Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/291: Horst Herrmann - Die Folter (Politik) (SB)


Horst Herrmann


Die Folter

Eine Enzyklopädie des Grauens



Solange Menschen teilbar und beherrschbar sind, weil sie ihr Glück und Wohlergehen aus Not und Leid des anderen beziehen, bleibt Folter unausweichlich eine Option dies durchzusetzen. Daraus folgt Zweierlei: Zum einen kann niemand für sich die Hand ins Feuer legen, daß er unter keinen Umständen bereit wäre, einem anderen Menschen eigenhändig die schrecklichsten Qualen zuzufügen, wenn eine wie auch immer geartete Konstellation dies zu erzwingen scheint. Zum andern ist das Bestreben, Verfügung über Menschen auch durch Anwendung der Tortur zu gewinnen, da dies die Ratio des Überlebens gebietet, untrennbar mit der Qualifizierung von Zugriffsgewalt verbunden. Ist man auch nur im mindesten bereit, sich dieser menschheitsgeschichtlichen Entwicklungslogik zu fügen, wird man immer Gründe und Umstände finden, die eine Zufügung grausamster Schmerzen im Dienst übergeordneter Zwecke geboten erscheinen lassen.

Weltadministrative Kräfte ergreifen ihre Opfer längst an jedem beliebigen Ort der Welt, um sie in ihre Geheimgefängnisse und Folterkeller zu verschleppen, wo sie auf unabsehbare Zeit gequält und nicht selten umgebracht werden. Dank der militärischen, logistischen und politischen Machtmittel, die sich in Händen der globalen Führungsmacht konzentrieren, kann diese die uneingeschränkte Verfügung über Leib und Leben als unverzichtbar für die eigene nationale Sicherheit beanspruchen und durchsetzen. Ihr zur Seite steht eine Kette abgestufter Teilhaberschaft, die einen Platz im Gefüge der Herrschaft einfordert und dafür ihre Dienste abzuleisten hat.

Da noch die grausamste Gewaltherrschaft der Beteiligung ihrer Untertanen bedarf, muß ihre schrankenlose Willkür in die Form eines Rechtssystems gegossen werden, um die Barbarei vorgeblich von Partialinteressen zu emanzipieren. Dann erst tritt sie den Unterworfenen als eine unanfechtbare Ordnung gegenüber, die dadurch jedoch nichts von ihrer Grausamkeit und Vernichtungsgewalt einbüßt, sondern im Gegenteil den Charakter unumkehrbarer Entwicklungslogik gewinnt. Um den fortgesetzten Abbau rechtlicher Standards durchzusetzen, wird das Konzept eines Feindes konstruiert und etabliert, der den Status eines gleichartigen menschlichen Wesens und damit einen gleichrangigen Rechtsanspruch nicht für sich reklamieren kann.

Mit dem von langer Hand geplanten und realisierten Entwurf des "Terroristen" schuf man einen Gegner, dem die Eigenschaften und Rechte eines menschlichen Wesens abgesprochen werden. Ähnlich verhält es sich mit ausländischen Staatsbürgern, die gefangengenommen und als "feindliche Kombattanten" im weltweiten Krieg gegen den Terrorismus eingestuft worden sind. Sie bleiben in einem rechtlosen Zustand eingekerkert und können sich weder als Kriegsgefangene auf die Genfer Konvention berufen, noch wie Strafgefangene Rechtsbeistand, Haftprüfung und ein Verfahren beanspruchen.

Derzeit geht der US-Kongreß daran, eine Entscheidung des Obersten Gerichts zu revidieren und den Gefangenen im Marinestützpunkt Guantánamo Bay das Klagerecht vor US-Gerichten wieder zu entziehen. Sollte diese Initiative Gesetzeskraft erlangen, wäre allen mühsamen Versuchen, Guantánamo rechtsstaatlich zu begegnen, der Boden entzogen. Die Gefangenen blieben weiterhin absolut rechtlos und hätten nicht einmal die Chance, ihre Inhaftierung von US-Gerichten überprüfen zu lassen.

