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REZENSION/201: Jean Hatzfeld - Nur das nackte Leben (Ruanda-Genozid) (SB)


Jean Hatzfeld


Nur das nackte Leben

Berichte aus den Sümpfen Ruandas



Zehn Jahre nach dem Völkermord von Ruanda sind im deutschsprachigen Raum mehrere Bücher erschienen, die sich dieses hierzulande bis dahin nur wenig beachteten Themas widmen. Unter diesen wird in "Nur das nackte Leben. Berichte aus den Sümpfen Ruandas" ein höchst eigenwilliger Weg beschritten, die Ereignisse zu verarbeiten. Der Autor Jean Hatzfeld läßt die politische "Großwetterlage", vor dessen Hintergrund der Genozid stattgefunden hat, ganz und gar beiseite und beschränkt sich darauf, vierzehn Überlebende, von denen alle das Gemetzel hautnah miterleben mußten, ihre persönlichen Erfahrungen schildern zu lassen. Jeden der vierzehn Berichte leitet der Autor mit einer kurzen Beschreibung seiner Anreise zu den Gesprächspartnern ein, beschreibt dabei Landschaften, Tiere, Pflanzen und die Menschen in den Dörfern, um diese scheinbare Idylle dann mit den aufrührenden Berichten der Genozid-Überlebenden zu kontrastieren.

Der Völkermord an rund 800.000 Tutsi und moderaten Hutu durch Interahamwe-Milizen und Soldaten der Hutu-Regierung setzte am 6. April 1994 ein, unmittelbar nach dem Absturz des damaligen ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana beim Landeanflug auf Kigali, und wurde nach rund einhundert Tagen von der in Uganda aufgebauten Rebellenarmee RPA des Tutsi und früheren stellvertretenden militärischen Geheimdienstchefs Ugandas, Paul Kagame, beendet. Hatzfeld und auch die von ihm befragten Genozid- Überlebenden verwenden die Formulierung "Absturz" zur Beschreibung der Begleitumstände des gewaltsamen Tods Habyarimanas. Damit werden als gesichert geltende Hinweise verschleiert, denen zufolge der ruandische Präsident, sein burundischer Amtskollege Cyprien Ntaryamira - ebenfalls ein Hutu -, sowie mehrere hochrangige ruandische Militärs und Politiker im Auftrag des Rebellenführers Kagame mit Boden-Luft-Raketen abgeschossen wurden.

Wenn das zutrifft, und die - freilich offiziell unterschlagenen - Indizien sind sehr überzeugend, dann hätte ausgerechnet ein Tutsi den Auftakt zum Völkermord an seiner eigenen Ethnie geliefert. Es läßt sich gut vorstellen, daß das politischer Sprengstoff ist. Der kam bislang nur deswegen nicht zur Explosion, weil einflußreiche Kräfte der internationalen Gemeinschaft, allen voran die USA, die UNO und Britannien, die Lunte rechtzeitig ausgetreten haben. Deshalb lautet heute die allgemein verbreitete Lesart des Völkermords von Ruanda, daß Hutu- Extremisten ihren eigenen Präsidenten abgeschossen hätten, weil sie ihn angeblich für zu kooperativ hielten und sein 1993 mit Kagame abgeschlossenes Friedensabkommen ablehnten.

Aus dieser Debatte hält sich Hatzfeld offenbar bewußt heraus, vielleicht weil es schon ausführliche Aufarbeitungen des Ruanda- Genozids gibt, vor allem aber, weil er die Betroffenen selbst zu Wort kommen lassen will, wie er in seiner Einleitung schreibt:

Es wird lange dauern, bis die Geschichte des Völkermords in Ruanda geschrieben sein wird. Ziel dieses Buches ist es jedoch nicht, die Stapel der schon veröffentlichten Untersuchungen, Dokumentationen und Romane - manche darunter sind hervorragend - weiter anwachsen zu lassen. Es soll einzig und allein darum gehen, dass die fast unglaublichen Erzählungen Davongekommener gelesen werden können. (S. 9)

