Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/224: M. Davis - Die Geburt der Dritten Welt (Imperialismus) (SB)


Mike Davis


Die Geburt der Dritten Welt

Hungerkatastrophen und Massenvernichtung
im imperialistischen Zeitalter



Irgendwann im Leben dürfte sich jeder Mensch einmal die Frage gestellt haben, wie es zu Armut und Reichtum in der Welt gekommen ist und warum einige Menschen Hunger leiden, andere hingegen nicht. Wer daraufhin nicht in religiösen Antworten Zuflucht sucht und alles für die Folge höherer Fügung hält, wird unweigerlich zu der Erkenntnis vorstoßen, daß sich in der menschlichen Gesellschaft bestimmte Interessen gegenüber anderen durchsetzen und daß sich deren Vorherrschaft an Namen von Personen, Institutionen und Staaten festmachen läßt.

Des weiteren wird er bemerken, daß zur Rechtfertigung der Hegemonie der reichen über die armen Staaten die Erde in vier vermeintlich natürlich gewachsene Welten unterteilt wurde - wobei davon im Sprachgebrauch fast ausschließlich Bezeichnungen wie "Dritte Welt" oder "Drittweltländer" übriggeblieben sind - und daß jene Staaten, die solch einer diffamierenden Kategorisierung unterworfen wurden, den ihnen zugewiesenen Platz an der vermeintlichen Peripherie selbstverständlich nicht freiwillig eingenommen haben.

Dem vorliegenden Buch "Die Geburt der Dritten Welt" ist anzumerken, daß sich dessen Autor Mike Davis einiges von der Bereitschaft, unbequemen Fragen nachzugehen, bewahrt hat und daß er nicht bereit ist, die üblichen Erklärungsmuster für die Entstehung menschlicher Not zu übernehmen. Im Unterschied zur traditionellen Geschichtsschreibung und Wirtschaftswissenschaft repetiert er nicht die historischen Ereignisse, wie sie sich aus der Sicht der Herrschenden darstellen, sondern nimmt den Standpunkt jener Menschen, Völker und Staaten ein, die dem imperialistischen Vormachtstreben der "Ersten Welt" zum Opfer fielen. Bereits in seinem Vorwort wendet sich Davis gegen die auch heute noch in der Wissenschaft verbreiteten Ansicht, daß die drei weltweiten Hungerwellen zum Ende des 19. Jahrhunderts eine unabwendbare und nicht zu kompensierende Folge natürlicher Vorgänge (Klima, Sonnenzyklen, etc.) waren:

Wir haben es mit anderen Worten nicht mit 'Hungerländern' zu tun, die im Brackwasser der Weltgeschichte ins Abseits gerieten, sondern es geht um das Los der Menschheit in den Tropen, das sich just zu einem Zeitpunkt (1870-1914) änderte, als deren Arbeitskraft und Produkte zwangsweise in die Dynamik der von London gesteuerten Weltwirtschaft integriert wurden. Millionen starben nicht außerhalb des 'modernen Weltsystems', sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen. (S. 18)

Was wir heute die "Dritte Welt" nennen, schreibt Davis, sei "ein Produkt der Einkommens- und Vermögensungleichheiten". Diese seien entstanden, "als man begann, die großen Bauernschaften außerhalb Europas in die Weltwirtschaft zu integrieren" (S. 25). Es habe damals noch keine dramatischen Einkommensunterschiede z w i s c h e n den Gesellschaften gegeben - entscheidender sei die Kluft gewesen, die i n n e r h a l b einer Gesellschaft die Bauern von ihren jeweiligen herrschenden Klassen getrennt habe. "Am Ende der Herrschaft von Königin Viktoria war jedoch die Ungleichheit zwischen den Nationen so groß wie die Ungleichheit zwischen den Klassen. Die Menschheit war unwiderruflich geteilt." (S. 25)

