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REZENSION/089: R. u. M. Michelmann - Effizient und schneller lesen (SB)


Rotraut Michelmann und Walter U. Michelmann


Effizient und schneller lesen



Keine Frage, der Buchtitel "Effizient und schneller lesen" eröffnet Perspektiven. Die Aussicht darauf, die steigende Informationsflut - zum Beispiel bei der Recherche für wissenschaftliche Arbeiten - schneller und damit müheloser bewältigen zu können, ist verlockend. Der Umschlagtext verspricht: "Alle die, die beruflich viel und gründlich lesen müssen, können von den Techniken und Strategien, welche die Autoren in diesem Buch vorstellen, profitieren."

Um allerdings gleich einen Irrtum auszuräumen, dabei geht es weniger darum, das eigentliche Lesetempo zu steigern, also die Anzahl der aufgenommenen Worte pro Minute, sondern um eine kontrolliertere, organisierte Vorgehensweise, d.h. um "reines Arbeitslesen [...] in einem bewußten Vorgang des Aufnehmens und Verarbeitens" (S. 211). Die Autoren ziehen wohlweislich die Grenze zum sogenanntem Schnell-Lesen, einer Methode, die man sich nicht im Selbststudium beibringen könne.

"Die meisten, die schneller lesen wollen, brauchen dieses gar nicht. Denn fast immer reicht es aus, wenn die Lesearbeit vernünftig organisiert wird. Schnell-Lesen nützt lediglich dem Extrem-viel-Leser im Beruf - und auch ihm kann es effizientes Lesen nicht ersetzen [...]." (aus der Schlußbemerkung)

Doch auch nach der in diesem Buch vorgestellten Methode kann "... mit ein bißchen Übung [...] die persönliche Leseleistung schnell auf das Doppelte bis Vierfache gesteigert werden." (aus dem Klappentext)

Professor Dietrich Dörner, dessen Forschungsschwerpunkt Kognitive Psychologie ist, bestätigt im Geleitwort zur Lesetechnik der Autoren dieses Ziel:

Es ist alles, nur keine Ansammlung leicht zu befolgender Patentrezepte. In dem Buch wird das Lesen als das behandelt, was es ist, nämlich als ein höchst komplizierter Dialog des Buchautors mit seinem Leser. (Geleitwort, S. 9f.)

Die Autoren Rotraut und Walter Michelmann zeigen durch ihre sehr vielseitige, durchdachte und gut handhabbare Ausarbeitung, daß sie jede Menge Erfahrung mit dem Thema haben. Sie gehen von den einfachsten Problemen, Fragen und Bedürfnissen des Lesers aus, bestücken ihre Darstellung zur Anschaulichkeit und besseren Lesbarkeit mit auch humorvollen Berichten aus dem eigenen Umfeld und ermutigen auf diese Weise, trotz aller Schwierigkeiten nicht aufzugeben. Die vielseitige Art, mit der sie das im allgemeinen wissenschaftlich vernachlässigte Thema Lesen angehen, rührt sicher auch aus ihrem Hintergrund. Rotraut Michelmann hat Physik und Medizin studiert, Walter U. Michelmann ist spezialisiert auf die Fächer Erziehungswissenschaften, Psychologie und Medizin. Seit 15 Jahren tragen die beiden Lesetechniken zusammen und entwickeln ihr Konzept weiter.

Die Schwierigkeiten beim Aufarbeiten von Bücherstapeln waren zunächst in erster Linie ihre eigenen, so daß sie anfingen, sich um das Lesen zu kümmern: "Oft lesen Sie nicht, was Sie lesen müßten. Sie lesen quer, wo Sie genau zu lesen hätten. Oder Sie lassen sich berichten und nehmen kommentierte Bilder auf." (S. 11) Demzufolge ist ihr Ausgangspunkt, effizient und schnell lesen zu lernen, d.h. Wiederholungen und Zurückblättern auszuschließen, sicherer im Zugriff auf den Informationsgewinn zu werden, eine größere Entscheidungssicherheit für die Nützlichkeit der Texte zu erlangen. Sie weisen Schritte auf, die sinnvoll sein können, wenn ein Text gründlich bearbeitet werden muß. Sie machen eine Menge Vorschläge zum Erlangen von Lesefertigkeiten, die hauptsächlich darauf beruhen, wie man - egal, ob schwierige oder einfache - Texte optimal für sich strukturiert (Textbilder erstellen) und wie man begleitend seine Umgebung zweckmäßigst umorganisiert, damit für das Lesen die beste Konzentrationsvoraussetzung geschaffen wird (Arbeitsplatz bzw. Leseplatz einrichten).

