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BUCHBESPRECHUNG/140: Dominik Müller - Indien, die größte Demokratie der Welt? (SB)


Dominik Müller


Indien - Die größte Demokratie der Welt?

Marktmacht - Hindunationalismus - Widerstand




Als Dominik Müller sein aktuelles Buch "Indien - die größte Demokratie der Welt?, Marktmacht - Hinduismus - Widerstand" veröffentlichte, standen die Wahlen zum Amt des neuen Premierministers in Indien kurz vor der Tür. Prognosen über deren Ausgang haben sich bewahrheitet. Als Sieger ging am 16. Mai 2014 der bisherige Ministerpräsident Gujarats, Narendra Modi, hervor. Unter anderem über dessen politischen Aufstieg, Motivation, bisherige Aktivitäten, Ziele und die weitreichende Unterstützung, die Modi, aus den unterschiedlichsten Interessen heraus, aus dem In- und Ausland erfahren hat, zeichnet der Autor ein deutliches Bild.

Narendra Modis hindu-kommunalistische Bharatiya Janata Party (BJP) ist nun als erste Partei seit 30 Jahren mit absoluter Parlamentsmehrheit in die Indische Lok Saba eingezogen. Bis Ende der 1980er Jahre hatte die BJP kaum einen Sitz im indischen Unterhaus, jetzt, nach dem Wahlsieg, tritt sie im Parteienbündnis NDA (National Democratic Alliance) an, das zukünftig 336 von 545 Abgeordnetensitzen stellt. Die bis dato regierende Kongreßpartei (Indian National Congress - INC) mußte erschütternde Verluste hinnehmen und erhielt statt ihrer bisherigen 262 in ihrem Parteienbündnis nurmehr 59 Sitze zugeteilt. Auch die Kommunistischen Parteien erlitten deutliche Verluste, die Communist Party of India Marxist (CPM) erhielt noch neun Sitze, die Communist Party of India Maoist (CPI) muß zukünftig der Lok Saba fernbleiben.

Modis Wahlsieg bietet Anlaß, über Indien als größte Demokratie der Welt zu reflektieren, aber auch die zunehmende Bedeutung des Subkontinents, der mit 3,3 Millionen Quadratkilometern das siebtgrößte und mit einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen das zweit-bevölkerungsreichste Land der Erde ist, in näheren Augenschein zu nehmen. Noch immer verbucht Indien in der ausschließlich auf Profit ausgerichteten Wirtschaftswelt ein nicht zu verachtendes, jährliches Wirtschaftswachstum von rund 5 Prozent, wenn auch mit rückläufigen Tendenzen.

Müllers Sachbuch, das im Verlag Assoziation A erschienen ist, erläutert, wie sich die Marktmechanismen mit ihren als Fortschritt und Entwicklung titulierten Maßnahmen zu Lasten großer Teile der Bevölkerung auswirken, wie sich ein globaler Handel mit dem Westen als moderne Form von Kolonialismus erweist, was sich, nachvollzogen am Beispiel der 'größten' Demokratie der Welt, hinter der Konzeption dieser Herrschaftsform verbirgt, wie es zum Sieg der hindu-kommunalistischen Partei BJP kommen konnte und welche Auswirkungen dies auf das Zusammenleben der sogenannten multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen indischen Bevölkerung hat.

Für den Autor ist die Frage entscheidend, ob Indien das westliche Entwicklungsmodell kopieren oder einen anderen Weg einschlagen wird, blieben doch die sozialen und politischen Spannungen, nicht nur wegen der Größe der Bevölkerung, sondern auch aus ökologischem Blickwinkel, nicht ohne Auswirkungen auf den Rest der Welt. Die zusammengetragenen Fakten und die zahlreichen exemplarischen Beispiele machen allerdings deutlich, daß diese Frage längst entschieden ist.

Als einstige Mitbegründerin der Blockfreien-Bewegung sei Indien mittlerweile zu einem 'Partner des Westens' geworden. Schade, daß im Buch nicht deutlicher wird, welche Ziele die Staatenkoalition der Blockfreien verfolgte und offiziell bis heute verfolgt. Nicht erwähnt wird, daß Indien neben seinen Handelsbeziehungen mit dem Westen Mitglied zahlreicher Wirtschafts-Bündnisse im südasiatischen und südostasiatischen Raum und darüber hinaus Partner etlicher weiterer Länder (z. B. Brasilien, Südafrika) ist.