Wie Horst Herrmann schreibt, wurde die Folter in der neueren Geschichte der westlichen Welt im Strafverfahren ebenso abgeschafft wie in vielen Ländern die Todesstrafe. Obgleich aber die Vereinten Nationen die gesetzmäßige und gerichtliche Folter schon lange geächtet haben, sei die Hoffnung unbegründet, daß Menschen aufhören, andere Menschen zu quälen, um Geständnisse zu erzwingen oder um sie zu demütigen. Zwar nehme man in Westeuropa die Folter zumeist nur noch als Schicksal von Flüchtlingen aus anderen Weltgegenden wahr, doch zeigten Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, wie einzelne Reaktionen auf die Terrorgefahr oder die Folterandrohung an einen Kindesentführer durch einen leitenden Polizeibeamten, daß auch in Deutschland das uneingeschränkte Verbot immer wieder zum Diskussionsgegenstand wird.

Der Autor verweist auf das Argument der Befürworter von Folter, daß es für Sicherheitskräfte zweckmäßig sei, aus "Terroristen" das Versteck einer Bombe oder aus Kindesentführern das Versteck der Kinder herauszufoltern, um das Leben Unschuldiger zu retten. Auch halte diese Denkweise Folter für das schnellste und sicherste Mittel, Verbindungen zwischen einem Verhafteten und anderen Verdächtigen sowie deren Sympathisanten aufzudecken. Auch in Deutschland seien schon wieder viele Menschen dafür, Folter gegen "verstockte Leugner" zu legalisieren. Insbesondere nach dem 11. September 2001 seien in dieser Hinsicht Dämme gebrochen, wobei Herrmann den Harvard-Professor Alan M. Dershowitz und den Bundeswehr-Historiker Prof. Michael Wolffsohn als Beispiele anführt.

Eine 'heilige Sache', die stets die eigene ist, erzeugt noch immer sehr verläßlich jenes gute Gewissen, das rücksichtslose Brutalität und gewissenlosen Terror erlaubt, und sogar als Heldentat überhöht (Hubert Gundolf). Folter und Tötung werden heute in einem Maße praktiziert, das die Welt noch nie gekannt hat und das selbst die Jahrhunderte der Inquisition in den Schatten stellt. Foltern war und ist in aller Regel keine 'Privatsache' einiger weniger sadistischer Einzeltäter. Das Mißhandeln und Entwürdigen von Menschen geschieht vielmehr im Interesse und Auftrag von Regierungen und anderen machtausübenden Institutionen, wird von eigens dazu legitimierten Organen angewandt und erfüllt eine politische Funktion.
(S. 8/9)

Horst Herrmanns lebensgeschichtlicher Werdegang weist ihn als einen Menschen aus, der mehr als einmal Zweifeln den Zuschlag gegeben hat, auch wenn ihn dies die eingeschlagene berufliche Karriere kostete. Im Jahr 1940 geboren, wurde er als jüngster deutscher Universitätsprofessor der Theologie 1970 zum ordentlichen Professor des Kirchenrechts an die Universität Münster berufen. Nach schweren Auseinandersetzungen um seine Forschung und Lehre wurde ihm bereits 1975 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen: der erste Fall in der Bundesrepublik. Nach jahrelangen neuen Streitigkeiten (erstes und einziges sogenanntes Lehrbeanstandungsverfahren der Deutschen Bischofskonferenz) und der kirchenoffiziellen Verurteilung wegen Häresie (auch durch den Vatikan) wechselte er 1981 in den Fachbereich Sozialwissenschaften und hat in Münster einen Lehrstuhl für Soziologie inne.

