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REZENSION/022: Alan Lightman - Und immer wieder die Zeit (Philosophie) (SB)


Alan Lightman


Und immer wieder die Zeit

Einstein's Dreams



In seinem Buch `Und immer wieder die Zeit - Einstein's Dreams' spielt Alan Lightman in Romanform alle Schattierungen zum philosophischen Teil des Themas `Zeit' durch.

Als junger Mann träumt Einstein von der Zeit, von Welten, in denen sie ihre gewohnten Bahnen verläßt - und mit jedem neuen Traum (im Buch dargestellt als eine Art Tagebucheintrag) schafft er eine neue Wirklichkeit. "Was ist Zeit?" Das ist die Frage, die Einstein beschäftigt, und er weiß, daß er darauf keine befriedigende Antwort finden wird. So ändert er seine Fragestellung. Er formuliert sie nun folgendermaßen: `Was könnte Zeit sein?' oder besser `Wie sähe die Welt aus, wenn die Zeit anders verliefe, als gewohnt?'

Das Projekt, an dem er gerade arbeitet, hat zunächst als eine Untersuchung über Elektrizität und Magnetismus begonnen, bei der sich zeigte, wie Einstein eines Tages überraschend erklärte, daß man mit dem bisherigen Zeitkonzept nicht weiterkommt. (S. 59)

Und deshalb ersinnt sich der berühmte Physiker Albert Einstein in diesem Buch Welten, die auf anderen Zeitmodellen basieren, und malt sich aus, was das konkret für den einzelnen Menschen in einem bestimmten Lebenszusammenhang bedeutet. Was, wenn die Zeit rückwärts liefe, unregelmäßig oder ständig im Kreis ...


Diese Fragen Einsteins sind im Vergleich zu gängigen Zeitmodellen ungewöhnlich. Zunächst ist man fasziniert von der unendlichen Vielfalt an Möglichkeiten, die diese Gedankenspiele bieten. Befaßt man sich allerdings eingehender damit, stellt man fest, daß nichts anderes als die gängigen Theorien über die Zeit in kleinen, abgewandelten Variationen wiederholt werden. Dabei wird sehr schnell klar, daß alle Auseinandersetzungen mit dem Thema `Zeit' zwangsläufig auf einer fatalistischen Grundeinstellung aufbauen.

An dieser Stelle soll das gängige Zeitmodell auf einfache Weise dargestellt werden, um zu verdeutlichen, daß Alan Lightman nicht der gewünschte Kontrast gelungen ist.

Schaubild: Baum - Äste = Zukunft dargestellt als Möglichkeiten, zwischen denen man auswählen kann Baum - oberer Stamm = Gegenwart fiktiver Zustand, der nur in der menschlichen Vorstellung existiert Baum - unterer Stamm = Vergangenheit

Das einzige, was Bestand hat, ist der Stamm dieses Baumes. Er stellt die Vergangenheit dar, die unwiederbringlich geschehen ist. Eigentlich ließe sich ein solches Bild nie festhalten, da es ständig in Bewegung ist, denn ununterbrochen fließt die Gegenwart in Vergangenheit über, Zukunft wird zur Gegenwart und endet in der Vergangenheit.

Die Gegenwart kann man sich nicht als einen festen Bereich vorstellen, da sie schon längst vergangen ist, wenn man das Bild betrachtet. - Der Baum stellt dieses Modell nur grob dar, es müßte eher ein ständig in Bewegung befindlicher Baum mit immer länger werdendem Stamm sein. Die Unendlichkeitszeichen, die in das Bild integriert sind, sollen diese Bewegung verdeutlichen.

Die Zukunft stellt verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten für die Handlung eines Menschen dar. Diese Handlung, aus der sich wieder neue Möglichkeiten öffnen, mündet schließlich in den immer länger werdenden Stamm der Vergangenheit.


Alan Lightmans Variationen:

Was, wenn die Welt nicht nach dieser vertrauten Vorstellung abliefe? Wie sieht die Realität für jemanden aus, wenn die Zeit ständig i m K r e i s fließen würde? Da denkt der Mensch, er erlebt alles das erste Mal, Geburt, Schule, die Liebe, den Tod, und dennoch befindet er sich in ständiger Wiederholung. Aber die Menschen wissen nichts davon.