Die Blockfreien-Bewegung wurde 1955 durch Indiens ersten Ministerpräsidenten nach der Unabhängigkeit 1947, Jawarhalal Nehru, gemeinsam mit dem jugoslawischen Ministerpräsidenten Josip Tito initiiert. Nehrus Engagement dürfte Folge der fast 200 Jahre andauernden britischen Kolonialherrschaft gewesen sein. Das Wissen um die Grundsätze dieser Bewegung, die 1961 in Belgrad konstituiert wurde, ist bedeutsam für das Verständnis der indischen Außenpolitik bis Anfang der 90er Jahre und macht den Wandel in der indischen Politik seit der Marktliberalisierung besonders deutlich.

Laut dem Asien- und Afrikawissenschaftler Prof. Diethelm Weidemann [1] gab es bis in die 80er Jahre hinein über die Zielsetzungen wie Nichtbeitritt zu Militärpakten, Nicht-Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten, deren Anerkenntnis auf Gleichberechtigung, Entkolonialisierung, Eintritt gegen Rassendiskriminierung und für gleichberechtigte Wirtschaftsbeziehungen sowie das Recht auf Entwicklung eigener Staatlichkeit als wesentliche Voraussetzung für internationale Sicherheit und Friedensordnung, Förderung des Weltfriedens und freundschaftliche Beziehungen vor allem zu den Nachbarstaaten in Indien einen nationalen Konsens. Prof. Weidemann sieht in den damaligen Friedensbemühungen Indiens ein Vorbild außer Konkurrenz. Die globalen politischen Veränderungen nach Ende der Bipolarität, die Globalisierung von Wirtschaft und Handel hätten Indiens Regierungen schließlich, wenn auch spät, erst Anfang der 90er Jahre zu einer Neuorientierung und Neuformulierung ihrer thematischen (z.B. Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, Energiesicherheit) und regionalen Schwerpunkte (Look East Politik, Gujral-Doktrin - Neudefinition der Beziehungen zu den Nachbarstaaten) veranlaßt.

Die Fülle an Sachverhalten, historischen Belegen und Erläuterungen ermöglichen dem Leser eine Sicht und Deutung der politischen Entwicklung Indiens seit der Marktliberalisierung und nach der Wahl Narendra Modis zum neuen Premierminister, die nichts mehr von dem verheißt, was Wünsche und Ziele der Regierungen nach der Unabhängigkeit von den britischen Herrschern auszumachen schien.

Ganz offensichtlich befindet sich Indien in einer desaströsen Situation. Es sucht, seinem Großmachtanspruch gemäß, eine unter strategischen wie auch wirtschaftlichen und ökologischen Gesichtspunkten angemessene Position. Es muß aufgrund der neuen Herausforderungen in der Wirtschaft gezwungenermaßen die Frage der Energiesicherheit klären und Wege beschreiten, um ausländische Investoren nicht nur zu locken, sondern auch zu bedienen, ebenso wie es die solvente Mittelschicht (200-300 Millionen Inder zählen sich dazu) braucht und sucht, um sie als Konsumenten zu binden. Es muß das immense Bevölkerungswachstum einkalkulieren. Es sieht sich mit wachsender Armut, einer immer größer werdenden Schere zwischen arm und reich konfrontiert und der Frage, wieso ein Staat mit derart hohem Wirtschaftswachstum nachweisbar keine Perspektive für die Millionen hungernder Menschen vorweisen kann. Aufstrebendes Industrieland und Agrargesellschaft (die Hälfte der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft, Fischerei und dem Sammeln von Nahrungsmitteln) stehen in krassem Widerspruch zueinander.

Speziell in drei Kapiteln 'Indien den Hindus', 'Wo Hitler ein Hit ist' und 'Arische Verwandtschaften' wird ein deutliches Bild von der Massenmobilisierung durch die Hindu-Nationalisten gezeichnet und eine Parallele zum europäischen Faschismus gezogen. Schilderungen über Methoden, Mittel und Wege des Sangh Parivar, eines Verbundes hindunationalistischer Organisationen, bilden neben den Erläuterungen über die Zusammenhänge zwischen Marktmacht und Armut im zweiten Teil von Dominik Müllers Buch einen Schwerpunkt. Die Hindu-Nationalisten stellen die hinduistische Mehrheitsgesellschaft als durch andere Kulturen und Religionen bedroht dar. Müller weist darauf hin, daß der säkulare Charakter der Verfassung wie auch der polytheistische Hinduismus der Hindutva-Ideologie [2] entgegenstünde, weshalb die Versuche einer Transformation der indischen Gesellschaft "anfangs von wenig Erfolg gekrönt" waren. Der zitierte Kommunalismus-Experte Ashgar Ali Engineer verdeutlicht, daß Religion als Instrument genutzt werde, "nicht aber die Ursache der Konflikte sei" [3]. Diese hätten vielmehr einen politisch-ökonomischen Hintergrund, der durch die beschleunigte Entwicklung und der ihr innewohnenden Konkurrenz hervorgerufen werde.