Diesen Zweck erfüllt das Buch tatsächlich, Augenzeugenberichte vom Ruanda-Genozid sind in dieser Ausführlichkeit selten. Der Autor hat den Betroffenen, die bislang nicht über ihre Erlebnisse gesprochen haben, eine Stimme gegeben. Es sind Menschen, die sich wochenlang im Sumpf verstecken mußten, tagsüber vollständig von Schlamm bedeckt und immer in der Furcht, von den machetenschwingenden Hutu-Milizen entdeckt und abgeschlachtet zu werden. Da verschlägt es dem Leser schier den Atem, wenn er den Bericht einer Tochter vernimmt, die mit ansehen mußte, wie ihre Mutter von den Mördern aus dem Sumpf gezerrt wurde und wie sie ihr, das Flehem um einen raschen Tod spottend, Arme und Beine abhackten, so daß sie erst nach drei qualvoll langen Tagen und Nächten, in denen die Tochter ihr zu trinken geben konnte, verschied.

Regelmäßig kurz vor Sonnenuntergang waren die Hutu aus den Sümpfen abgezogen, nur um am nächsten Tag wiederzukommen und die Suche nach Opfern von neuem zu beginnen. Ähnliches berichtete auch ein Lehrer, der mit vielen anderen vor den Völkermördern auf einen Hügel geflüchtet war und sich dort tagelang versteckt gehalten hatte, bzw. immer rechtzeitig vor seiner Entdeckung fliehen konnte. Die Hutu betrachteten ihr blutiges Tun offensichtlich als Arbeit, und sie machten stets pünktlich Feierabend, um anschließend ihr "erfolgreiches" Waidwerk ausgelassen zu begießen.

In dieser Hinsicht ist das Buch mehr als reine Betroffenheitslektüre. Denn die Augenzeugen widersprechen mit ihren Berichten fundamental der Behauptung einiger prominenter Angeklagten des Ruanda-Tribunals, deren Verteidigungsstrategie lautet, daß es keine Pläne zum Völkermord gegeben, sondern daß es sich vielmehr um die spontane Entzündung von Gewalt gehandelt habe.

Leider trägt der in Madagaskar geborene, später als Weltenbummler umherziehende und schließlich im Jugoslawien-Krieg als Fotoreporter arbeitende Hatzfeld, der in Sarajewo schwer am Bein verletzt wurde, ausgerechnet mit der von ihm gewählten Form des Augenzeugenberichts mit dazu bei, daß jene simplifizierte Täter-Opfer-Interpretation eines angeblich ethnisch bedingten Haßkonflikts zwischen Hutu und Tutsi bestätigt wird. Diese Deutung des Ruanda-Genozids hatte in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre der NATO als Legitimation gedient, militärisch in Jugoslawien zu intervenieren. Nie wieder wolle man einen Genozid wie in Ruanda zulassen, hatte es unter Strömen von Krokodilstränen geheißen, um den Völkermord anschließend für die eigenen militärischen Interventionsabsichten zu instrumentalisieren.

Clinton, Albright, Annan und viele mitverantwortliche Politiker mehr haben sich später bei den Ruandern dafür entschuldigt, dem Morden tatenlos zugesehen und nicht eingegriffen zu haben. Wer aber den Ablauf der Ereignisse näher kennt, weiß, daß die Beteiligung der Sicherheitsratsmitglieder und der UNO nicht einfach nur passiv war, sondern daß der Genozid von außen regelrecht herbeigeführt wurde.

Denn wer in den ersten Tagen der Massaker Hals über Kopf Blauhelmsoldaten aus dem Land abzieht, wer Monate vorher mehrere dringende Warnungen des UN-Kommandanten der Ruanda-Mission ignoriert, wer dessen Flehen um eine Mandatserweiterung und Aufstockung seines Kontingents verweigert, wer das Anlegen von geheimen Waffenverstecken durch Hutu-Milizen wissentlich zuläßt, wer die Aufklärung des Habyarimana-Attentats just in dem Moment abbricht, als überraschende Hinweise auf die Hauptverantwortung des am Army Command and Staff College in Leavenworth (Kansas) in Kriegführung und Militärstrategie ausgebildeten Tutsi Paul Kagame aufkommen, der ist somit sowohl am Zustandekommen des Genozids als auch an der Behinderung seiner restlosen Aufklärung in höchstem Maße aktiv beteiligt. Damit sollen die Hutu nicht entschuldigt werden, denn sie hatten den Genozid von langer Hand geplant. Aber die Schwarz-weiß-Malerei in großen Teilen der westlichen Welt sowie bei den siegreichen Kagame-Rebellen, die ab Juli 1994 die Kontrolle über die Hauptstadt und weite Landesteile besaßen und bis heute an der Regierung sind, ist völlig fehl am Platze.