Horst Herrmann ist seit 1977, auf Vorschlag von Heinrich Böll und Walter Jens, Mitglied des PEN. Außerdem ist er Begründer der feministisch-infantistischen Patriarchats- und Väterforschung (Paternologie) sowie Herausgeber der Bibliothek des Querdenkens (München). Von ihm liegen 42 Bücher (in mehrere Sprachen übersetzt) und über 200 Beiträge zu religions- und patriarchatskritischen Themen vor. Er hat immer wieder Denkanstöße für breite öffentliche Diskussionen geliefert und gilt als profiliertester Vertreter seines Fachgebiets.

Herrmanns Intention ist aufklärerischer Natur, und so hofft er den Leser durch die Konfrontation mit dem akribisch aufgelisteten Arsenal an Folterpraktiken aufzurütteln:

Die meisten Menschen haben sich bewußt oder unbewußt für eine bestimmte Strategie im Umgang mit dem Grauen entschieden. Sie lautet: "Amnestie durch Amnesie". Verdrängen, Vergessen, Leugnen, Lügen. In unserem Land, das Kaiseralleen, Königstraßen und einen Kurfüstendamm kennt, finden sich kaum Orte oder Plätze, die nach den Opfern benannt sind.
(S. 10)

Wie er weiter ausführt, machten uns die Bilder und Berichte von den Mißhandlungen irakischer Gefangener durch US-Soldaten erneut bewußt, daß das Zeitalter der Folter keineswegs abgeschlossen sei. Als wirksames Mittel gegen diese Unmenschlichkeit gelte das Öffentlichmachen dieser Grausamkeiten, da der größte Feind der Folterer eine breite Öffentlichkeit bleibe.

Daß die Folterknechte ihr Werk vorzugsweise im Geheimen verrichten und Öffentlichkeit die wirksamste Waffe bleibe, um ihnen das Handwerk zu legen, muß spätestens seit Abu Ghraib als widerlegt gelten. Sich in Siegerpose auf drangsalierten Irakern in Positur zu stellen, geht über einen Schnappschuß fürs Familienalbum hinaus, ist doch die Verbreitung dieser Taten mithin zu einem Bestandteil der Folterpraxis geworden. Mit der Nationalgardistin Lynndie England bestätigte auch die Hauptfigur des Folterskandals, daß sie und ihre Kollegen nicht aus Lust oder Langeweile, sondern auf ausdrücklichen Befehl der Vorgesetzten des Militärgeheimdienstes gehandelt hatten.

Zwar wurde weiterhin verschleiert, daß Folter in den Gefangenenlagern keine Ausnahmeerscheinung, sondern gängige Praxis von Pentagon und CIA sind, doch was den Tätern in den untergeordneten Chargen ein brutalisiertes Wesen oder Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer attestieren mag, ist für die Auftraggeber Mittel zum Zweck, die Folterdrohung durch die mediale Verbreitung zu vervielfachen und die Erniedrigung für die psychologische Kriegsführung des Besatzungsregimes zu funktionalisieren.

Angst und Schrecken der Folterkeller dienen seit jeher nur bedingt der Erzwingung des Verrats, zumal die Experten dieses Gewerbes besser als jeder andere wissen, wie fragwürdig auf diese Weise erlangte Informationen sind. Geständnisse abzupressen, ist indessen nur einer unter mehreren Zwecken der Folter, die aus vielerlei Gründen und in allen erdenklichen Formen praktiziert wird. So werden Menschen gequält, um sie zu strafen oder zu brechen, damit sie nie wieder die Hand gegen ihre Peiniger erheben, in Prozessen die gewünschten Aussagen liefern, ihre Funktion und Fähigkeit im Kontext einer Opposition verlieren und vieles andere mehr.

Es wäre ein fataler Irrtum anzunehmen, daß die gegenwärtig in Medien und Parlamenten geführte Folterdebatte dem entschiedenen Kampf gegen diese Praktiken dient und deshalb uneingeschränkt zu begrüßen sei. Im Gegenteil ist zu befürchten, daß sie die Akzeptanz der Folter fördert und der Legalisierung ihrer Anwendung den Weg bereitet. Der Kurzschluß aufklärerischer Hoffnung, daß die Öffentlichkeit Folter um so mehr ablehne und sich für ihre Ächtung engagiere, je höher ihr diesbezüglicher Informationsstand sei, unterschlägt den Effekt von Gewöhnung und Abstumpfung: Es kommt einem heute schon normal und harmlos vor, worüber man sich gestern noch zutiefst entsetzt hat.