Das Kapitel 'Wo sollen wir denn hin' bildet den dritten und letzten, recht kurz gefaßten Teil des Buches, in dem es um den Widerstand gegen herrschende Verhältnisse geht. Von der gewerkschaftlichen Seite her sei lediglich die 2006 gegründete NTUI (New Trade Union Initiative) bemüht, trotz repressiver Übergriffe dem Mangel an innerer Demokratie in den anderen Gewerkschaften mit einem basisdemokratischen Ansatz entgegenzuwirken. Als einzige Organisation geht sie Bündnisse mit Dalits, Adivasi und Fraueninitiativen ein.

Das Wahlergebnis 2014 hat eine rückläufige Tendenz in der Linkspositionierung gezeigt. Nichtsdestotrotz führt im Bundesstaat Chhattisgarh die Peoples Liberation Guerilla Army (PLGA), der bewaffnete Arm der CPI (Maoisten) mit hohem Frauenanteil (ca. 45 Prozent) ihren bewaffneten Kampf weiter, ebenso wie die Bewegung der Naxaliten, die seit der Marktöffnung und dem Erstarken der Hindu-Nationalisten neuen Zulauf erhalten haben. Sie werden als Staatsfeind Nr. 1 betrachtet und sind entsprechenden Repressionen ausgesetzt.

Widerstand findet sich aber auch auf der gemäßigteren Seite. Viele Studenten sympathisieren mit der eher moderaten CPI (ML-Marxisten Leninisten). Zudem gibt es seit 2012 die Aam Adami Partei, die Partei der "einfachen Leute", die sich unter ihrem Chef Arvind Kejrival organisiert hat und aus der Anti-Korruptionsbewegung entstanden ist. "Indien lebt in seinen Dörfern", so das Perspektivenpapier der Partei. "Ohne die Entwicklung und den Wohlstand der Dörfer kann Indien nicht gedeihen. Wenn wir unser Land retten wollen, müssen wir die Dörfer retten." (S. 178) Doch bisher habe die Partei die indische Landbevölkerung noch nicht erreicht.

"Indien - die größte Demokratie der Welt?" ist übersichtlich strukturiert, die einzelnen Kapitelüberschriften ermöglichen je nach Interesse eine Auswahl oder auch das gezielte Recherchieren. Jedem Kapitel sind pro und contra Stimmen vorangestellt, was zur eigenen Stellungnahme anregt. Müller hat das Land bereist, über Jahre vor Ort recherchiert, zitiert aus renommierten indischen Medien wie der Wochenzeitung 'Economic and Political Weekly', 'The Times of India', dem 'Indian Broadcast Network', aus zahlloser englisch- wie deutschsprachiger Literatur, verfaßt von Persönlichkeiten wie dem Inder Achin Vainaik, ehemals Professor für Internationale Beziehungen und Globale Politik an der Universität Neu Delhi, dem britischen Historiker und Autor politischer Essays, Perry Anderson oder auch der Rosa Luxemburg Stiftung.

Er traf mit zahlreichen Betroffenen wie dem indischen Anwalt und Menschenrechtsaktivisten Mukul Sinha zusammen, der sich für überlebende Opfer des Pogroms von 2002 und ihre Unterstützer einsetzt, wie auch dem Arzt Dr. Yaqoob Memon, der seit 20 Jahren im moslemischen Ghetto Ahmedabad unter einfachsten Bedingungen praktiziert. Der Autor hat mit ihres Landes enteigneten Personen und mit von Vertreibung Bedrohten vor Ort gesprochen, wie auch mit muslimischen Familien, die durch grausam ausgeübte Gewalt von Hindu-Nationalisten Opfer zu beklagen haben.