Aus einst relativ gut funktionierenden und die Folgen von Naturkatastrophen unter anderem mit Hilfe traditioneller Vorratshaltung abfedernden Staaten wie China und Indien - die freilich ihre eigene Unterwerfungsgeschichte hinter sich hatten, auf die Davis nicht näher eingeht - wurden verarmte Produktionsländer, die vom britischen Empire militärisch unter Druck gesetzt oder unterworfen wurden, so daß sie einerseits für den Bedarf in Großbritannien produzierten und andererseits der britischen Exportwirtschaft als Absatzmarkt dienten. Speziell Chinas erzwungene Öffnung zur Modernität hatte dort zu einem deutlichen Rückgang traditioneller staatlicher Investitionen im ländlichen Raum sowie in der öffentlichen Wohlfahrt und damit zu einer verheerenden Verarmung der Bevölkerung geführt.

Der Autor versteht sein Buch als "Arbeit über die 'Politische Ökologie des Hungers'". So lautet auch der Titel des vierten und letzten Oberkapitels, in dem er die vorangehenden Teile analytisch zusammenführt. Vor dem Hintergrund einer alle paar Jahre weltweit gleichzeitig auftretenden, verheerende Dürren und Überschwemmungen nach sich ziehenden Umkehr bestimmter klimatischer Verhältnisse, die El Niño oder fachsprachlich ENSO (El Niño/Southern Oscillation) genannt werden und deren Entdeckung durch die Wissenschaft ein eigenes Kapitel gewidmet ist, zeigt Davis, daß die imperialistischen Mächte im Viktorianischen Zeitalter den Tod vieler Millionen Menschen (die Schätzungen liegen zwischen 31,7 und 61,3 Mio. in den Hungerperioden 1876-79 und 1896-1900) nicht nur in Kauf genommen, sondern absichtlich herbeigeführt haben:

Millionen starben nicht außerhalb des 'modernen Weltsystems', sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen. Sie starben im goldenen Zeitalter des liberalen Kapitalismus; viele wurden, wie wir sehen werden, durch die dogmatische Anwendung der heiligen Prinzipien von Smith, Bentham und Mill regelrecht ermordet. (S. 18)

Trotz der ungünstigen natürlichen Voraussetzungen in El-Niño- Jahren hätte es keineswegs zum Massensterben unter den Bevölkerungen der "Dritten Welt" kommen müssen, erklärt Davis, auch wenn im Zuge einer typischen El-Niño-Erscheinung beispielsweise in Indien der regenreiche Monsun ausgeblieben war und weite Landesteile von Dürre heimgesucht wurden. An ausgewählten Beispielen belegt der Autor, daß die traditionelle (und heute noch von "Experten" geschmähte) Subsistenzwirtschaft, die natürlich keinen nennenswerten Mehrwert abwarf, der von den Kolonialherren hätte abgeschöpft werden können, gezielt zerstört wurde. Unter der Knute der Kolonialverwaltung der Vizekönige Lytton, Elgin und Curzon exportierte Indien selbst in schweren Dürrejahren unverdrossen reichlich Getreide nach Großbritannien, während die Menschen neben den von bewaffneten Soldaten bewachten Getreidelagern an den Verladestationen der Bahnhöfe dahinsiechten und wie die Fliegen verendeten.

An diesem Beispiel wird noch etwas anderes deutlich, das sich auf heutige Verhältnisse übertragen läßt: Entgegen der Behauptung der damaligen britischen Kolonialverwalter war die technologisch fortschrittliche Eisenbahn nicht der überragende Entwicklungsmotor für die indische Wirtschaft und keineswegs Garant für Wohlstand und Sicherheit, sondern vielmehr ein Mittel zur Steigerung der Ausbeutung.