Sie können es genausowenig wissen, wie eine Ameise, die am Rand eines Kristalleuchters entlang krabbelt, weiß, daß sie wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren wird. (S. 14/15)

Was, wenn die Zeit wild und unregelmäßig dahinflösse, w i e e i n W a s s e r f a l l? Wie sähe eine solche Unregelmäßigkeit für den Menschen im Alltag aus? Da reicht ein kleiner Widerstand im Wasser, um den Fluß kurzfristig zu unterbrechen, kleinere und größere Wirbel hervorzurufen. Menschen, die sich auf einer solch unregelmäßigen Bahn befinden, können auf diese Weise einen kleinen Blick in die Zukunft erhascht haben, und sind nun, wieder in der Gegenwart, verzweifelt und ängstlich. Sie wollen bloß nichts falsch machen, um den Lauf des Lebens nicht zu verändern. Sie kauern wie farblose Schatten mit unglücklichen Gesichtern in Ecken, an Straßenrändern und Brücken, immer darauf bedacht, nicht aufzufallen und nichts auszulösen, was ihr einmal geschautes Schicksal verändern könnte.


Was, wenn es k e i n e V e r g a n g e n h e i t gäbe? Ohne Erinnerung lebt der Mensch vor sich hin, müßte nach seiner Arbeit im Adreßbuch nachschlagen, wo er wohnt, begegnet dort einer fremden Frau und fremden Kindern, die ihn zum ersten Mal sehen. Auch diese Welt übt ihre Faszination aus, denn nur Gewohnheit kann den Menschen abstumpfen. Jede Nacht ist die erste Nacht, jeder Morgen der erste Morgen, alles Vergangene existiert nur in Büchern und Dokumenten. Malt man sich eine solche Welt einmal aus, so stellt sich alsbald die Frage nach der menschlichen Identität: `Was bin ich? Wer bin ich ohne die Wurzeln, die tief in der Vergangenheit liegen, ohne die Erinnerungen an Kindheit und Eltern?'


Was, wenn es k e i n e Z u k u n f t gäbe? Jeder Moment wäre der letzte, jede Tat endete in der Gegenwart, das heißt in der unmittelbaren Handlung. Sorglos lebte man vor sich hin, würde sagen, was man denkt, tun, wozu man Lust hat. Was schert einen morgen? Man weiß nichts von ihm. Ohne Perspektiven, ohne Plan und Ziel lebte man im Hier und Jetzt, trüge keine Verantwortung, müßte keine Rechenschaft abgeben.

In dieser Welt ist die Zeit eine Gerade, die in der Gegenwart endet, in der Realität ebenso wie in den Köpfen der Menschen. ... Was hinter dem sichtbaren Ende des Spektrums kommen mag, können die Sinne nicht erfassen. In einer Welt ohne Zukunft ist jeder Abschied eines Freundes ein Tod, jedes Lachen das letzte Lachen. In einer Welt ohne Zukunft liegt jenseits der Gegenwart das Nichts, und die Menschen klammern sich an sie, als hingen sie an einer Klippe. (S. 149/150)

Oder wenn die Z u k u n f t bereits b e k a n n t und festgelegt wäre? Zu Tode gelangweilt erfüllt jeder sein Soll, tut, was zu tun ist, was vorgeschrieben ist. Das ist eine Welt, in der die Zeit nicht flüssig und nachgebend ist, damit sich etwas ereignen kann. Die Zeit ist hier vielmehr eine starre, unbewegliche Struktur, die sich endlos vor und hinter einem dehnt. Ebenso wie die Vergangenheit unveränderbar ist, weil gewesen, so ist hier auch die Zukunft starr.

Jede Tat, jeder Gedanke, jeder Windhauch,
jeder Vogelflug ist vollständig determinert,
für alle Zeit. (S. 185)

Unsicherheit gibt es nicht, ebensowenig aber auch einen Bewegungsspielraum, die Freiheit, etwas zu entscheiden.

In einer Welt, in der die Zukunft feststeht, ist das Leben eine endlose Flucht von Räumen, von denen jeweils einer beleuchtet wird, während der nächste noch dunkel, aber vorbereitet ist. Wir gehen von Raum zu Raum, schauen in den Raum, der gerade beleuchtet ist, den gegenwärtigen Augenblick, gehen dann weiter. Wir kennen die Räume nicht, die vor uns liegen, wissen aber, daß wir nichts an ihnen ändern können. Wir sind Zuschauer unseres Lebens. (S. 186)

Was, wenn die Zeit r ü c k w ä r t s l i e f e ? Plötzlich hat Sterben nichts Erschreckendes mehr an sich, denn ihm folgt das Jüngerwerden. Auf Krankheit folgt Gesundheit, und auf die Trennung das Wiedersehen, das Kennenlernen. Voller Freude sieht der Mensch in dieser Welt in die Zukunft, denn aus dem Unbekannten bewegt er sich in absehbare Gefilde, immer weiter auf seine Geburt zu.