Dominik Müller schildert eine andere Realität als die des touristischen Indiens, das die Farbenpracht der Frauen in Saris, der prunkvollen Paläste der einstigen Herrscher und der sonnendurchfluteten Landschaften präsentiert. Das Indien seines Buches steht als Beispiel für einen Staat, der sich im Zuge der Globalisierung und Vereinnahmungsstrategien des Westens an deren Methoden orientiert und in dem Millionen von Menschen den zunehmend auch in Indien greifenden, kapitalorientierten Staatsinteressen zum Opfer fallen. Grüne Revolution, Marktwirtschaft und Reformen, die immer zu Lasten der Armen und bereits Benachteiligten gingen, hätten die Hoffnungen auf Wohlstand begraben. War es einst die britische Kolonialherrschaft, die den Keil zwischen die moslemischen und hinduistischen Religionszugehörigkeiten trieb, so gelingt es den Hindu-Nationalisten heute, auf dem Boden der wachsenden Unzufriedenheit mehr und mehr Menschen für ihre Ideologie zu gewinnen.

Nicht von ungefähr verbreitet der neue Premier Narendra Modi neue Schlagwörter für ein enthusiastisches Publikum: 'e-governance' für 'easy, effective and economic' oder 'make it in India' und schließlich 'made in India'. "Come, make in India!" lautet auch der Titel des 'Indo-German-Investment'-Gipfels, der am 12. November in Berlin stattfindet, wo Modi die indische Wirtschaftstrategie vorstellen und deutschen Unternehmen Perspektiven unterbreiten will.

Es heißt, Modi bezeichne, in der Wortwahl der westlichen christlich geprägten Hemisphäre angepaßt, die säkulare Verfassung Indiens als seine "Bibel". Doch hat sich Indien, wie sich nach der Lektüre eindeutig zeigt, von seiner souveränen, säkularen, sozialistischen und demokratischen Staatsdoktrin längst weit entfernt. Die Ideologien eines Mahatma Gandhi [4] und Jawarhalal Nehru, die Grundsätze der Blockfreien Staaten, für die Indien Jahrzehnte eintrat, gehören der Vergangenheit an. Sollten Indiens Regierungen, beispielsweise mit dem Staatenbündnis der BRICS, je das Ziel vertreten haben, den herrschenden Machtverhältnissen entgegenzutreten, so wird die jetzige Regierung lediglich ihren Nutzen ziehen, um den eigenen Großmachtanspruch durchzusetzen.

Dem Autor, der zum Thema auch das Feature 'Indien ganz rechts' verfaßt hat, das im DLF ausgestrahlt wurde, ebenso wie den Beitrag 'Die Handelsinvasoren kommen', ist es offensichtlich ein Anliegen, aufmerksam zu machen auf den bedenklichen und gefährlichen Weg, den Indien eingeschlagen hat. Es gelingt ihm durchaus, mit seinen Schilderungen über die subtile und effektive Einflußnahme hindunationalistischer Organisationen und ihren Schattenwürfen beim Leser eine spürbare Unruhe hervorzurufen und dunkle Ahnungen zu wecken.

Dominik Müller ist freier Journalist und Autor.


Anmerkungen:

[1] Prof. Dr. Diethelm Weidemann war bis zu seiner Emeritierung Direktor des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Schwerpunkt liegt im Bereich der Internationalen Beziehungen.

[2] Hindutva - wörtlich übersetzt: das Wesen des Hinduismus. Der Begriff bezeichnet ein politisches Konzept; das Ziel ist das (Wieder-)Erschaffen einer einzigen Hindu-Nation.

[3] Ashgar Ali Engineer, indischer islamischer Theologe und Gelehrter, aus: "Bombay - Bhiwandi Riots in National Political Perspective", Economic and Political Weekly, Bombay 21.07.1984

[4] Mohandas Karamchand Gandhi wurde am 02.10.1869 in Porbandar im Bundesstaat Gujarat geboren. Er lebte einige Jahre in Südafrika, wo er zwei Kommunen gründete. Mahatma ist ein Ehrentitel, der 'Große Seele' bedeutet. Gandhi trat für ein einfaches, autarkes Leben ein, jeder sollte durch seiner eigenen Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen. Die Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit war nach Gandhis Ideologie aufzuheben. Er lebte dies vor und erklärte: "Mein Leben ist meine Botschaft". Gandhi gelang es durch seinen Einsatz, dem grausamen Morden von Hindus und Moslems ein Ende zu bereiten. Sein tiefster Wunsch, eine Teilung Indiens zu verhindern, ging nicht in Erfüllung. Gandhi wurde am 30. Januar 1948 durch einen Hindu-Nationalisten ermordet.

12. November 2014


Dominik Müller
Indien. Die größte Demokratie der Welt?
Marktmacht - Hindunationalismus - Widerstand
Assoziation A, Berlin/Hamburg 2014
190 Seiten, 16 Euro
ISBN-13: 9783862414338