Das Buch ist gleichzeitig ein Beispiel für einen lesefreundlichen Text. Man kann ihn schnell überfliegen, um sich kurz zu informieren oder gleich intensiv einsteigen. Bei bislang ungeklärten Begriffen oder Techniken wird auf die entsprechenden Abschnitte im Buch verwiesen.

Ein wichtiger Schlüssel zum schnellen Aufarbeiten von Lesestoffmengen ist der geplante Umgang mit den zu bearbeitenden Texten. Die Autoren raten, verschiedene "Textbilder" - Grafiken, die den Inhalt skizzieren und in eine schnelle Übersicht bringen - zu erstellen, um die Analyse profunder, den Informationsgewinn größer, das Leseziel sicherer zu machen. Das erste Textbild hält fest, an welchen Informationen man überhaupt interessiert ist.

Doch lesen Sie bitte nicht gleich los. Fertigen Sie Ihr erstes Textbild an, bevor Sie den Text lesen. Denn von jedem Text, an den Sie herangehen, haben Sie bereits eine Vorstellung, was in ihm enthalten sein könnte. Sie prüfen zunächst, ob Sie sich mit dem Text überhaupt beschäftigen wollen. Das tun Sie mit dem Textbild E (Erwartung): Sie halten fest, welche Informationen Sie sich erarbeiten wollen. (S. 95)

Hat man sich entschieden, den Text zu lesen, gibt es weitere Textbilder, die die Leseaufmerksamkeit in eine gewünschte und gezielte Richtung lenken und eine Rekapitulation des erarbeiteten Textes ermöglichen sollen. Diese Textbilder werden gleichzeitig als wertvolle Möglichkeit beschrieben, beispielsweise freie Vorträge oder Referate zu halten oder "Mitschriften" anzufertigen. Der Nutzen, der in ihrer Anwendung liegen kann, wird zwar deutlich, doch dem weniger grafisch orientierten Menschen oder Leser, dem diese beliebten, konzeptionellen Übersichten weder aus Management-Seminaren noch sonstigen Kursen vertraut sind, leuchten sie weniger ein. Hier hätte man entweder kürzen oder noch ausführlicher werden müssen.

Die weiteren Textbilder betreffen die Textstellen, die "auf jene Informationen hinweisen, die Sie brauchen". Ich frage mich allerdings, warum ich die Texte überhaupt noch lese, wenn ich in ihnen nur Bekanntes suchen soll und sowieso von vorne herein mit einer bestimmten Erwartung an sie herantrete. Es bleibt für das Zuhören bzw. die Auseinandersetzung mit den Absichten des Verfassers kaum noch Raum, wenn ich die Texte mit meinen Vorkenntnissen und genauen inhaltlichen Vorstellungen "lese". Was nützt es mir, wenn ich Bekanntes suche, Altes neu zusammenzustelle (in Karteikästen ordnen wird empfohlen " ... Ideen brauchen viele verschiedene Fächer." S. 160), Informationen anhäufe und geordnet stapel? Dabei kann nach der Bearbeitung und Verwertung der Texte nur das Alte in einer neuen Variante herauskommen. Ich würde sagen, das grenzt dann an aufwendige Fleißarbeit, die das Beantworten einer möglichen Frage, mit der ich an das Thema vielleicht herangegangen bin, nicht ersetzt.

Doch auch ohne Textbilder helfen einige Untersuchungen und Analysen der Autoren weiter, wenn man sein Lesen effektivieren will. Sie haben wissenschaftlich genau gearbeitet und einige Korrekturen üblicher Vorstellungen über die Grundlagen des Lesens vorgenommen. So haben sie das Sehen im Zusammenhang mit der Physiologie des Auges analysiert.

