschlossen - eine höhere Zuschauerquote zu erreichen. Dabei wurde der Bogen überspannt, das Konzept ging nicht auf. Einen Verlierer zu verspotten ist eine Sache, ihn zu erniedrigen und zu entwürdigen eine andere. Zudem schadeten Skandale um Drogen und Steroide dem Image der Wrestler, die den Kindern schon mal die Mahnung mit auf den Weg gaben, in der Schule gut aufzupassen und fleißig zu trainieren, damit sie es im Leben zu etwas brächten.

Der Abwärtstrend konnte nicht mehr aufgehalten werden, das Wrestling-Geschäft platzte wie die Dotcom-Blase. Allerdings wurden hier wie da einige Unternehmungen weitergeführt. Das Wrestling war an-, aber nicht ausgezählt. Noch immer tragen einige der alten Heroen gemeinsam mit vielen neu hinzugekommenen Ringern Woche für Woche ihre Fehden aus, lassen sich vom Publikum bejubeln und liefern eine gute Show. Das ist an den Fernsehmachern nicht vorbeigegangen, inzwischen wächst das Interesse wieder an den muskelbepackten Ringern in ihren schrillen Kostümen.

Das gemeinsame Agieren einer relativ geschlossenen Truppe mit der Darstellung von zeittypischen Charakteren hat mittlerweile so viele Kulturepochen überdauert und mit dem Wrestling den Sprung ins Medienzeitalter des 21. Jahrhunderts geschafft, da wird es sich auch nicht vom Korsett aus unternehmerischer Expansionsnot, von der Reizübersättigung der Zuschauer und der Abhängigkeit der Veranstalter von Werbeverträgen die Luft nehmen lassen. Ein Beleg dafür ist der gelungene Bildband des Fotografen Didi Zill. Und wer weiß, vielleicht trägt dieses anschauliche Werk zur Achtung und Fortentwicklung der traditionsreichen Kultur der ringerischen Auseinandersetzung, phantastischen Akrobatik und des dramaturgischen Figurenspiels in der Form des American Wrestlings hüben wie drüben des Atlantiks bei.


Didi Zill
American Wrestling
Hulk Hogan, Bret Hart, Randy Savage, Ric Flair, Sting, The
Undertaker, Owen Hart, Alex Wright, The Giant ...
Photos 1992-1998
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin, 2005
Zweisprachig Deutsch-Englisch
272 Seiten, 394 farbige Abbildungen
Hardcover, Großformat 24x30 cm, Euro 49,90
ISBN 3-89602-653-4

14. Dezember 2005