Was, wenn es Z e i t überhaupt n i c h t g ä b e? Unbeschreibliches Chaos bricht aus in unserer geschäftigen Welt. Man schließt Verträge ab, doch es ist völlig unvorhersehbar, wann sie erfüllt werden. Geschehnisse lassen sich nicht mehr planen, sondern werden unmittelbar von Ereignissen ausgelöst, eines folgt dem anderen, ohne daß man sich an irgendeine Ordnung halten könnte. Menschen begegnen sich, gehen wieder auseinander, ohne zu wissen, ob und wann sie sich jemals wieder treffen werden. Denn ein `Wann' gibt es in dieser Welt nicht.


Diese Zeitvariationen könnte man genauso sehen, wie die verschiedenen Welten, die ein Fantasy-Autor erschafft. Beschrieben wird die Einstellung der Menschen zur Realität. So faszinierend es auch sein mag, den Spekulationen über Zeit Tür und Tor zu öffnen, es kommen immer nur individuelle Wirklichkeiten dabei heraus, `Zeit' bleibt ungreifbar. Ein Wasserfall ist ein Wasserfall, ein Kreis ein Kreis, es besteht kein Zusammenhang. Welchen praktischen Nutzen könnte man daraus ziehen, die Zeit so oder anders zu definieren? Was bedeutet es für die Wirkung einer Handlung oder Entscheidung, wenn man mit Aussichten arbeitet oder sich auf Erinnerungen und Vergangenes bezieht, um Wiederholungen weiß oder nicht weiß?

Was Alan Lightman kompliziert als Zeitmodelle darstellt, könnte man auch ohne Begriffe wie Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit als unterschiedliche Arten, mit sich, seinem Mitmenschen und der Umgebung umzugehen, ansehen. Man könnte sagen, der Autor beschreibt diverse Standpunkte, wie man dem Schicksal `Zeitablauf' gegenübertreten kann. Nur einmal bricht er diese fatalistische Sichtweise in einer Version, in der Zeit nicht als abstrakte Größe dasteht, sondern ausschließlich subjektiv gesehen wird:

Der Duft von Räucherfleisch weht durch die Gassen. Ein Mann und eine Frau stehen auf ihrem schmalen Balkon in der Kramgasse, streiten sich und lächeln dabei, ein junges Mädchen geht langsam durch den Garten an der Kleinen Schanze. Die hohe Rotholztür des Postamts geht auf und zu, auf und zu. Ein Hund bellt. In den Augen eines beliebigen Menschen stellt sich die Szene jedoch ganz anders dar. Eine Frau, die auf einer Bank an der Aare sitzt, sieht die Boote zum Beispiel mit hoher Geschwindigkeit vorüberziehen, so als flögen sie auf Kufen über Eis. Einer anderen erscheinen die Boote dagegen so schwerfällig, daß sie fast den ganzen Nachmittag brauchen, um die Biegung des Flusses hinter sich zu bringen. ... Wer kann sagen, ob ein Ereignis schnell oder langsam, ursächlich oder ohne Ursache, in der Vergangenheit oder Zukunft abläuft? Wer kann sagen, ob überhaupt Ereignisse stattfinden? (S. 130-132)

Versucht man einmal, auf etymologischem Wege dem Zeitbegriff auf die Spur zu kommen, so bleibt von der abstrakten `Zeit' eigentlich nichts Geheimnisvolles übrig:

`Zeit' gehört im Sinne von `Abgeteiltes, Abschnitt' zu der indogermansichen Wurzel da[i] - teilen, zerschneiden, zerreißen. (Der große Duden - Etymologie Bd. 7, S. 778 )

Diese Abstammung des Wortes beinhaltet das Interesse der Menschen zu teilen, das heißt, auf den zwischenmenschlichen Bereich bezogen, sich zu unterscheiden. Jeder lebt in seiner eigenen Welt, man kann auch sagen, in seiner eigenen Zeit.


Alan Lightman
Und immer wieder die Zeit
Titel der Originalausgabe von 1993: Einstein's Dreams
Gedankenspiele zum Thema Zeit
Roman
Hoffmann und Campe Verlag, 1994