Politik bedient sich tagtäglich mit Erfolg der Vorgehensweise, den Bürgern zugedachte Grausamkeiten portionsweise zu verabreichen, und dies gilt um so mehr für die Durchsetzung eines repressiven Regimes. Folter wird längst nicht mehr verheimlicht, sondern im Gegenteil als unverzichtbare Handlungsoption zur Gefahrenabwehr eingefordert. Da kann einem der Ruf nach Recht und Gesetz schon im Halse steckenbleiben, wenn er de facto dazu führt, daß Foltermethoden auf diesem Wege legalisiert werden. Herrmann, der ja selbst entsprechende Beispiele und Tendenzen nennt, bleibt in seiner Argumentation inkonsistent und widersprüchlich, wenn er in seinem abschließenden Ruf nach Öffentlichkeit hinter den zuvor erreichten Stand der von ihm ansatzweise skizzierten Debatte zurückfällt und die Problematik unzulässig auf den Mangel an Information und Aufklärung reduziert.

Er hat mit seinem Buch "Die Folter. Eine Enzyklopädie des Grauens" ein umfassendes Lexikon der historischen und aktuellen Foltermethoden vorgelegt, in dem er die Vorgehensweise der Folterknechte und Henker aufführt sowie historische Quellen und Beispiele zitiert. Die Irritation des Lesers, der sich nach einer notdürftigen Einführung von nur sieben Seiten mit weit über 300 Seiten in alphabetischer Reihenfolge aufgelisteter Folterpraktiken konfrontiert sieht, wächst sich zu einem tiefen Unbehagen aus, dem man nur schwerlich fruchtbare Aspekte abgewinnen kann. Wenn Herrmann seine Ausführungen mit der minutiösen Schilderung einer grausigen Hinrichtung als Spektakel unter größter öffentlicher Anteilnahme beginnt, später die kindliche Schaulust im Gruselkabinett der Folterwerkzeuge als weiteres Negativbeispiel zitiert und sich dann selbst auf Hunderten von Seiten in der Darstellung der Tortur ergeht, fällt die Antwort schwer, was die Darbietung einer Überfülle des Grauens von bloßer Reflexion auf den Voyeurismus unterscheiden soll. Will man sich aber daranmachen, dem Verdrängen des Grauens Paroli zu bieten, ist diesem Anliegen damit ein Bärendienst erwiesen.

Mag sein, daß auch das Lektorat gewisse Zweifel beschlichen haben, da es von Verlagsseite zu dem Buch heißt, das Ergebnis sei nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein historisches Grundlagenwerk. Als Grundlagenwerk mag man es gelten lassen, wenngleich man sich von einer Enzyklopädie ein Nachschlagewerk erhofft, das im vorliegenden Fall in seiner Nutzanwendung recht beschränkt sein dürfte. Die Warnung an den Leser, daß es sich andererseits auch um nicht mehr als ein Grundlagenwerk handle, er sich dem Inhalt also nicht mit unangemessenen Erwartungen nähern dürfe, kollidiert indessen mit dem erklärten Anspruch des Autors, Öffentlichkeit zu schaffen. Wenn er sein Buch denn doch als Beitrag zur aktuellen Folterdebatte verstanden haben will, die in den letzten Jahren an Umfang und Tragweite beträchtlich zugelegt hat, bleibt dieses Vorhaben leider schon im Ansatz stecken.


Horst Herrmann
Die Folter
Eine Enzyklopädie des Grauens
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2004
384 Seiten, Euro 24,90
ISBN 3-8218-3951-1

15. Nobember 2005