In einem Nachwort zu "Nur das nackte Leben" bemüht sich Hans- Jürgen Wirth unter dem Titel "Genozid und kollektives Trauma" um eine psychoanalytische Einordnung der Ereignisse. Damit genügt er zwar durchaus den Ansprüchen seiner Fachrichtung, doch wirkt dies - entgegen der Unmittelbarkeit der Augenzeugenberichte - wie ein Vermittlungsversuch, um letzten Endes den Glauben an das Gute im Menschen zu retten. Wirth wäre besser beraten gewesen, hätte er es bei seiner anfänglichen Einschätzung belassen, in der er schrieb:

Wer sich mit der schier unvorstellbaren Bestialität, Grausamkeit, Unbarmherzigkeit konfrontiert - und sei es auch nur als Leser -, dessen Vorstellungsbilder vom Wesen des Menschen werden in Frage gestellt. Wer diese Berichte gelesen hat, sieht den Menschen und die Welt mit anderen Augen. Der Leser isst gleichsam vom Baum der Erkenntnis und wird damit aus dem Paradies verstoßen. (S. 236)

Wirth schreibt in diesem Zusammenhang vom Bewußtwerden "der Naturhaftigkeit, der Tierhaftigkeit des Menschen". Doch selbst das ist noch untertrieben. Zwar frißt im Tierreich einer den anderen, aber nur wenige Tiere quälen ihre Beute, und die Bereitschaft der Spezies Mensch, Vertreter der eigenen Art zu quälen, ist unübertroffen. Wenn diese Erkenntnis den Lesern ihren Platz im Paradies kostet, sollten sie dann nicht vielmehr froh sein, das etymologisch "Einfriedung" bedeutende Paradies endlich verlassen zu haben, anstatt wie Wirth wieder dorthin zurückkehren zu wollen?

Das vorliegende Buch aus dem Psychosozial-Verlag leistet keine politische Bewertung des Ruanda-Genozids, es handelt nicht vom wirtschaftlichen Niedergang des Landes Ende der achtziger Jahre aufgrund der eingebrochenen Weltmarktpreise für Kaffee, und es handelt ebenfalls nicht von den enormen Spannungen, die sich in der Bevölkerung aufgrund der von IWF und Weltbank durchgesetzten Abwertung des ruandischen Franc und Streichung der staatlichen Subventionen für die Kaffeeproduzenten aufbauten. Es geht auch nicht auf das Bemühen der US-Regierung ein, nach Beginn der Massaker lange Zeit in der Öffentlichkeit das Wort Genozid zu vermeiden, wäre daraufhin doch mit der Forderung nach einem entschlossenen Eingreifen zu rechnen gewesen. Darüber hinaus bleibt der Interessensgegensatz zwischen Frankreich, das engsten Kontakt zur Hutu-Regierung besaß, und den USA unerwähnt, die damals um Einfluß in Ruanda rangen.

"Nur das nackte Leben" ist jedoch ein Buch, das jedem, der noch nicht durch die mediale Überfrachtung mit Gewaltexzessen abgestumpft ist, an die Nieren gehen dürfte. Deshalb kann man das Werk als gelungen bezeichnen, auch wenn solch eine Kategorisierung angesichts seines bitterernsten Inhalts unangebracht scheint.


Jean Hatzfeld
Nur das nackte Leben
Berichte aus den Sümpfen Ruandas
Psychosozial Verlag, Gießen 2004
251 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 3-89806-933-8