Es ist wenig bekannt, daß ein Jahrhundert vor dieser Zeit ein indischer Bauer besser gestellt war als ein Bauer in Großbritannien. Davis schreibt dazu, daß sich "das stereotype Bild vom indischen Arbeiter als halbverhungerter Tropf im Lendenschurz angesichts aktueller Daten beim Vergleich der Lebensstandards als völlig falsch" (S. 295) erwiesen hat. Und der Autor räumt noch mit weiteren Vorurteilen der bornierten europäischen Sichtweise auf:

Aufgrund der höheren Bodenproduktivität in Südindien war dort die Ernährung der Weber und der anderen Handwerker besser als die des Durchschnittseuropäers. Noch wichtiger war, dass ihre Arbeitslosigkeit tendenziell niedriger lag, weil sie vertragsrechtlich besser geschützt waren und ökonomisch mehr Druck ausüben konnten. Selbst die kastenlosen Agrarproduzenten in Madras verdienten real mehr als die englischen Landarbeiter. (S. 296)

Zur Strategie der Exploitation in den Ländern Indien und China, die Davis neben Brasilien schwerpunktmäßig behandelt, zählte die zwangsweise Umstrukturierung der Landwirtschaft weg von der Subsistenz hin zu "cash crops" wie Baumwolle oder Weizen, die allein für den Export bestimmt waren. Zu den weiteren Zwangsmaßnahmen Großbritanniens zählten: Abwertung fremder Währungen und damit Erzeugung eines erheblichen Kaufkraftverlusts; gnadenloses Eintreiben der Steuern bei verarmten Kleinbauern auch in Zeiten höchster Not; Umwidmung der eigentlich als Hungerhilfe vorgesehenen Gelder für Kriegszwecke; Verbot des Baus eigener Brunnen zur Bewässerung der Landwirtschaft und Ersatz durch erosionsfördernde Kanäle, die nicht annähernd ihre Funktion erfüllten; Enteignung von Gemeindeland; Einrichtung von Hungerhäusern, in denen die Menschen zum langsamen Sterben verdammt waren, und vieles mehr.

Das Buch bietet eine derartige Vielzahl an Fallbeispielen, die jeden Zweifel ausräumen, daß nicht natürliche Bedingungen, sondern politische Entscheidungen ausschlaggebend für das enorme Ausmaß des Hungers waren, daß sich der Rezensent manchmal eine umfassendere Einordnung der Einzelfaktoren in den Gesamtzusammenhang der menschenvernichtenden Mangelwirtschaft durch den Autor gewünscht hätte.

Auf dem Einband von "Die Geburt der Dritten Welt" wird mit zwei Bildern treffend illustriert, wie grausam die Folgen des "glorreichen" britischen Kolonialismus für die "Dritte Welt" waren. Oben sehen wir Vizekönig Lytton, lässig auf seinem Thron sitzend und anscheinend mit so gewichtigen Gedanken befaßt, daß er seinen Kopf mit dem Arm abstützen muß. Um den Thron herum drei indische Diener, stehend, wohlgenährt und offenbar entschlossen, den obersten Repräsentanten der imperialistischen Ordnung (und natürlich die eigene privilegierte Stellung am Hofe) mit ihrem Leben zu verteidigen.

Darunter sehen wir das Bild einer Gruppe bis auf die Knochen abgemagerter, mit Lumpenfetzen spärlich bekleideter Menschen, einige von ihnen ebenfalls den Kopf abstützend, aber nicht aufgrund von demonstrativer Bedeutungsschwere, sondern physischer Entkräftung. Davor, auf dem Boden sitzend oder liegend, Hungernde, die nichts mehr außer ihrem letzten Fünkchen Leben verteidigen. Diese ins Bild gesetzte Gegenüberstellung von arm und reich verdeutlicht die rassistische Einteilung in vermeintliche Über- und Untermenschen und ist ein gelungenes Stilmittel, auf das der Autor zur Ergänzung und Vertiefung im laufenden Text mehrfach zurückgreift.