Zwei Beispiele:

So fanden wir zum Beispiel oft die Behauptung, daß die Augen das Bild, das sie auf der Netzhaut abbilden, dort größer oder kleiner stellen können. [...] Versprochen wird dem Lesegeplagten, er könne einen Weitwinkel im Auge aktivieren. [...] Das Ziel klingt zwar plausibel: Wer mehr auf einen Blick sehen kann, kann auch mehr auf einmal und damit schneller lesen. Doch ein Blick in die Medizin klärt - auch ohne Weitwinkel: Es ist nicht möglich, die Blickspanne zu erweitern. (S. 40)

Ähnliches gilt für die Vorstellung:

Schneller blicken, schneller lesen: Doch die Verhältnisse am Auge, die sind nicht so. Denn das Belichten, ebenso wie das Abbilden auf der Netzhaut, sind Vorgänge im Auge, die automatisch ablaufen. Willenskraft, Training oder Meditation können sie nicht beeinflussen. (S. 40)

Eine wichtige Rolle spielt das sogenannte "Subvokalisieren", also die Tatsache, daß man eigentlich, wenn man liest, den Text mehr oder weniger leise mitspricht. So unterscheiden die Autoren auf diese Weise plausibel den Normal-Leser vom Schnell-Leser: Schnell- Leser verstehen, was sie sehen - Normal-Leser verstehen, was sie subvokalisieren. Weiterhin widmen sie sich Lesestörungen und stellen sehr einleuchtend dar, wie sich gewollte Konzentration in "K(r)ampf" verwandelt.

Ein Tip der Autoren, der sich allerdings weniger auf's direkte Lesen, als auf ein schnelles, erstes Durchblättern des Textes oder die Suche nach bestimmten Begriffen bezieht, ist der Suchfinger. Abgeleitet von der Erkenntnis, daß das Auge dem folgt, was sich bewegt, benutzt man den Finger als Leitschiene. Das Auge soll ihm folgen und nicht die Zeilen lesen. Dabei wird das gesuchte Wort vokalisiert, also gemurmelt, und auf diese Weise eher gefunden.

Der Mensch kann so schnell lesen, wie er blicken kann. Die Geschwindigkeit beim Schnell-Lesen kommt zustande, indem der Blick an den Zeigefinger geheftet wird - der im Sinnestakt über den Text schwingt. Die Augen können nicht anders als dem Finger automatisch zu folgen. (S. 67)

Weitere Tips beziehen sich auf die Umgebung: Man sorge für gute Lichtverhältnisse, einen kontrast-, lärm- und musikfreien Arbeitsplatz und schalte unruhige Bewegungen in der Peripherie aus. Das heißt allerdings, daß für ein effektives Lesen eine Menge Voraussetzungen erfüllt sein müssen und man sich fragen kann, ob man diese als unabänderlich akzeptieren und letztlich von ihnen abhängig sein will. Ich würde mir wünschen, immer und überall schneller lesen zu können, ohne auf Reize und physiologische Grenzwerte zu reagieren. Wieviel attraktiver ist doch die Möglichkeit, zu lernen, diese ganzen störenden Einflüsse auszuschließen. So mancher wünscht sich vielleicht in die seligen Kinderlesezeiten zurück, in denen man so tief in die gelesenen Geschichten eintauchte, daß der Rest der Welt verschwunden war... Aber hier geht es schließlich um Arbeit oder?

Immerhin ist ein Tip der Autoren der, so viel wie möglich zu lesen. Und den kann man in dieser doppelten Hinsicht nur unterstreichen.


Faßt man die Ausführungen der Autoren zusammen, läßt sich sagen, daß eine gute Organisation und Ordnung, verbunden mit disziplinierten Verhaltensweisen schon einen Leseerfolg ausmachen. Wer also diesen Aufwand betreiben und sich nicht näher mit den Texten und ihren Autoren auseinandersetzen will, der kann einen ersten Schritt machen - wenn er bereit ist, sich einzurichten und einzuschränken.


Rotraut Michelmann und Walter U. Michelmann
Effizient und schneller lesen -
mehr Know-how für Zeit- und Informationsgewinn
Reihe rororo Sachbuch, Fit für den Job
Rowohlt Taschenbuch, Reinbek bei Hamburg, August 1998
Originalausgabe Gabler Verlag, Wiesbaden 1995
ISBN 3 499 60330 6