Das vorliegende Buch wurde mit dem World History Association Book Award ausgezeichnet, was nur angemessen ist angesichts der üblichen Verklärung des Viktorianischen Zeitalters als Erfolgsgeschichte der britischen (und eigentlich westeuropäischen) Zivilisation. Die Übersetzung aus dem Amerikanischen hat der Deutsche Übersetzerfonds e. V. gefördert. Das hat sich unter anderem im differenzierten Umgang mit dem Begriff "holocaust" positiv niedergeschlagen. Im angloamerikanischen Sprachraum wird "holocaust" nur dann großgeschrieben, wenn es um die Vernichtung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland geht; in allen anderen Zusammenhängen würde die Kleinschreibung gewählt werden. Diese Unterscheidungsmöglichkeit besteht im Deutschen nicht, weshalb der Leser hierzulande unter "Holocaust" immer die Judenvernichtung verstehen würde. Aus diesem Grund haben die Übersetzer für "holocaust" den Begriff "Massenvernichtung" gewählt und damit den von Davis intendierten Sinn genau getroffen.

Leider wird der Gesamteindruck des Werks hin und wieder durch kleinere Unstimmigkeiten getrübt, von denen hier nur eine genannt werden soll. In der Abbildung 9.1 (S. 301) zum Thema "Weltweite Zahlungsvereinbarungen" aus dem Jahre 1910 sollen die Handelsbeziehungen zwischen den Großräumen, bzw. Staaten der Erde mit Hilfe von Pfeilen, denen jeweils ein Geldwert zugeordnet ist, dargestellt werden. Allerdings fehlt die Zahlenangabe beim Pfeil zwischen "Canada" und "Continental Europe"; zudem sind die Zahlungsvereinbarungen zwischen "United States" und "Turkey" sowie "Turkey" und "Continental Europe" zwar zahlenwertig aufgeführt, aber da die jeweilige Pfeilspitze fehlt, bleibt es unklar, in welche Richtung die Zahlungsvereinbarungen führen sollen.

Ansonsten erfüllt Davis sämtliche Ansprüche einer wissenschaftlich fundierten und soliden Arbeit, die inhaltlich und methodisch nichts zu wünschen übrig läßt. Hunderte von Fußnoten von häufig zeitgenössischen Quellen belegen Davis' Thesen und bieten die Möglichkeit zu eigener Recherche; Fotos, Karten, Tabellen und einige vorangestellte Definitionen zu Begriffen wie "El Niño" oder "Hunger (-kausalität)" sowie ein Glossar und ein Personenindex erleichtern den Nachvollzug und das Manövrieren im Text.

Indem der Autor die politischen Vorgänge jener im Entstehen begriffenen Weltenordnung des auslaufenden 19. Jahrhunderts schildert, eröffnet er dem Leser gleichzeitig ein Füllhorn an Anregungen, die ihn über die Aussagen des Buchs hinausgehend erkennen lassen, daß sich an den unterdrückerischen Mitteln und Mechanismen der Herrschaftssicherung bis heute nichts geändert hat und lediglich die Umstände, unter denen sie zur Anwendung gelangen, andere sind. Das von Davis beschriebene Viktorianische Zeitalter, jene Ära, in der Großbritannien seinen Machtanspruch mit Pulverdampf, kaltem Stahl und einem auf eigenen Vorteil bedachten Finanzsystem in die entlegendsten Regionen der Welt trug, war ein wichtiger Schritt zu einer Globalisierung, die bis heute nicht abgeschlossen ist.

Mit "Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter", wie es im Untertitel heißt, erfüllt der Autor vor allem deshalb die Kriterien einer gelungenen historischen Analyse, weil er zwar einen zeitlich begrenzten Sachverhalt beschreibt, aber dabei seinen Lesern Übertragungswege auf die heutige Zeit offenhält. So sei in Fortsetzung von Davis' Buch "Die Geburt der Dritten Welt" das Resümee gezogen: Die Dritte Welt wird ständig neu geboren.


Mike Davis
Die Geburt der Dritten Welt
Hungerkatastrophen und Massenvernichtung
im imperialistischen Zeitalter
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2004
464 Seiten, 29,50 Euro
ISBN 3-935936-11-7